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Maidan: Blick zurück auf den Platz, wo alles anfing

Kiew. Da ist es wieder. Das schmerzhafte Ziehen im rechten Oberschenkel. Jeden Tag spürt Roman Kotljarewski den Schmerz in seinem Bein, er erinnert ihn daran, was am 20.Februar 2014 passiert ist. Es war der Tag, an dem ihn auf dem Kiewer Maidan die Kugel eines Scharfschützen traf.

Roman Kotljarewski ist 34 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit dichtem dunklem Vollbart. Bis zu den Protesten vor einem Jahr arbeitete er als Logistikmanager und Biologe. Als im Dezember 2013 die Demonstrationen in Kiew begannen, konnte auch er wie so viele nicht weitermachen wie bisher. „Ich war von Anfang an auf dem Maidan, weil ich das Gefühl hatte, ich muss dort sein", sagt er. In den ersten Wochen lieferte er Essen und heiße Getränke, half dabei, Medikamente zu verteilen. Doch dann entschied Kotljarewski, dass er mehr tun wollte.

Protestlawine war nicht zu stoppen

Die Geschichte der Euromaidan-Protestwelle begann am 21.November 2013 mit der Entscheidung der ukrainischen Regierung, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis zu legen. Nach der Gewalt gegen friedliche Studentenproteste durch die Spezialeinheit Berkut der ukrainischen Polizei am 1.Dezember 2013 radikalisierten sich die Forderungen der Demonstranten. Hunderttausende Menschen gingen danach auf die Straße, eine Protestlawine, die nicht mehr zu stoppen war. Die Menschen forderten nicht mehr nur den Rücktritt einzelner Regierungsmitglieder wie des Innenministers, sondern den Abtritt von Präsident Viktor Janukowitsch selbst.

Es war der 20.Jänner, kurz nach den ersten drei Maidan-Toten, da traf Roman Kotljarewski auf der Hruschewskyi-Straße am oberen Ende des Unabhängigkeitsplatzes zufällig drei Bekannte, die in einer Einheit des Roten Kreuzes als Sanitäter dienten. „Ich sah sie und dachte mir: Das ist genau das, was mir fehlt", erinnert sich Kotljarewski. „Während ich einfach herumstand und wartete, haben sie wirkliche Arbeit geleistet." Das Rote Kreuz leistete nicht nur Erste Hilfe, sondern vermittelte auch zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Denn, so sagt der Mann, auch auf dem Maidan vertrauten die Leute den Menschen mit dem Roten Kreuz auf dem Rücken.

Anfang vom Ende Janukowitschs

Die Atmosphäre während der ersten Wochen des neuen Jahres war angespannt. Janukowitsch weigerte sich abzutreten. Die Protestierenden dachten nicht daran zu weichen. Manche von ihnen hatten schon drei Monate auf dem Platz verbracht. Aus Zelten war eine Festung geworden, die bereit war, sich zu verteidigen. Dieser Moment kam schneller als angenommen.

Schon am 18.Februar begannen erste brutale Zusammenstöße, in deren Folge das Gewerkschaftshaus am Platz in Flammen aufging. An diesem Tag starben 25 Menschen, 400 weitere wurden verletzt. Der Tag, der die Wende einleiten sollte, war der 20.Februar. An ihm starben rund 77 Demonstranten und elf Angehörige der Sicherheitskräfte im Kugelhagel. All das passierte innerhalb weniger Stunden am Vormittag. Es war der Anfang vom Ende des Regimes Janukowitsch, der nur einen Tag später nach Unterzeichnung eines Abkommens zur Beilegung der Krise aus Kiew flüchtete.

Leichen, Rauch, Blut und Chaos

An jenem 20.Februar holte ein Freund Roman Kotljarewski um 8.30Uhr zum Bereitschaftsdienst auf dem Maidan ab. Es war ein düsterer Tag. Die beiden gingen aufgewühlt auf den Platz, geschockt noch von den Nachrichten der vergangenen Tage. Doch bald schon sollte Kotljarewski zum Augenzeugen noch blutigerer Vorfälle werden.

Als Demonstranten am Vormittag versuchten, die Präsidentschaftskanzlei oberhalb des Platzes zu erreichen, wurden sie zu Dutzenden von Schützen niedergestreckt. Kotljarewski musste sogleich an den Tatort - in die Institutska-Straße - eilen. Während er mit drei anderen Verwundete barg, waren im Hotel Ukraine medizinische Helferinnen damit beschäftigt, die Überlebenden zu versorgen. Und immer mehr Tote kamen dazu, aufgebahrt auf Tragen, mit weißen Tüchern zugedeckt. „Es war ein Horror, eine surreale Situation: Um uns herum wurde geschossen, es war unklar, woher, daneben Leichen, Rauch, Blut und Chaos", erinnert sich Kotljarewski. Wer an diesem Tag in Kiew für die vielen Toten verantwortlich ist, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Für Kotljarewski ist klar, dass die Hauptverantwortung bei der Berkut-Einheit liegt, die von der Krim nach Kiew beordert worden war.

Der Mann ging also weiter unter Lebensgefahr nach Verletzten suchen. Als er die Institutska-Straße hinaufging, sah er einen Burschen mit einem blauen Helm. Er war tot. Dennoch wollte der Sanitäter den Körper aus dieser blutigen Schlacht bergen. Der Tote war Ustym Golodnjuk, Sohn eines Polizisten, der auf der anderen Seite des Maidan gestanden hatte. Eigentlich wollten sie an diesem Tag gemeinsam nach Hause fahren. Der Vater hatte sich Sorgen um den Sohn gemacht. Ustym hatte geantwortet: „Keine Sorge, ich habe einen blauen UNO-Helm, der schützt mich."

In Niederösterreich behandelt

Als die Sanitäter Ustym auf die Trage legten und sich aufrichteten, bekam Kotljarewski, wie er jetzt scherzhaft sagt, „das Geschenk". Die Kugel des Scharfschützen drang in seinen rechten Oberschenkel ein. Wäre er nicht aufgestanden, hätte die Kugel seinen Hals oder Kopf getroffen. Noch am selben Tag wurde er in Kiew operiert. Anfang März kam er dank der Kooperation zwischen den ukrainischen Freiwilligen und ukrainischen Medizinern nach Wien. Danach wurde er für fast eineinhalb Monate im Landesklinikum Mödling behandelt. Die Kosten übernahm das Land Niederösterreich.

Während seiner Zeit im Krankenhaus redete Roman Kotljarewski viel mit den anderen Patienten. Einerseits galt er als Held, andererseits war es traurig für ihn, weil er viele davon überzeugen musste, dass auf dem Maidan keine Faschisten demonstriert hatten. Ein Philosophielehrer, der mit ihm im Zimmer gelegen war, besuchte ihn noch mehrmals. „Er war sehr dankbar, dass ich so viele Geschichten erzählt habe. Er hat gesagt, dass er jetzt die Situation besser versteht", sagt der 34-Jährige stolz.

„Ich bereue nichts"

Ein Jahr nach seiner Verwundung hat Roman Kotljarewski geteilte Gefühle. Einerseits haben selbst viele Ukrainer nicht verstanden, was genau in jenen Tagen geschehen ist. Anderseits haben viele Mitbürger begriffen, dass sie es sind, die Dinge beeinflussen können. Zum Krieg im Osten sagt Kotljarewski: „Es sterben die besten Menschen unserer Nation. Viele meiner Bekannten, mit denen ich auf dem Maidan gestanden bin, kämpfen jetzt in der Ostukraine. Einige sind nicht mehr am Leben."

Auch wenn sein rechter Oberschenkel noch immer schmerzt, blickt Roman Kotljarewski nicht im Zorn zurück. „Selbst, wenn es meine Gesprächspartner oft nicht verstehen können", sagt er. „Ich bereue nichts."

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2015)

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