CAPITAL: Herr Hartmann, Sie sagen, dass sich die Elite immer mehr von der normalen Bevölkerung abkapselt. Wer gehört denn in Deutschland überhaupt zur Elite?
MICHAEL HARTMANN: Als Elite bezeichnet man Personen, die wichtige Machtpositionen bekleiden. Einerseits qua Amt – in der Politik, in der Justiz, in der Verwaltung, in der Wirtschaft. Andererseits auch qua Eigentum, wenn einer Person große Unternehmen oder zumindest ein beachtlicher Teil davon gehören, wie zum Beispiel die Quandt-Erben bei BMW oder Piech-Porsche bei VW. Aber: Elite bedeutet keinen Reichtum – das deckt sich in der Wirtschaft zwar häufig – und auch nicht öffentliches Ansehen. Elite bedeutet Macht. Je nachdem wie weit man den Kreis zieht, kann man dann natürlich etwas unterschiedlich definieren, wer alles zur Elite gehört. Ob man also beispielsweise alle Minister auf Landesebene dazu zählt. Die meisten Studien in Deutschland veranschlagen den Kreis auf ungefähr 4000 Personen, mit einer Kernelite von rund 1000 Personen.
Was unterscheidet diese Menschen vom Rest der Bevölkerung?
Zum einen, dass sie eben diese Machtpositionen innehaben. Und zum anderen, dass die soziale Herkunft der Elite erheblich vom Durchschnitt der Bevölkerung abweicht. Im Idealfall würde die Zusammensetzung der Elite ja der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprechen. Das ist aber bei weitem nicht der Fall. Knapp zwei Drittel der Angehörigen der Kernelite, also dieser knapp 1000 Personen, stammen aus der oberen Einkommensschicht, die vier Prozent der Bevölkerung ausmacht. Am sozial geschlossensten ist die Wirtschaftselite. Vier von fünf Vorstands- und Aufsichtsratschefs stammen aus diesen oberen vier Prozent. In der Justiz und Verwaltung sind es ungefähr zwei Drittel. Am offensten ist noch die politische Elite, hier stammt ungefähr die Hälfte aus der oberen Einkommensschicht.
Die Zusammensetzung der politischen Elite hat sich gravierend verändert.
Michael Hartmann
Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?
Was sich im letzten Jahrzehnt gravierend verändert hat, ist die Zusammensetzung eben dieser politischen Elite. Während die Wirtschaftselite schon immer ein exklusiver Kreis war, stammten bei der politischen Elite seit 1949 knapp zwei Drittel aus der breiten Bevölkerung und ein gutes Drittel aus den oberen vier Prozent. Das hat sich im letzten Jahrzehnt komplett geändert. Die Bundesregierung am Ende der Großen Koalition 2009 rekrutierte sich zu 70 Prozent aus den oberen vier Prozent. Das hat sich aktuell wieder etwas abgeschwächt. Trotzdem zeigt sich, dass sich die politische Elite in ihrer Zusammensetzung der Wirtschaftselite annähert.
Kann man also ohne elitären Hintergrund in Deutschland überhaupt noch zur Elite aufsteigen?
Das ist von Sektor zu Sektor unterschiedlich und hängt entscheidend davon ab, wie die Rekrutierungsmechanismen verlaufen. Am schwierigsten ist es in der Wirtschaft, weil dort ein sehr kleiner, homogener Kreis von Personen entscheidet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dort in absehbarer Zeit eine Öffnung vollzieht, ist außerordentlich gering. In der Justiz ist das nicht ganz so krass, aber doch ähnlich, denn dort zählt beim Karriereaufstieg die Beurteilung der Vorgesetzten sehr viel. Die Justiz ist nach der Wirtschaft der zweitexklusivste Bereich. Am durchlässigsten ist auch heute noch die Politik, weil dort die Bevölkerung den größten Einfluss hat. Wie ich schon sagte, hat sich aber auch dort etwas verschoben. Am besten sieht man das an der SPD. Früher war das eine traditionelle Aufsteigerpartei, in der auch Arbeiter in Spitzenpositionen kommen konnten. Das gibt es kaum noch. Die Partei ist sehr stark akademisiert. Wir haben unter Parteimitgliedern mittlerweile einen Akademisierungsgrad von fast 40 Prozent und unter Bundestagsabgeordneten von fast 90 Prozent.
Sie haben ohne Studienabschluss de facto keine Chance mehr.
Michael Hartmann
Ohne Studienabschluss stehen die Chancen also schlecht, einmal zur Elite zu gehören?
Sie haben ohne Studienabschluss de facto keine Chance mehr. Wenn Sie aus der unteren Hälfte der Bevölkerung kommen, werden Sie im deutschen Bildungssystem nur ausnahmsweise die Chance bekommen, ein Studium abzuschließen. Damit wird diese untere Hälfte de facto schon im Bildungssystem ausgesondert. Später kommen dann noch weitere Selektionsmechanismen hinzu.
Wozu führt das?
Dass die Eliten immer homogener werden, bedeutet, dass sich die Einstellungen der Eliteangehörigen zu Fragen der sozialen Ungerechtigkeit, von Steuern, materieller Verteilung usw. immer ähnlicher werden. Je reicher jemand aufgewachsen ist, desto entschiedener ist er gegen Steuern auf höhere Einkommen und Vermögen und umso unproblematischer empfindet er soziale Ungerechtigkeit. Aber auch Akademiker ganz allgemein denken anders, reden anders und haben andere Interessen und Schwerpunkte als der Rest der Bevölkerung. Das kann man querbeet durch alle Parteien sehen.
Sind gentrifizierte Innenstadtviertel ein Beispiel dafür, wie sich die Elite von Rest der Gesellschaft abspaltet?
Absolut. Die Entmischung der Wohnquartiere ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch vorangeschritten. Wer in Ballungszentren eine Immobilie kaufen will, muss viel Geld haben. Da hat man als Normalverdiener keine Chance. Und das betrifft nicht nur die klassischen Millionärsbereiche wie die Elbchaussee in Hamburg oder Königstein im Taunus, sondern große Teile der Innenstädte in den Ballungszentren, die für einen Normalverdiener schlicht und einfach verschlossen werden. Das hat dann auch Konsequenzen für die Schulstrukturen, die ja an die Wohnquartiere gebunden sind. Auch dort findet dann eine Entmischung statt.
Wie tickt denn die deutsche Elite bei aktuellen gesellschaftlichen Themen?
Das lässt sich nicht genau sagen, weil es nur eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zu den Einstellungen der Eliten gibt und die ist von 2012. Sie enthält klare Aussagen zu Themen wie Steuern oder soziale Ungleichheit, aber natürlich noch keine zum Brexit oder zu Trump. Dazu gibt es nur plausible Vermutungen und Einzeleindrücke. So wird man hierzulande kaum einen Eliteangehörigen finden, der den Brexit begrüßt. Das ist verständlich, da der Brexit bei einer exportabhängigen Wirtschaft ganz sicher mit Einbußen verbunden sein wird. Beim Thema Trump ist die Einstellung der Elite schon weniger eindeutig. Zwar gibt es eine deutliche Mehrheit, die skeptisch und ablehnend reagiert, vor allem hinsichtlich Trumps Drohung weitere Zölle zu erheben. Auf der anderen Seite sind Trumps drastische Steuersenkungen etwas, das sich auch die deutsche Wirtschaftselite wünschen würde. Das heißt bei Trump gibt es schon ein uneinheitlicheres Bild.
Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern da – beispielsweise Frankreich oder den USA?
Man kann sagen, dass die französische Elite die exklusivste und sozial homogenste von allen Eliten in Industrieländern ist. Das liegt an der klaren Hierarchie der Bildungsinstitutionen und der Hierarchie der Ämter, die man durchlaufen haben sollte, um in Spitzenpositionen zu kommen. In Deutschland ist das nicht so. Hier stellt das Bildungssystem nur eine Art Grobfilter dar, auf den weitere Selektionsmechanismen folgen. Die USA haben, was die soziale Rekrutierung angeht, Ähnlichkeit mit dem deutschen System. Allerdings ist die wirtschaftliche Elite dort ein bisschen offener, weil es mehr Firmengründer und weniger Erben gibt. Die politische Elite ist dafür geschlossener als in Deutschland. In den USA sind aufgrund der Finanzierung der Wahlkämpfe und der schwachen Rolle der Parteien viel mehr Reiche in der politischen Elite als hierzulande. Grob lässt sich sagen, dass die Unterschiede in der sozialen Rekrutierung der Eliten in den Industrieländern nicht gravierend sind – mit Ausnahme Frankreichs, das stellt einen Sonderfall dar.
Es gibt eine zunehmende ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung.
Michael Hartmann
Wie sieht es mit Großbritannien aus, dort herrscht Brexit-Chaos. Würden Sie denn sagen, dass die politische Elite dort abgehoben ist?
Die gesamte politische Elite nicht, aber wenn man sich die Verantwortlichen für den Brexit anguckt, so trifft das ohne Zweifel zu. Die beiden Protagonisten des Brexit, Cameron und Johnson, haben die Auseinandersetzung um den Brexit geführt, als säßen sie in einem Debattierclub in Eton oder Oxford, wo beide waren. Keiner von beiden hat damit gerechnet, dass der Brexit eine Mehrheit bekommt, davon bin ich überzeugt. Sie hatten aber nicht den Hauch einer Vorstellung davon, dass es im Norden Englands weite Landstriche gibt, die so marode sind, dass es den Menschen dort völlig egal ist, ob ein EU-Austritt generell negative wirtschaftliche Konsequenzen hat. Sie kennen diese Welt nicht.
Und wie sieht es mit der Europäischen Union aus – ist das auch ein klassisches Elitenprojekt?
Bei der EU ging von Anfang an darum, einen großen Binnenmarkt zu kreieren. Insofern war das ein Elitenprojekt und das wäre ja an und für sich nicht dramatisch, wenn man insgesamt eine Politik betreiben würde, die für die Mehrzahl der Bevölkerung erkennbar positiv wäre. Das aber ist nicht der Fall, vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten. Allerdings wirkt es sich in den Ländern sehr unterschiedlich aus. Viele Jüngere in Deutschland verstehen nicht, wieso man der EU nicht positiv gegenüber steht. Denen rate ich, einmal mit Gleichaltrigen in Italien oder Griechenland zu sprechen. Die nehmen die EU nämlich völlig anders wahr. Sie ist für sie gleichbedeutend mit einer von den Deutschen aufoktroyierten Austeritätspolitik und hoher Jugendarbeitslosigkeit. Die Verdrossenheit über die EU speist sich also nicht aus der Tatsache, dass die EU ein Elitenprojekt ist, sondern aus der Tatsache, dass viele Entscheidungen, die in Brüssel getroffen worden sind, die EU unsozialer gemacht haben.
Ob in den USA oder in Deutschland, Populisten machen oft die Eliten für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich. Was steckt dahinter?
Die Grundlage für diesen Vorwurf ist meiner Meinung nach in den letzten Jahrzehnten durch eine zunehmend ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung gelegt worden. Das kann dann bei der einfachen Bevölkerung zu der Wahrnehmung führen, dass bei „denen da oben“ alles besser wird und es bei ihnen bestenfalls gleich bleibt oder aber schlechter wird. Es liegt nahe zu sagen, dass die, die in Elitepositionen sind und die wesentliche Entscheidungen treffen, dafür eine gewisse Verantwortung tragen. Der Rechtspopulismus greift das auf, verallgemeinert es allerdings und differenziert nicht mehr.
Wir haben in Deutschland keine sinnvolle und faire Besteuerung der Eliten.
Michael Hartmann
Wie sehen sie das?
Mir ist es wichtig zu sagen, dass hinter der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung eine bestimmte Politik steckt und nicht die Eliten per se. Vor ein paar Jahrzehnten hätte so eine populistische Politik in Deutschland überhaupt keine Chance gehabt. Denn damals hatten die Menschen zwar auch schon das Gefühl, dass die Reichen reicher werden, aber alle Anderen verbesserten ihren Lebensstandard eben auch. Erst seitdem diese Formel nicht mehr stimmt, kann man gegen die Eliten oder die Reichen überhaupt diese Form von Pauschalkritik üben.
Also haben wir in Deutschland keine faire und sinnvolle Besteuerung der Eliten?
Nein, haben wir nicht. Wir haben auf vielen Ebenen in den letzten 20 Jahren eine enorme Begünstigung der Reichen und Wohlhabenden erlebt. Das gilt einmal für die Steuerpolitik. Es gibt da eine ganze Liste von steuerlichen Beschlüssen bis hin zur Erbschaftssteuer. Gleichzeitig wird am unteren Ende der Bevölkerung die steuerliche Belastung größer. Nicht durch direkte Steuern, sondern durch indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer. Zum Vergleich: Die Abgeltungssteuer für Vermögenserträge und die Erbschaftssteuer haben im letzten Jahr zusammen knapp 14 Milliarden Euro erbracht. Die Tabaksteuer hat über 14,3 Milliarden erbracht. Das heißt, eine einzige indirekte Steuer auf ein einziges Produkt hat mehr erbracht als die Steuern auf Erbschaften und Vermögenserträge zusammen. Zweitens haben die Reichen und Wohlhabenden auch von der Deregulierung der Finanzmärkte profitiert, vor allem in Form stark gestiegener Aktienkurse und einer deutlich höheren Gewinnausschüttung.
Wie könnte die Macht der Eliten begrenzt werden?
Es gibt zwei Dinge, die parallel erfolgen müssten, und das macht es so kompliziert. Die Die Politik müsste sich in ihrer Grundausrichtung ändern, d.h. vor allem die Entlastung der hohen Einkommen und Vermögen müsste zurückgeschraubt werden, beispielsweise auf das Niveau der 1990er Jahre. Damit das funktioniert, bräuchte es aber eine andere Zusammensetzung der politischen Elite. Man müsste diesen Prozess, in dem die sie sich in ihrer Zusammensetzung von der Bevölkerung entfernt hat, zurückdrehen. Es müssen wieder mehr Menschen aus der durchschnittlichen Bevölkerung Zugang zur ihr haben. Das ist nicht unmöglich, aber schwer.
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