Leonie Schulte

Journalistin und Autorin, Lünen

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Artikel

Kinderpsychiater über Pandemiefolgen: „Inzwischen kommen jeden Tag ein bis zwei Kinder als Notfall zu uns"

Herr Barth, wie wirkt sich die Pandemie auf Ihre Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen aus?

Seit der Pandemie nehmen wir einen Anstieg der Notfälle wahr - allerdings mit einem erstaunlichen Verlauf. Während des ersten Lockdowns nämlich schienen die Familien eher entlastet zu sein von den täglichen Anforderungen, da hatten wir kaum Notaufnahmen. Seit Oktober 2020 sind unsere Notaufnahmen um 40 Prozent gestiegen. Inzwischen kommen jeden Tag ein bis zwei Kinder als Notfall zu uns.

Wann gilt ein Kind oder Jugendlicher als Notfall?

Die häufigsten Notfälle sind ganz, ganz starke depressive Kinder. Also Kinder und Jugendliche, die sich nicht mehr dem Alltag gewachsen zu fühlen. Damit es zu einer Notaufnahme kommt, müssen die mangelnde Zukunftsperspektive und die dadurch entstehenden suizidalen Gedanken massiv werden. Denn die Notaufnahme dient ja auch dazu auszuschließen, dass diese Suizidgedanken umgesetzt werden.

Wie alt sind diese lebensmüden Kinder?

Es fängt in der Regel bei etwa zwölf Jahren an und dann das ganze Jugendalter durch.

Was ist es, woran die Kinder und Jugendlichen derzeit besonders leiden?

Neben Depression verbunden mit Suizidalität sind es die Essstörungen, vor allem die Magersucht. Sich den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu fühlen - etwas, was diese Kinder spüren - hat natürlich mehrere Ursachen. Eine Ursache ist die chronische Belastung durch die Pandemie, die jetzt wieder massiv zunimmt.

Was genau macht die Situation für Kinder und Jugendliche so belastend?

Es ist die pure Unsicherheit. Kein Mensch weiß, wie es weitergeht, was mit den Schulen ist. Für die Kinder und Jugendlichen ist es ein massives Bedrohungsszenario. Dann kommt gerade für die älteren Kinder und Jugendlichen hinzu, dass wieder zunehmend die Wege für ihren affektiven Ausgleich eingeschränkt werden.

Gottfried Maria Barth ist stellvertretender Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tübingen. © Quelle: Andrea Letsch

Was heißt affektiver Ausgleich?

Als Jugendlicher geht es einem ja immer wieder mal schlecht, aber man hat seine Wege, wie man da wieder herausfindet. Das ist damit gemeint. Man trifft sich mit Freunden, macht Sport, Musik. Genau da hatten wir starke Einschränkungen. Und jetzt stehen diese Einschränkungen wieder im Raum. Die älteren Kinder und Jugendlichen trifft das besonders hart, denn sie sind noch viel stärker nach außen bezogen. Das beobachten wir auch bei uns: Die Kinder mit der stärksten Belastung sind die ab zwölf Jahren aufwärts.

Gibt es weitere Belastungsfaktoren?

Es geht an den Kindern und Jugendlichen nicht vorbei, dass ihre Eltern teils belasteter sind. Genauso wenig geht es an ihnen vorbei, dass es für sie zunehmend schwerer wird, eine Identität zu finden. Die Jugendlichen sind mit allerlei Meinungen konfrontiert. Gerade im Zusammenhang mit der Pandemie erleben wir sehr gegensätzliche Meinungsäußerungen. Da als Jugendlicher seinen Standpunkt zu finden ist schwer.

Gibt es Kinder und Jugendliche, die Ihnen besonders Sorgen machen?

Da ist zum Beispiel das Thema Magersucht. Seit über einem Jahr erleben wir eine Schwemme an Magersuchtserkrankungen, die es nicht mal in annähernder Form bisher gegeben hat. Es ist einfach Wahnsinn. Darunter sind viele mit einer ganz starken Ausprägung, sodass manchmal erst mal eine Intensivbehandlung mit Zwangsernährung notwendig ist.

Warum hören die Jugendlichen ausgerechnet jetzt auf zu essen?

Ich glaube, da drückt sich auch die Verunsicherung aus. Magersucht ist der Versuch einer Selbsttherapie in der bedrohlich gewordenen Welt. Die Kinder haben nichts mehr außerhalb unter Kontrolle, die Schule fällt aus, sie können keine Freunde sehen. Aber sie können ihr Essen kontrollieren. Das hat etwas Beruhigendes. Wir dürfen nicht vergessen: Die Pandemie ist eineinhalb Jahre Traumatisierung für unsere Kinder und Jugendlichen. Um da noch einen Halt zu finden, „retten" sich viele in die Essenskontrolle.

Was hat das für Konsequenzen?

Das ist eine heftige Erkrankung, aus der man ohne professionelle Hilfe nicht mehr herauskommt. Aber Magersucht ist behandelbar. Es braucht zwar seine Zeit, aber ich gehe davon aus, dass wir die meisten aus dieser Erkrankung herausführen können.

Wie lange dauert dieser Weg aus der Magersucht?

Es gibt Untersuchungen, dass man etwa sieben Jahre rechnen muss, bis sich das ganze Denken normalisiert hat. Das Verhalten sollte sich nach einem halben oder, je nach Schweregrad, nach zwei Jahren normalisiert haben.

Was macht Ihnen noch Sorgen?

Wir erleben, dass in den Familien die Nerven blank liegen. Zum Beispiel hatten wir gestern die Aufnahme von einem Jungen, bei dem die Weigerung Hausaufgaben zu machen so eskaliert ist, dass die Polizei eingeschaltet werden musste und der Junge in die Klinik kam. Was mir dabei Sorge macht: Kein Mensch kann voraussagen, wie lange diese Situation anhält. Zu den Traumatisierungen kommt auf jeden Fall schon mal ein halbes Jahr hinzu. Und was danach ist, wissen wir nicht. Wir hatten jetzt schon nach den Sommerferien so viele Patientinnen und Patienten, die mit der Schule nicht mehr zurechtkommen. Gemeint ist damit die Leistung, aber auch die soziale Herausforderung. Wenn wir diese Herausforderungen nicht berücksichtigen, steuern wir in noch mehr Krisen hinein.

Und es kommen ja weitere Konflikte hinzu. Diskussionen um Schutzmaßnahmen, Quarantäne, Impfen. Diese Themen bestimmen an vielen Schulen gerade den Alltag.

Dieses Uneinheitliche ist eine massive Verunsicherung. An dem Punkt könnte man sich eine klarere Haltung aus der Politik wünschen. Ich muss aber auch sagen: Gemessen daran, wie groß die Herausforderung ist, machen die Kinder und Jugendlichen das ganz toll. Wir haben die beste Jugend, die wir je hatten. Ich sehe so viele sehr intelligente, sensible Kinder, die ein ganz großes Potenzial haben, aber durch die Belastungen scheitern. Das ist tragisch.

Welche Kinder und Jugendlichen sind besonders gefährdet, irgendwann zu Ihren Patienten zu gehören?

Unsere Aufnahmen sind ganz quer durch alle sozialen Schichten. Besonders gefährdet sind Kinder, die es besonders gut machen wollen. Und Kinder, die sich gerade viele Gedanken machen und deshalb auch die ganze alltägliche Bedrohung der Pandemie erleben. Eine weitere Gruppe sind Kinder, die aus irgendwelchen Gründen nicht genügend Rückhalt aus dem Elternhaus bekommen.

Kommen auch Kinder aus stabilen Elternhäusern zu Ihnen?

Bei den Kindern aus weniger stabilen Elternhäusern ist die Wahrscheinlichkeit einer Belastung größer, aber es sind ganz viele Faktoren, die bei der Entstehung einer psychischen Erkrankung eine Rolle spielen. Die genetische Ausstattung etwa, frühe Lebenserfahrungen, Erfahrungen in der Schule, zufällige Erlebnisse, da spielt so viel mit. Die Stabilität der Eltern ist eben nur ein Faktor. Für die Eltern ist das wichtig zu wissen, denn oft fangen sie an zu grübeln und suchen die Schuld bei sich. Das ist meistens aber nicht gerechtfertigt. Denn wie es definitiv zu einer Erkrankung kommt, können wir selten klären.

Jetzt haben Sie in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr viele Kinder und Jugendliche gesehen. Gibt es Fälle, die Ihnen immer noch nachhängen?

Der Fall mit dem Jungen und den Hausaufgaben zum Beispiel. In seinem Zimmer bei uns liegt ein Buch und ein Kuscheltier. Das sind Sachen von der Station. Von daheim hat er gar nichts mitbekommen. Nichts, was für ihn wichtig sein könnte. Zu sehen, wie überfordert Eltern sind, das macht mich schon betroffen. Oder neulich hatten wir ein Mädchen aus einem absolut guten Elternhaus, die für sich den Weg über den Drogenkonsum gewählt hat. Das ist ein talentiertes Mädchen von 17 Jahren und ihr ganzes Denken und Fühlen ist fixiert auf die Drogen. Jedes Kind, jeder Jugendliche, der so eine schlechte Prognose hat, tut uns weh. Und trotzdem kann ich sagen: Ich habe den schönsten Beruf, den es gibt. Und das ist nicht dahergeschwätzt!

Was erfüllt Sie so?

Wissen Sie, ich habe ganz, ganz häufig Kinder und Jugendliche hier, die keine Perspektive für sich sehen. Und dann ist es Teil meiner Arbeit, ihnen zu sagen: Du bist ein toller, talentierter Mensch! An den strahlenden, manchmal ungläubigen Augen merken wir, dass sie das schon lange nicht mehr gehört haben. Wir aber dürfen ihnen das vermitteln und ihnen einen Baustein mitgeben, der ihnen vielleicht helfen wird, ein glückliches Leben aufzubauen. Das ist doch toll! Davon ist unsere Arbeit geprägt und weniger von den Katastrophen.

Trotzdem noch mal ein Blick auf die Katastrophen: Was bedeutet es für uns als Gesellschaft, wenn wir die Kinder und Jugendlichen aus den Augen verlieren?

Ich bin überzeugt, dass sich das auf Arbeitsfähigkeit, auf Gesundheit, auf die Fähigkeit zu einem glücklichen Leben auswirken wird, wenn wir unsere Kinder und Jugendliche nicht gut auffangen.

Was müssen wir dafür tun?

Das bedeutet zum Beispiel, dass wir den Kindern und Jugendlichen, die psychisch krank werden, genügend Behandlungsplätze anbieten. Im Moment stehen 100 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste für eine Psychotherapie. Sie müssen monatelang oder sogar bis zu einem Jahr auf einen Therapieplatz warten. Das ist eine völlige Katastrophe. Da wird Leiden konserviert. Darum müssen wir die Versorgungskapazitäten dringend erhöhen.

Das heißt aber auch, nicht noch weitere Belastungen hinzukommen zu lassen, oder? Wie geht es Ihnen mit Blick auf die kommenden Monate?

Die Kröte mit der Maske in der Schule müssen wir schlucken, aber die Schulschließungen dürfen wir wirklich nur als Ultima Ratio wählen. Wir machen ja auch keine Klinikschließung. Es ist also möglich, wenn man entsprechend achtet. Vor allem die größeren Kinder müssen wir gut in den Blick nehmen und hellwach bleiben. Wir wissen, wie viel Belastung auf die Kinder zukommen wird. Daher ist es unsere Aufgabe als Gesellschaft, ganz nah am Fühler zu sein und zu merken, wenn sie überfordert sind. Dazu müssen wir auch Geld in die Hand nehmen und die Schulen ausstatten. Es muss es uns Wert sein, sonst entsteht viel persönliches Leid und auch die Gesellschaft wird einen Preis zahlen.

Haben Sie Suizidgedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern:

Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste:

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