Wissenschaft ist ein weites Feld, in der es viele Spezialisierungen
gibt. Wir stellen ungewöhnliche Experten und ihre Arbeitsgebiete vor.
Diesmal: Der Sprechwirkungsforscher Doktor Walter Sendlmeier ist Professor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Sprache und Kommunikation an der TU Berlin.
NG: Was macht eigentlich ein Sprechwirkungsforscher?
Den Beruf
des Sprechwirkungsforschers gibt es so eigentlich nicht. Das
Forschungsgebiet ist aus meiner interdisziplinären Beschäftigung mit
Sprache in der Alltagskommunikation entstanden. Mich interessiert, was
Stimme und Sprechweise über uns verraten, welchen Einfluss sie auf
unsere Gesprächspartner haben.
NG:Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Auf dem
Parteitag der SPD 1995 trat Oskar Lafontaine gegen den
Parteivorsitzenden Rudolf Scharping an. Beide hielten eine fast
identische Rede über den Erfolg der SPD, Lafontaine begeisterte die
Hörer, Scharping jedoch nicht. Lafontaine erschien dynamisch und
kämpferisch, Scharping verzweifelt und resigniert. Zwei Menschen können
dasselbe sagen, aber völlig unterschiedlich wirken. Das entscheiden
Stimme und Sprechweise mehr als der Inhalt.
NG: Wie unterscheiden sich Lafontaine und Scharping?
Scharping
spricht langsam; er dehnt Wortakzente, um zu betonen, statt Tonhöhe und
Lautstärke zu variieren. Dadurch wirkt seine Sprechweise lahm und müde;
sie zerstört den Vorteil seines eigentlich warmen Stimmklangs.
NG: Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Nehmen wir den Wahlkampf
zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück. Merkel hat eine beruhigende
Sprechmelodie, eine vage Wortbetonung, sie nuschelt leicht, spricht
sowohl Plosive (Konsonanten, bei deren Artikulation wir den Luftstrom
vollkommen blockieren) relativ weich aus als auch Frikative
(Konsonanten, bei dessen Artikulation eine Engstelle gebildet wird,
welche die ausströmende Luft verwirbelt und Reibelaute erzeugt). Sie
wirkt ehrlich und glaubwürdig auf die Hörer. Das heißt nicht, dass sie
es auch ist – aber sie wirkt so. In heftigen Wirtschaftsdebatten könnte
ihre vage Sprechweise aber auch Wut provozieren. Die Wirkung hängt immer
auch von der Situation ab.Steinbrück artikuliert deutlich und scharf.
Seine leicht nasale Sprechweise wirkt oft arrogant, es erinnert an einen
preußischen Offizierston. Für eine Volkspartei ist das keine optimale
Assoziation.
NG: Ist die Stimme nicht genetisch bedingt?
Nur zum
Teil. Die Ausbildung des Stimmklangs beginnt mit dem ersten Schrei nach
der Geburt. Anatomie und Physiologie sind dabei die Rahmenbedingungen
der Stimmerzeugung. Ausschlaggebend sind auch unsere primären
Bezugspersonen – denn Spracherwerb findet maßgeblich durch
Imitationslernen statt. Ein Säugling hört Laute wie /ba/ oder /ma/ und
versucht, diese nachzubilden. Dabei spielt er mit seiner Zungen und
vergleicht seine eigenen Laute mit den gehörten. Individueller
Stimmklang und Sprechweise als Ausdruck der Persönlichkeit bilden sich
schließlich nach und nach aus.
NG: Wie beeinflusst die Stimme den Alltag?
Die Stimme
ist das Fenster zur Seele. Sie sendet Botschaften, die im Alltag häufig
wichtiger sind als die unmittelbare Bedeutung der gesprochenen Wörter.
Der Sprecher erzeugt diese Information oft unbewusst, der Hörer
verarbeitet sie unwillkürlich. Unsere Stimme entscheidet, wie wir auf
andere wirken, welche Jobs wir kriegen, ob wir beliebt sind. Menschen
mit einer tiefen Grundfrequenz empfinden wir als kompetent und souverän;
wir vertrauen ihnen.
NG:Wieso hören wir Emotionen in der Stimme?
Emotionen
beeinflussen unsere Körperspannung. Ärgern wir uns, erhöht sich der
allgemeine Muskeltonus. Dadurch schwingen unsere Stimmlippen
impulsförmiger, es sammelt sich vermehrt Energie im mittleren und oberen
Frequenzspektrum. Wir betonen mehr Silben und sprechen schneller. Sind
wir hingegen traurig, verlieren wir Körperspannung, unsere Stimme wird
monotoner und gedämpfter.
NG: Wie zeigt sich unser Charakter durch die Stimme?
Ähnlich
wie unsere Emotionen. Selbstbewusste, gesellige Menschen haben eine
aufrechte Körperhaltung. Sie reden meistens lauter, schneller, mit
ausgeprägter Betonung. Besorgte, schüchterne Menschen haben eine eher
dünne Stimme, variieren Lautstärke und Tonhöhe wenig. Ihre Körperhaltung
ist weniger aufrecht. Diese Stimmunterschiede gelten weitgehend sprach-
und kulturübergreifend.
NG: Was verrät die Stimme noch?
Alter, Geschlecht, Gewicht, regionale Herkunft und Bildungsgrad.
NG:Frauen haben höhere Stimmen als Männer – ist das ein Nachteil?
Durch
ihre melodiöseren Stimmen wirken Frauen emotionaler. Männer sprechen
monotoner, wirken ernster und rationaler. Wegen ihrer höheren
Satzmelodie galten Frauen als weniger souverän und kompetent, weshalb
zum Beispiel der Rundfunk lange Zeit eine Männerdomäne war. Für die
Verkündung einer Katastrophe galt eine Frauenstimmen als unangemessen.
Hier gibt es interessante Entwicklungen. Insgesamt hat sich die mittlere
Tonlage von Frauen im deutschsprachigen Raum in den letzten 100 Jahren
aber gesenkt - etwa um eine Terz. Besonders Nachrichtensprecherinnen
haben auffallend tiefe Stimmlagen. Das ist sicherlich auch Ergebnis der
Emanzipation.
NG:Was sollten wir beim Sprechen vermeiden?
Ich bin ein
Gegner von goldenen Regeln, durch die wir angeblich schnell zu
überzeugenden Rednern werden. Stimme und Sprechweise sind Teil der
Persönlichkeit und entwickeln sich über Jahrzehnte, wir können sie nicht
mal eben durch Training verbessern oder ändern. Ich will Sprechtraining
nicht verteufeln, aber am Beginn muss eine kundige Diagnose stehen. Sie
und ich, wir sprechen völlig unterschiedlich – da können nicht
dieselben Regeln greifen. Es müssen auch immer Situation, Thema und
Hörer berücksichtig werden. Ein Beispiel für den Unsinn goldener Regel
ist der oft zu lesende Hinweis: „Sprechen Sie möglichst langsam, damit
man Sie gut versteht“. Gute Sprecher zeichnen sich aber dadurch aus,
dass sie relativ schnell sprechen und dennoch deutlich. Wer andere
begeistern will, muss lebendig und ausdrucksvoll sprechen.
NG: Wie sieht Ihr Berufsalltag aus?
Ich nehme einen
subjektiven Höreindruck, zum Beispiel eine politische Rede oder den
Vortrag des DAX-Vorstandes und analysiere ihn auf bestimmte Parameter.
Um subjektives Erleben zu minimieren, führe ich zusätzlich systematische
Hörtest mit Laienhörern durch. Bei Untersuchungen zur Persönlichkeit
erheben wir den Zusammenhang messbarer physikalischer Merkmale der
Stimme und Sprechweise mit den „Big Five“ der Psychologie. Das sind die
fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit: Emotionale Stabilität,
Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit,
Gewissenhaftigkeit. Im ersten Schritt erheben wir ihre individuelle
Ausprägung. Dann analysieren wir einzelne Sprachparameter: Grundfrequenz
der Stimme durch den Schwingungsverlauf der Stimmlippen, Rauigkeit und
Zittrigkeit der Stimme (Pertubationsmaße), Spektrum des Sprachschalls
(ob die Stimme eher hell oder dunkel klingt). Die perzeptiven Daten
korrelieren wir mit den akustischen Daten, um herauszufinden, wie
Sprachsignale und Beurteilung durch die Hörer zusammenhängen.
NG: Wo werden Ihre Ergebnisse angewendet?
Zum Beispiel
um die Sprachsynthese von Vorleseautomaten zu optimieren. Erkennt ein
Automat das Alter des Sprechers, kann er Sprechgeschwindigkeit und
Lautstärke anpassen. Oder in der automatischen Spracherkennung von
Assistenzsystemen wie in PKWs. Die Erkennungsrate sinkt bei erregter
Sprechweise. Wenn wir die Veränderungen der Sprechweise je nach Emotion
beschreiben können, lässt sich das in der Software berücksichtigen.
NG: Und außerhalb der Technik?
Neben den
Wirkungsanalysen bei Politikern und Moderatoren zum Beispiel im
Personalwesen. Wer Bewerber nur bewusst beurteilt, verschenkt wertvolle
Informationen. Angenommen Sie haben fünf Bewerber - aber nur einen Job.
Objektiv betrachtet, sind alle gleich gut. Aber jeder Job erfordert
spezifische Eigenschaften wie Empathie, Mut, Kampfgeist. Das verrät die
Stimme viel mehr als die Wortwahl. Leider sind solche intuitiven Urteile
schwer zu verbalisieren – „laut-leise“ sind die einzigen greifbaren
Attribute. Darum begründen wir unseren Eindruck oft mit Frisur und
Krawattenfarbe.
Walter Sendlmeier studierte in Bonn Kommunikationswissenschaft, Phonetik, allgemeine Sprachwissenschaft und Psychologie. Er promoviert in der allgemeinen Sprachwissenschaft mit einer Arbeit über psychophonetische Aspekte der Wortwahrnehmung, arbeitet drei Jahre am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, Niederlande, und drei Jahre in der audiologischen Abteilung der HNO-Universitätsklinik in Bonn. Um den Einfluss von Stimme und Sprechweise zu verstehen, sind Kenntnisse aus den Bereichen Psychologie, Medizin, Soziologie Phonetik und Akustik nötig. Persönlich geprägt hat ihn der Kontakt zu dem Psychologen Klaus Scherer, der seit 1970 den Zusammenhang von Stimme und emotionalem Ausdruck erforscht.
Das Gespräch führte Lisa Alix Brandau
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