Der Wohnraummangel trifft Opfer von häuslicher Gewalt doppelt. Erst hindert er die Betroffenen an der Flucht, dann durchkreuzt er ihren Neuanfang.
München - Als die Polizei das erste Mal zu ihnen in die Wohnung kam, zeigte Jana ihren Ex-Mann noch nicht an. Ja, er war handgreiflich, verpasste ihr regelmäßig Ohrfeigen. Aber - damals ging es nur um ihren eigenen Körper. Ja, manchmal nahm er Jana Geld weg und ließ sie ohne Essen in ihrer gemeinsamen Wohnung zurück, in der sie die Fenster nicht öffnen durfte, die Jalousien herunterlassen musste und auf deren Boden sie schlief, weil er ihr eigene Möbel nicht erlaubte. Aber - damals ging es nur um ihr eigenes Leben.
Als er ständig rauchte, neben ihr und ihrem Schwangeren-Bauch, zwei Packungen am Tag, manchmal Shisha. Da wusste sie: Sie muss weg. Ein Richter verbot ihm, sich ihr zu nähern. Er hielt sich nicht daran und kündigte den Mietvertrag.
Jährlich finden rund 15.000 bis 17.000 Frauen mit ihren Kindern in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen Schutz, so die Zahlen des Bundesfamilienministeriums. Demnach erfährt jede vierte Frau mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Die Opfer von Partnerschaftsgewalt sind zu über 80 Prozent Frauen. Seit der neuesten Auswertung des Bundeskriminalamts ist auch klar: etwa die Hälfte von ihnen lebte mit dem Tatverdächtigen in einer gemeinsamen Wohnung. „Wir müssen davon ausgehen, dass sich viele nicht trennen können, weil Wohnraum nicht zu finden oder nicht finanzierbar ist", sagt Gisela Pingen-Rainer, Referentin für Gewaltschutz und häusliche Gewalt vom Sozialdienst katholischer Frauen.
Katharina Rosinger, die stellvertretende Leiterin der Interventionsstelle am Landratsamt München, geht in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung noch weiter: „Im Landkreis München trägt ganz konkret die Wohnungsnot* zur Gewalt bei. Dadurch, dass es keine Möglichkeit gibt, sich räumlich zu trennen, müssen viele Frauen in einer gewalttätigen Beziehung ausharren. Wenn genügend bezahlbarer Wohnraum da wäre, könnte man rechtzeitig einschreiten und einiges verhindern."
Jana lebt in München. Als ihr Ex-Mann den Mietvertrag kündigte, fand sie auf die Schnelle keine neue Wohnung, aber Unterschlupf im Frauenobdach Karla 51. Dort fragen fast täglich Frauen mit und ohne Kinder nach einem Schlafplatz, nachdem sie sich gezwungen sahen, die Familienwohnung aufgrund von Gewalt zu verlassen. Nicht alle Frauen, die anfragen, kommen auch unter.
Isabel Schmidhuber, die Leiterin des Münchner Frauenobdach Karla 51, fasst die Situation zusammen: „Wir bekommen jährlich um die 2000 Anfragen. Zirka zehn Prozent davon können wir aufnehmen. Im Jahr 2020 haben wir 212 Frauen mit 57 Kindern beherbergt. 18 Frauen waren bei der Aufnahme schwanger." Wie oft Schutzsuchende keinen Platz in Frauenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen bekommen, ist nicht bekannt. Eine zentrale Datenerfassung existiert nicht. Es ist aber klar, dass diese Fälle zur Realität in Deutschland gehören, denn es gibt zu wenig Frauenhäuser. "Wenn der Wohnungsmarkt vor Ort sehr dicht ist und es keine bezahlbaren Wohnungen gibt, dann wird der Auszug aus dem Frauenhaus für viele Frauen problematisch. Die Kostenträger machen teilweise richtig Druck, wenn der Aufenthalt länger dauert", sagt Gisela Pingen-Rainer, Referentin für Gewaltschutz und häusliche Gewalt vom Sozialdienst katholischer Frauen.
Der Europarat empfahl im Jahr 2006, dass auf 7500 gemeldete Personen ein Frauenhausplatz kommen sollte. Berlin (1,57) und Bremen (1,34) schaffen das. Alle anderen Bundesländer nicht. Bayern, Sachsen und das Saarland kommen nicht mal auf einen halben Platz. Die Werte beziehen sich auf das Jahr 2020 und wurden durch Correctiv.Lokal, einem bundesweiten Netzwerk aus Lokaljournalisten und Expertinnen, errechnet. Bekommen die Betroffenen einen Platz in einem der Frauenhäuser, ist die Suche noch nicht beendet.
Frauenhäuser sind Orte für Frauen, denen Gewalt angetan wurde. Ein Zuhause auf Zeit. Sie sind keine Unterkünfte für wohnungslose Frauen. Danach brauchen sie eigene Wohnungen. Und finden sie oft nicht. „Wenn der Wohnungsmarkt vor Ort sehr dicht ist und es keine bezahlbaren Wohnungen gibt, dann wird der Auszug aus dem Frauenhaus für viele Frauen problematisch. Die Kostenträger machen teilweise richtig Druck, wenn der Aufenthalt länger dauert", sagt Pingen-Rainer.
Der Verein Frauenhauskoordinierung gibt in seiner Bewohner_innen-Statistik 2020 an, dass die Wohndauer seit 2010 kontinuierlich ansteigt. Auch hier wird als einer der Gründe die schwierige Wohnungsmarktsituation angeführt. Am häufigsten liegt die Verweildauer aber immer noch unter einer Woche. 6,7 Prozent bleiben über sechs Monate. Für Pingen-Rainer ist das eine Zahl, die nicht weiter steigen sollte: „Das muss wirklich die Ausnahme bleiben. Wir sehen, dass das für die Frauen, die dort auf beengtem Raum leben sonst belastend ist. Es ist auch immer wichtig mit ihnen an einer Perspektive zu arbeiten."
Perspektive, Neuanfang, Chance - ohne eigene Wohnung bleiben diese Konzepte für die Betroffenen nur ein Hoffnungsschimmer. Kein eigenes Einkommen, fehlendes Wissen, Vorbehalte gegenüber alleinerziehenden Müttern, Rassismus. Die Liste an Hindernissen, die zwischen den Frauen und ihren eigenen Wohnungen stehen, ist laut Pingen-Rainer lang. Nach der Statistik des Vereins Frauenhauskoordinierung kehrte im Jahr 2020 jede fünfte Frau nach dem Frauenhausaufenthalt in die ehemalige Wohnung zur misshandelnden Person zurück. Das liegt auch daran, dass die Frauen bei der Wohnungssuche wiederholt scheitern. Um die Situation zu entschärfen, gibt es seit einigen Jahren sogenannte Second Stage Projekte. Diese Projekte versuchen Betroffene gezielt in den Wohnungsmarkt zu vermitteln und sie in der Nachberatung zu unterstützen.
Janas Sohn ist mittlerweile acht Monate alt. Während Jana ihre Geschichte erzählt, quietscht er immer wieder in ihre Worte hinein. Die Aufnahme ist auf der Webseite aktionkarla.wordpress.com des Frauenobdach, bei dem Jana Obdach gefunden hat, zu hören. Zum Schutz wurde ihr Name und ihre Stimme anonymisiert[1]. Zusammen mit dem Jugendamt sucht sie immer noch eine Wohnung für sich und ihren Sohn. Gegen Ende fragt eine Mitarbeiterin des Frauenobdach, was Jana sich denn am meisten wünschen würde: „Ein normales Leben, wie alle Mütter halt."
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