Der amerikanische Kunstkritiker Michael Fried zeigt in Zusammenarbeit mit dem Kupferstichkabinett anhand ein paar Dutzend ausgewählter Zeichnungen, dass Menzels „Extremer Realismus" zeitlos gegenwärtig ist.
In der Alten Nationalgalerie, die seit fast hundert Jahren einen Teil ihrer klassizistischen Hallen dem „großen deutschen Realisten" Adolph Menzel gewidmet hat, stellt der Kurator Michael Fried den getragenen Schlachten- und Königsgemälden der Sammlung 36 Vorstudien, Zeichnungen und Gouachen des Künstlers aus dem Kupferstichkabinett gegenüber. Es sind Werke in einfachen Holzrahmen auf weißen Gipswänden, die trotz ihres Vorstudiencharakters eine überraschende Präsenz haben und an die Spannweite der Menzelschen Bildwelt erinnern.
Man mag neben den Bildern vom hoheitsvollen Treiben in der Hauptstadt, den studentischen Fakelzügen und Berliner Altbauzimmern auch private Portraits aus dem Umfeld Adolph Menzels kennen. Keines davon wirkt aber so gegenwärtig, so sehr dem Blick des Künstlers folgend, wie die Studien seiner eigenen Hände und Füße, oder das zentrale Bild „Ungemachtes Bett" (um 1845), das zum Titelbild der Sonderausstellung erwählt wurde und den altbekannten Werken der Sammlung nun gegenüber hängt.
Nach dem Umbau des Museums 1914 unter Direktor Ludwig Justl, knapp neun Jahre nach dem Tod des Künstlers, war es noch ein „Menzel-Raum". Das vierte Kabinett im ersten Ausstellungsgeschoss schmückte unter anderem das „Flötenkonzert Friedrichs des Großem in Sansoucci" (1850-52). Inzwischen zeigen alle lichtdurchfluteten fünf Räume im Kappellenkranz der Ostseite die goldgerahmten Meisterarbeiten des Berliner Künstlers, darunter „Das Eisenwalzwerk" (1872-1875) und „Das Balkonzimmer" (1845).
Zwischen Arbeiten von zeitnahen Realisten wie Daumier, Latour, Courbet, und zwei der Gründerzeit gewidmeten Sälen, reiht die Alte Nationalgalerie auf königsblauen Wänden das Werk Adolph Menzels ein, dem Michael Fried nun eine Ausstellung in der Ausstellung hinzugefügt hat: „Rohdiamanten der Kunst: erste Ideen, Skizzen, Erinnerungen" nennt sie der Direktor des Kupferstichkabinetts, das mit etwa 7000 Zeichnungen sowie zahllosen Grafiken, Originalfotos und Dokumenten die weltweit bedeutendste Menzel-Sammlung betreut.
Der Titel der Sonderausstellung zur sechsten Berlin Biennale, Menzels „Extremer Realismus" ist gewagt aber nicht ganz neu: 2008 hatte die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung der Stadt München, ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Kupferstichkabinett, „Adolph Menzel. radikal real" gezeigt. Unter den 230 Werken waren damals auch jener schwielige „Fuß des Künstlers" (1876), das „Ungemachte Bett", „Essender Arbeiter" (1872-74), oder die erschreckenden Zeichnungen toter preußischer Soldaten, die Fried nun erneut in den Kontext der „Sicht auf die Realität" rücken will. Anzahl und Präsentation der Arbeiten sind eher bescheiden, „modest but powerful", wie der Kurator als Kenner und Liebhaber betont. Auch Kathrin Rhomberg, Biennaleleiterin, möchte hervorheben, dass man hier bewusst mit den Mitteln der Reduktion „die Profesisonalität brechen" wolle, um „den westlich geniessenden Blick" der Museumsbesucher zu stören.
Was ist es aber, das Menzels „Blick auf die Gegenwart" so extrem macht und gleichzeitig so „hochgradig einfühlsam"?
Es ist nicht der erschreckende Bilck in das Antlitz des Todes, die teils mumifizierten Körper gefallener Soldaten, die Menzel 1873 bei ihrer Umbettung aus der Garnisionskirche in schauriger Präsenz festhielt.
Nicht die extremen Perspektiven, die Nähe und Schärfe der radikalen Bildausschnitte sind es, die die Ästhetik der Moderne vorgreifen und die Menzels Zeitgenossen in ihrem Naturalismus noch als „schlimmen Fehler" bezeichneten.
Es ist die Tatsache, dass man in das Gesehene hineingezogen wird, man den perpektivisch verkürzt dargestellten Fuß des Künstlers, der Schwellungen, Adern und Rötungen ungeschont scharf fokussiert, wie den eigenen betrachtet. „Embodiment" nennt Fried diese Sensation, die körperliche Erfahrung des Betrachteten. So nahe, als ob man den eigenen Fuß sähe, ein Bett so real, dass man sich hineinlegen möchte.
In den schnell gefertigten Bleistiftskizzen, die Fried für die Sonderausstellung ausgewählt hat, blitzt immer wieder ein überraschende realer Moment auf. Bei Menzels Studie des essenden Arbeiters ist es der Kochtopf, dessen glänzende Oberfläche so wirklich erscheint , dass man den Klang des gegen das Metall schlagenden Besteckes zu vernehmen glaubt.
Die Bewegung der Hände und Arme des sich waschenden Arbeiters sind durch überlagernde Umrisslinien angedeutet, seine Hose mit wenigen Strichen nachvollzogen. Das Gesicht des Mannes können wir in seiner gebeugten Haltung nicht erkennen, es könnte auch eine Geste der Verzweiflung sein, die er uns zeigt. Die Schulterpartie des kräftigen Arbeiters ist aber so zart und denoch exakt gezeichnet, dass man glaubt, jeden einzelnen Muskelstrang zu erkennen, der sich unter der glatten Haut spannt. Die Zeichung weckt ein Mitgefühl für den Dargestellten, einen einfühlenden Blick, den Fried als "Empathie" beschreibt, und der als zentraler Begriff für Menzels Werk gelten soll.
Damit ist der postulierte Blick in die Realität, auf das „was draußen wartet", wie es das Thema der diesjährigen Biennale verspricht, eigentlich ein Blick nach innen. Ein ausgewählter Blick in die Schaffenswelten eines bisher hauptsächlich in Deutschland geehrten Künstlers des 19. Jahrhunderts in einem Gebäude seiner Zeit. Und der eines bekennenden Verehrers, der den Blick Adolph Menzels vom Zeitalter der anbrechenden Moderne auf unsere Gegenwart sichtbar machen will.
Von Lisa Adams