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Wohnungsloser wird Opfer eines sozialen Projektes

So sah die Pfandsammeltonne aus. [Foto: Laura Lindemann]

Jörg lebte lange Zeit auf der Straße. Gemeinsam mit dem ehrenamtlichen Projekt namens Enactus, sollte er an der Universität Duisburg-Essen (UDE) eine Pfandsammeltonne leeren, die ihn unterstützen sollte. Doch das Projekt scheitert hinter seinem Rücken und wirft viele Fragen auf.

„Hab mir 'nen neuen Schirm gekauft." Jörg stellt den großen, roten Regenschirm neben sich ab. Ein kurzes Lächeln huscht über sein hageres Gesicht. Dann kramt er in seinem Rucksack, der aussieht, als hätte er schon einige Wetter mitgemacht. „Da haben sie mir schon wieder ihre Kippe ausgedrückt. Sauerei sowas", schimpft er und zeigt auf ein schwarzes verkohltes Loch in seinem Rucksack. Heute Nachmittag hat Jörg frei. Sonst verkauft er Zeitungen auf der Straße. „Seit 2004 verkaufe ich alle Obdachlosenzeitungen und habe auch alle Ausweise dafür", sagt er und zieht eine Mappe aus seinem Rucksack. FiftyFifty, Straßengazette und Ruhrstadtbote. „Die verkaufe ich in Essen, Hattingen und Köln. Da wo ich eben gerade bin."

Der 52-jährige ist gelernter Schweißer, Lagerfacharbeiter, Kranführer, Glasreiniger und Maler und Lackierer. „Ich habe sogar einen Gabelstaplerschein. Aber mit dem Parkinson darf ich keine Maschinen mehr bedienen. Wenn die Arbeitgeber das hören, kann ich direkt wieder gehen", erzählt Jörg. Ein paar Mal die Woche geht er zu den FairSorgern Essen e.V. Dort bekommt er Essen und Getränke, unterhält sich mit den Betreuer*innen und anderen Bedürftigen.

Hier ist Jörg auf Enactus UDE aufmerksam geworden. „Im September 2018 erhielten wir eine Mail von einem Enactus-Mitglied, in der uns das Projekt 'Spende deinen Pfand' vorgestellt wurde", erzählt Judith Schüning, die bei den FairSorgern für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Das Projekt solle die Uni ökologischer gestalten und Obdachlosen eine Einnahmequelle sichern.

Das Projekt Enactus

Enactus UDE agiert mit zwölf Mitgliedern unter dem Dachverband Enactus Germany. Diese Organisation setzt sich aus den Worten Entrepreneurial. Action. Us. zusammen. Studierendengruppen können unter dem Namen Enactus an der jeweiligen Hochschule gemeinnützige Organisationen gründen, die sich langfristig selbst organisieren und finanzieren sollen. Denn die Refinanzierung gehört zu den Enactus-Kriterien dazu. In Deutschland sind bereits 36 Hochschulen vertreten. Einmal im Jahr treffen die Gruppen beim sogenannten National Cup aufeinander und präsentieren ihre Projekte vor einer Jury. Das Gewinnerteam vertritt dann Enactus Germany beim internationalen Enactus World Cup.

Für das von Enactus UDE geschilderte Projekt hatte Schüning direkt Jörg im Kopf. „Er ist sehr zuverlässig und ambitioniert und würde diesen Job regelmäßig und gewissenhaft übernehmen." Ein Mitglied bei Enactus UDE* erläutert das Projekt an der Uni nämlich so: „Wir haben eine Pfandsammeltonne vor der Mensa am Campus Essen bereit gestellt, die mit einem Schloss versehen ist. Den Schlüssel dazu möchten wir Jörg geben, damit er regelmäßig den Pfand aus der Tonne leeren kann."

Nachdem die Studis im November 2018 bei einer Tour dabei waren, Nummern austauschten und versicherten sich zu melden, hörte Jörg ein halbes Jahr lang nichts mehr von ihnen. „Er fragte bei uns immer wieder nach, ob etwas angekommen sei", sagt Schüning.

In dieser Zeit hätte Jörg die zusätzliche Einnahmequelle am meisten gebraucht. „Da war ich noch obdachlos und habe draußen in einem Zelt gepennt. Anfang Januar wurde ich von zwei Nazis auf der Straße zusammengeschlagen, weil die irgendwas von Adolf Hitler faselten und ich nicht darauf eingegangen bin", erzählt Jörg und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. „Nachdem ich dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kam ich in ein Männerwohnheim hier in Essen." Seitdem geht es Jörg zwar besser, dennoch reichen seine Einnahmen nicht aus. „Ich bin Opa geworden. Ich möchte meiner Tochter und dem Enkelkind etwas bieten können und immer erreichbar sein." Er deutet lächelnd auf das alte, verbeulte Tastenhandy neben sich auf dem Cafétisch.

Leere Versprechungen

Erst ein Dreivierteljahr später, im August 2019, kam es zu einem erneuten Treffen. Dort wurde abgemacht, dass Jörg die ersten sechs Monate das Pfandgeld komplett behalten darf. Ab dann sollte er 35 Prozent abgeben und genau melden, was er sonst noch verdient. Nach diesem Treffen hörte er erstmal wieder nichts von Enactus. Grund seien Probleme mit der Verwaltung gewesen, da die Tonne erst genehmigt werden musste. „Sonst hätten wir sie schon früher aufgestellt", versichert das Enactus-Mitglied.

Außerdem sei es gar nicht so einfach gewesen, die Tonne herstellen zu lassen. „Es mussten Erkennungssticker drauf, dann brauchte man innen ein abfederndes Material, damit Glasflaschen in der Tonne nicht zerspringen und ein Schloss. Das hat uns über 100 Euro gekostet, die wir erst einmal wieder reinkriegen mussten." Deshalb behielt das Team die Einnahmen in den ersten Monaten für sich. Von dieser sogenannten „Testphase" bekam die Öffentlichkeit allerdings nichts mit. Auf Facebook wurde dafür geworben, den Pfand an einen Obdachlosen zu spenden und auch an der Tonne selbst wurde kein Hinweis vermerkt.

„Aber zum Verarschen bin ich zu alt. Man kann mir ja sagen, dass das nichts wird. Aber mich zappeln lassen und einfach nicht mehr ans Telefon gehen?" Jörg zündet sich eine weitere Zigarette an. „Das ist kein Ausnutzen, das ist ein Benutzen. Die haben mir schließlich viele persönliche Fragen gestellt und ich habe mich geöffnet. Das macht man ja auch nicht einfach so."

Projekt löst sich auf

Mitte November 2019 war die Tonne plötzlich aus dem Vorraum der Mensa verschwunden. Nach mehreren Nachfragen der akduell, reagierte schließlich Maximilian Jung, noch Mitglied von Enactus. „Unser Team ist mittlerweile um 80 Prozent geschrumpft, wir haben keine Perspektive mehr. So auch nicht für die Tonne", sagt er. „Ich schäme mich dafür, wie die Sache mit Jörg gelaufen ist und muss meine Fehler eingestehen. Durch die vielen Mitgliedswechsel ist die Kommunikation fehlgeschlagen und niemand hat sich so richtig in der Verantwortung gesehen." Das interne Chaos habe sich nach außen gespiegelt.

Mit Schüning verabredete er sich, um Jörg einen übrig gebliebenen Betrag von 30 Euro zu geben und sich im Namen des Teams zu entschuldigen. Auch weist er darauf hin, dass der AStA im Gespräch sei, die Tonne zu übernehmen. Schüning ist über den Vorfall erbost: „Uns erscheint das Ganze wie Betrug. Ein soziales Projekt völlig ohne Empathie für die Menschen, denen es dienen soll, durchzuführen ist in unseren Augen ein absolutes NoGo!"

* Wir haben den Namen auf Wunsch des damaligen Enactus-Mitglieds in der Online-Version rausgelassen, da die Person vorweisen kann, zum Zeitpunkt des Interviews inaktiv gewesen zu sein und nichts davon gewusst zu haben, dass kein Kontakt mehr zu Jörg besteht.
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