HEIKE SCHWEITZER: Die Debatte über die Folgen, die die Machtstellungen der großen Tech-Konzerne haben können, wird auf beiden Seiten des Atlantiks geführt. Die USA sind in dieser Debatte sogar eher ein Spätzünder. Die digitalen Plattformen, auf denen die Machtstellungen beruhen, sind mit starken Netzwerkeffekten verbunden. Dabei gilt: Je mehr Nutzer auf der Plattform sind, desto attraktiver wird die Plattform für andere. Die Machtstellung ermöglicht gleichzeitig den Zugriff auf große Mengen von Nutzerdaten, die sich ihrerseits auf ganz verschiedenen Märkten als Wettbewerbsvorteil erweisen können. Wir müssen also aufpassen, dass diese Machtstellungen sich nicht immer weiter verfestigen oder ausdehnen.
Kann die Zerschlagung eines Unternehmens das richtige Mittel sein, um das zu verhindern?Die Zerschlagung eines Unternehmens darf immer nur das letzte Mittel sein. Es kommt dann in Betracht, wenn Machtpositionen im Wettbewerb nicht mehr angreifbar sind und wir systematische Missbräuche beobachten, die wir anders nicht effektiv bekämpfen können. Da sind wir noch nicht. Die Tech-Konzerne haben ihre Machtstellungen im Wettbewerb erlangt. Die Integration der Konzerne kann auch erhebliche Vorteile für Verbraucher haben. Wir sollten jetzt erst einmal alle anderen Mittel ausschöpfen, um die Wahlfreiheit von Konsumenten und die Angreifbarkeit bestehender Machtstellungen sicherzustellen und um Innovation auf breiter Front zu ermöglichen.
Haben die Europäer Monopolen gegenüber grundsätzlich eine härtere Haltung als die USA?Die EU-Kommission hat das europäische Wettbewerbsrecht, und insbesondere das Missbrauchsverbot, in den letzten Jahrzehnten deutlich strenger ausgelegt und schärfer durchgesetzt als die US-amerikanischen Behörden. Dies zeigen etwa die „Google Shopping"-Entscheidung der EU-Kommission aus dem Jahr 2017 oder die „Google Android"-Entscheidung und die Qualcomm-Entscheidung aus dem Jahr 2018. Der Erfolg dieser Politik zeigt sich mittlerweile darin, dass in Europa die Marktkonzentration weniger stark zugenommen hat als in den USA. Die starke Konzentration, verbunden mit hohen Gewinnmargen, hat in den USA zu einer Verteilungsdebatte geführt, die wir in Europa nicht in gleicher Weise führen müssen.
Würde eine schärfere Gangart gegenüber den Tech-Riesen für europäische Unternehmen Chancen bieten?Ziel einer effektiven Missbrauchsaufsicht - und auch einer effektiven Fusionskontrolle - ist es, die Märkte für Angreifer offenzuhalten. Genau dies muss auch das Ziel der Anwendung des Wettbewerbsrechts auf das Verhalten der großen Tech-Unternehmen sein. Welche Mittel hierfür in Betracht kommen, hängt vom konkreten Kontext ab. Manchmal wird man den Marktbeherrschern beispielsweise sogenannte Interoperabilitätsverpflichtungen auferlegen. Es kann aber auch eine Verpflichtung in Betracht kommen, Zugang zu bestimmten Daten zu gewähren. Wenn in Zukunft in dieser Hinsicht klare Regeln geschaffen werden, dann ist dies mit der Erwartung verbunden, dass marktbeherrschende Unternehmen so daran gehindert werden können, ihre Machtstellung auf Drittmärkte zu übertragen, und dass innovative Vorstöße von Drittunternehmen möglich bleiben. Europäische Unternehmen mit ihren großen Stärken werden diese Chancen nutzen können.
Mit Blick auf China wurde die EU-Wettbewerbskommissarin Vestager für die geplatzte Siemens-Alstom-Fusion kritisiert, weil sie Global Player verhindere. Wie sehen Sie das?Auf der Basis der (begrenzten) Informationen, die ich zum Sachverhalt habe, halte ich die Untersagung für wettbewerbsrechtlich richtig. Die Folge solcher Zusammenschlüsse, die zu Monopolstellungen auf europäischen Märkten führen, wären beispielsweise steigende Preise für Verbraucher und ein geringerer Innovationsdruck. Das wäre in vielerlei Hinsicht eine sehr schlechte Entwicklung. Dass diese Nachteile durch überwiegende Vorteile aufgewogen würden, ist nicht ersichtlich - dass schwächerer Wettbewerbsdruck auf Heimatmärkten zu größerer Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten führt, ist keineswegs evident. Dass europäische Verbraucher für die höchst ungewisse Aussicht besserer Wettbewerbschancen auf internationalen Märkten mit höheren Preisen zahlen sollen, ist auch nicht naheliegend. Das europäische Fusionskontrollrecht sieht eine „Gemeinwohl"-Rechtfertigung von Fusionen aber auch gar nicht vor. Würde man sie „durch die Hintertür" einführen, so wäre eine Politisierung des Wettbewerbs- beziehungsweise Fusionskontrollrechts die Folge, die wir uns - auch international - nicht wünschen können.
Inwiefern?Das Wettbewerbsrecht ist dann nicht mehr eine Kampfordnung für Unternehmen, sondern ein Kampfinstrument für Staaten. Wir sollten uns eine solche Entwicklung ersparen. Es gibt deutlich klügere Instrumente für eine moderne Industriepolitik.
Vestager wird voraussichtlich wieder Wettbewerbskommissarin. Welche konkreten Verbesserungen empfehlen Sie ihr für das europäische Wettbewerbsrecht?Gemeinsam mit zwei Kollegen habe ich bereits im März 2019 für die Kommissarin Vestager einen Bericht mit dem Titel „Digital policy for the digital era" vorgelegt, der zahlreiche Empfehlungen enthält. Dazu gehört unter anderem, dass wir uns mit den grundlegenden Konzeptionen des Wettbewerbsrechts neu befassen müssen. Etwa mit der Frage, wie wir Machtpotentiale erfassen können, die nicht auf einen Produkt- oder Dienstleistungsmarkt begrenzt sind, sondern sich auf eine Vielzahl von Märkten beziehen, etwa weil die Verfügung über Nutzerdaten eine marktübergreifende Steuerung des Nutzerverhaltens ermöglicht. Ein anderer Punkt ist, dass wir dafür sorgen müssen, dass marktbeherrschende Stellungen auf Plattformmärkten bestreitbar bleiben. Deshalb sollten marktbeherrschenden Plattformbetreibern Verhaltensweisen, die einen Plattformwechsel oder Multihoming erschweren, vorbehaltlich einer besonderen sachlichen Rechtfertigung verboten sein.