SPIESSER-Autoren schreiben Briefe. Diesmal schreibt Linus dem Talent.
Hallo liebes Talent,
was ist eigentlich los mit uns? Magst du mich nicht mehr? Immer häufiger lässt du mich im Stich und zeigst mir, dass du mit mir nichts zu tun haben willst. Schändlich hast du dich von mir abgewendet. Ich sitze vor gähnend weißen Blättern Papier und in meinem Kopf hallt ein lautes Echo, wenn mal ein sinnvoller Gedanke durch meine Hirnwindungen purzelt. Dabei brauche ich dich doch, ohne dich bin ich ein Nichts! Es schmerzt, wenn du dich in eine Ecke verkrümelst, immer dann, wenn ich dich den anderen vorstellen will.
Weißt du, ich nehme es dir gar nicht übel, was in der Vergangenheit passiert ist. Zum Beispiel als du in der zweiten Klasse nicht da warst, als alle über mein Kunstbild gelacht haben (Mal ehrlich: Man konnte doch erkennen, dass das keine Kuh auf dem Baum ist sondern ein Vogel, oder?). Auch die Geschichte nach dem Stimmbruch nehme ich dir nicht übel. Ich wollte eh nie Opernsänger werden und spare meine Stimme für unter der Dusche auf. Du wirst schon deine Gründe dafür gehabt haben, dass du auf einmal nicht mehr mit mir zusammen singen wolltest.
Ein großer Musiker wird Linus wohl mit einem zickigem Talent nicht werden.
Okay. Ich weiß, ich habe Fehler gemacht. Habe dir wenig Zuneigung geschenkt und oft nicht auf dein Drängen gehört, wenn du dich beweisen wolltest. Daraus habe ich aber gelernt. In Zukunft wird das nicht wieder vorkommen. Denk an die schönen Zeiten! Du und ich, wir beide gegen den Rest der Welt. Wir haben im Fußball gewonnen, Preise im Judo geerntet und waren die Lieblinge des Mathematiklehrers.
Was ist jetzt? Wir reden nur noch über Politik anstatt wirklich zu handeln, irgendetwas zu unternehmen. Reden, denken und träumen. Darüber hinaus? Nichts. Nur, weil ich dich etwas vernachlässigt habe, musst du doch nicht gleich ganz auf stur stellen. Das führt doch zu nichts. Fliehen kann schließlich keiner vor dem anderen. Bitte, lass es uns noch einmal versuchen. Schließlich kann ich nicht ohne dich - und bist du nicht auch nichts ohne mich?
In tiefster Sehnsucht,
Text: Linus Juli Bild: Luca Jager /www.jugendfotos.de Grafik: Juliane Dorn