Lidiia Akryshora: Die Menschen hier sind distanzierter, man braucht mehr Zeit, um einander kennenzulernen. Das heißt aber nicht, dass Österreicher nicht offen sind - Zurückhaltung trifft es wohl eher.
Wo fühlen Sie sich am ehesten zugehörig: Ist es die Ukraine, Österreich - oder ein Europa, zu dem beides gehört?Das ist eine schwierige Frage, mit der ich mich in letzter Zeit viel beschäftigt habe. Ich fühle mich mit meinem Heimatland sehr verbunden und bin auch stolz darauf, Ukrainerin zu sein. Aber in Österreich funktioniert manches, wie das Sozialsystem oder der öffentlichen Transport, einfach besser, die Menschen halten sich an Regeln. Deshalb würde ich gerne viele Dinge, die ich hier kennengelernt habe, für mein Land übernehmen.
Gibt es so etwas wie eine europäische Identität, die junge Menschen wie Sie in der Ukraine verbindet?In der Vorstellung vieler Ukrainer meines Alters war Europa immer etwas Großes, Einzigartiges, zu dem wir unbedingt gehören wollten. Seit Beginn der Ukraine-Krise sehen wir aber, dass die EU anders ist, als wir uns das vorgestellt haben. Natürlich können wir nicht nur Erwartungen an andere stellen, sondern müssen unsere Geschichte in Europa selbst gestalten - und genau das versucht meine Generation jetzt auch.
Während die Mitgliedstaaten der EU sukzessive enger zusammenwachsen, scheint es mit den Ländern am Rande noch kein Konzept für ein geordnetes Verhältnis zur Union zu geben. Was sollte Ihrer Meinung nach mit diesen Nachbarstaaten und ihrer Beziehung zur EU geschehen?Der Idealfall für die Ukraine wäre nach wie vor, selbst zu wachsen und die Power zu entwickeln, ein vollwertiger Spieler auf internationaler Bühne zu sein. Wir waren in der Vergangenheit ja oft ein Spielball zwischen EU, USA und Russland; mehr Objekt als Subjekt. Seit den Aufständen auf dem Maidan hat die Ukraine gezeigt, dass sie eine eigene Staatlichkeit haben möchte. Die EU kann uns dabei aber offenbar nicht viel helfen, also müssen wir das selbst tun.
Warum kann - oder will - die EU Ihrer Meinung nach nicht ausreichend helfen?Das Problem ist, dass die Union selbst kein besonders stabiles System ist. Ich höre von vielen Menschen hier in Österreich, dass sie am liebsten wieder aus der EU austreten würden. Daraus ergibt sich für uns Ukrainer ein großer Widerspruch. Am Anfang wollten wir unbedingt enger an die EU angebunden sein, weil wir dachten, dass die Vereinbarung über europäische Werte uns dabei hilft, einen europäischen Staat zu bilden.
Und jetzt sind Sie enttäuscht?Die Sache ist: Die EU verfolgt eine Politik der doppelten Moral. Einerseits werden europäische Werte propagiert. Andererseits werden diese aber nicht gelebt.
Was meinen Sie damit konkret?Ich denke, dass es in der EU-Außenpolitik eine große Wende geben müsste. Schon an der Flüchtlingsfrage zeigt sich ja, dass die Union im Umgang mit Drittstaaten zu wenig tut. Wenn die Menschen anderen gegenüber so feindlich gesinnt sind, wie es derzeit den Anschein hat, sollten sie besser darüber nachdenken, nicht die Grenzen zu schließen, sondern endlich mehr Hilfe für Drittländer zu leisten. Dann werden in Zukunft auch weniger Flüchtlinge nach Europa kommen.
Zurück zum Konflikt in der Ukraine - hier reagiert die EU Ihrer Meinung nach ja auch nicht angemessen...Überhaupt nicht.
Sollten die EU-Staats- und Regierungschefs versuchen, den Konflikt auf diplomatischer Ebene zu lösen und an den Verhandlungstisch mit Putin zurückkehren?Viele sind dieser Meinung. Doch es wurde ja bereits versucht, die russische Position auf diplomatischer Ebene zu ändern. Leider erfolglos. Ich verstehe, dass man nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen will. Aber in der Ostukraine sterben unschuldige Menschen, das ist ein Fakt. Dagegen muss man etwas tun.
Hat der Konflikt die Union unvorbereitet getroffen?Erst kürzlich hat mich ein ukrainischer Historiker daran erinnert, dass die Geschichte der EU eine Geschichte ohne Kriege ist. Was jetzt passiert ist, war also nicht eingeplant - und keiner weiß, wie er damit umgehen soll. Dabei wäre Handlungsfähigkeit dringend geboten: Im Grunde kann die EU ja nicht wissen, ob Russland nicht auch einmal Polen oder Litauen angreift.
Was genau erwartet die Ukraine jetzt von der EU?
Auf großer Ebene wahrscheinlich eine Waffenlieferung; die direkte Einmischung in den Konflikt. Das ist natürlich eher unrealistisch. Aber eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen könnte sofort beschlossen werden. Insgesamt wäre eine deutlichere Politik gegenüber Russland, wie sie zwar einzelne Staaten, nicht aber die gesamte Union verfolgen, wünschenswert. Wir würden uns allerdings schon freuen, wenn in der EU einmal alle einer Meinung wären.
Ist das das große Problem der EU-Außenpolitik, dass es in den wichtigen Fragen oft keine Einigkeit gibt?Ja - es gibt zu viele unterschiedliche Interessen unter den Mitgliedstaaten. Das zeigt sich wunderbar am Beispiel des Ukraine-Konflikts. Wir Ukrainer haben uns eine einheitliche Unterstützung erhofft. Jetzt ist die Enttäuschung umso größer, weil die Erwartungen zu hoch waren.
Ist eine Annäherung an die EU da überhaupt noch gewünscht?Trotzdem, ja.
Glauben Sie daran, dass die Ukraine langfristig eine Chance hat, EU-Mitglied zu werden?In sehr ferner Zukunft - vielleicht. Aber vielleicht gibt es dann keine EU mehr. Viele in der Ukraine denken über dieses Szenario nach; auch wenn es ihnen nicht unbedingt realistisch erscheint. Die Union braucht neue politische Werte, sollte viel mehr wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit ihren Nachbarstaaten haben.
Fehlt der politische Wille dazu oder hat das andere Gründe?Das hängt vom jeweiligen Ereignis ab. Im Falle des Ukraine-Konflikts verstehe ich das zögerliche Verhalten sogar, weil es um Geld geht. Viele Mitgliedstaaten machen Geschäfte mit Russland. Da stellt sich eben die Frage: Wird das Materielle in den Vordergrund gestellt oder sind es die europäischen Werte? Manche entscheiden sich für das eine, manche für das andere.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)