Zurückhaltend, aber aufmerksam sitzt der sportliche Mittvierziger im Café "Zimt und Zucker" in Berlin-Wilmersdorf. Doch die Schüchternheit währt nicht lange: "Das ist übrigens Othello", sagt Mario Röllig und stellt seinen kleinen schwarzen Hund - eine Mischung aus Mops und Terrier - vor. Davor hatte Röllig viele Jahre eine Mopshündin namens Daphne. "Die war auch irgendwie Teil meiner Geschichte", erzählt Röllig weiter und bestellt einen Milchkaffee.
Depressionen nach Stasi-HaftMario Röllig ist ein Betroffener des DDR-Regimes. Nach einem misslungenen Fluchtversuch kam er in ein Gefängnis der Stasi - dem Unterdrückungsorgan der Regierungspartei SED. Röllig hatte Glück und kam nach drei Monaten wieder frei, er durfte in den Westen ausreisen. Das Trauma blieb.
Zwölf Jahre später traf er einen ehemaligen Gefängnis-Mitarbeiter zufällig wieder. Als ihn Röllig auf seine Vergangenheit ansprach, erwiderte der frühere Stasi-Mann kalt: "Ja, na und?"
Röllig allerdings litt in Folge seiner schrecklichen Erlebnisse an Depressionen und versuchte sogar sich umzubringen. "Jetzt geht es mir besser. Auch, weil ich Ablenkungen habe, wie meinen kleinen Hund", sagt Röllig.
"Kämm' dir erstmal die Haare"Seine Kindheit verbrachte Röllig behütet am Berliner Stadtrand. Richtig begeistert war Röllig als 12-Jähriger von der Lagerfeuer-Romantik der Thälmann-Pioniere, der großen DDR-Jugendorganisation. Dort wurden das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, aber auch militärische Manöver-Spiele abgehalten. "Trotzdem wollte ich dazu gehören - bis ich selbst Probleme bekam", erzählt Röllig und blickt nachdenklich die Straße vor dem Café hinunter.
Obwohl Röllig ein unpolitischer Jugendlicher war, eckte er an. Zum Beispiel als er sich nach seinem Coming-Out mit 15 die Haare wie seine Pop-Idole Boy George und Falco gelte: "Kämm' dir erstmal die Haare vernünftig, bevor du bei uns mitmachst", sagte man ihm bei einer Veranstaltung der Freien Deutschen Jugend (FDJ), dem sozialistischen Jugendverband der DDR.
Auch die SED hatte ein Problem mit schwulem Leben. Denn die Szene hätte besonders schnell Kontakte in den Westen gehabt. So auch der junge Mario. Seinen ersten großen Schwarm lernte er mit 17 während einer Reise nach Budapest kennen. Mario und der 43-jährige Politiker aus West-Berlin trafen sich regelmäßig. Was sie nicht wussten: Auch in dem Ost-Berliner Hotelzimmer, das sie mieteten, filmten Stasi-Kameras.
"Wie in einem billigen Krimi"Bald besuchten ihn zwei Stasi-Mitarbeiter bei seiner Kellner-Arbeit im Flughafen Schönefeld. Sie forderten Mario auf, für sie zu arbeiten und Informationen über seine westliche Bekanntschaft weiterzugeben. Als Mario sich weigerte, boten sie ihm ein neues Auto und sofort eine Wohnung an. Die Wartezeit für eine Wohnung betrug für Alleinstehende zu der Zeit in Ost-Berlin acht Jahre. Dann gab Mario, der zuvor noch nie mit der Stasi zu tun hatte, die falsche Antwort: "Meine Wohnung soll in West-Berlin sein."
Wutentbrannt hätten die Stasi-Mitarbeiter das Gespräch beendet. Drei Wochen danach verlor Mario seine gut bezahlte Arbeit und musste einen Tellerwäscher-Job an einem S-Bahnhof annehmen. Auch sein Freund wurde ängstlich und beendete die Beziehung. Für den 19-jährigen Mario stand nun fest, dass er fliehen würde - über Ungarn nach Jugoslawien in den Westen - am 25. Juni 1987.
Keine Prügel, aber Psycho-FolterIn der Abend-Dämmerung rannte Mario los, rutschte aber vor den letzten Grenzschildern aus und wurde von einem bewaffneten ungarischen Bauern festgesetzt. Mario kam eine Woche ins Budapester Militärgefängnis. "Das war wie im Mittelalter. Kaum Essen und viel Prügel", erzählt Röllig heute. Gemeinsam mit acht anderen jugendlichen DDR-Flüchtlingen wurde Mario zurück nach Ost-Berlin und in das berüchtigte Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen gebracht.
Dass es Hohenschönhausen war, erfuhr Röllig erst, als er 1997 Einblick in seine Stasi-Akten erhielt. Ihr Aufenthaltsort wurde den Häftlingen nämlich verschwiegen. Das war nur ein Teil der Psycho-Folter, die ihn in den drei Monaten Einzelhaft erwartete: "Sie drehten die Heizung voll auf, in der Nacht durfte man nur auf dem Rücken liegen und selbst beim Gang auf die Toilette wurde man begleitet."
Heimat ist zusammengebrochen"Dort ist für mich das letzte Stück Heimat zusammengebrochen", sagt Röllig bedrückt. Nicht einmal übernachten könne er in seinem Ost-Berliner Elternhaus. "Hier in West-Berlin, in Wilmersdorf bin ich zu Hause", sagt er und deutet mit der Hand auf seinen Kiez.
Nach West-Berlin kam er mithilfe seiner Eltern, die Kontakt zu Bekannten im Westen aufnahmen. Diese informierten über einen Rechtsanwalt die Bundesregierung und so kam Röllig auf die Freikaufliste für politisch Gefangene. In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1988 durfte er die DDR verlassen. Als ihn sein Vater in der Nacht des Mauerfalls anrief, war Mario schockiert: "Die Mauer hat mich zwar von meiner Familie getrennt, aber auch vor den DDR-Funktionären geschützt."
"Die Mauer hat mich auch geschützt"Nun ist Röllig wieder an dem Punkt seiner Geschichte, an dem er seinen ehemaligen Vernehmer traf. Nach dem Ausbruch seiner Depressionen entschied er sich, in die Aufklärungsarbeit zu gehen. Er gibt Führungen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen und spricht als Zeitzeuge in Schulen und Universitäten. Am Tag der Deutschen Einheit wird er eine Rede bei einem internationalen Unternehmen halten.
Ein persönlicher Feiertag ist der 3. Oktober für Röllig nicht unbedingt. Auch, weil er um den 3. Oktober 1990 viele ehemalige SED-Angehörige in Berlin wiedertraf, die ihm wenige Jahre zuvor noch das Leben schwer machten: "Etwas älter, etwas fetter, aber wieder in besseren Positionen - als Abgeordnete oder Unternehmer."
Junge Menschen sind Teil der GeschichteJunge Menschen möchte er mit auf den Weg geben, dass sie ein Teil der Geschichte sind. In Berlin leben immer noch Täter und Opfer zusammen. Außerdem lohne es, sich für Demokratie einzusetzen. Röllig: "Lieber möchte ich in einer fehlerhaften Demokratie leben, als in einer perfekten Diktatur."