Kann ein geistig behindertes Kind aufs Gymnasium? Der Streit um den elfjährigen Henri mit Down-Syndrom hatte die Frage aufgeworfen. Der Fall von Larissa zeigt: Es geht.
Larissa schüttelt den Kopf und hält den Basketball fest in ihren Händen. "Du wirfst den Ball der Jasmin so zu, dass er vorher einmal den Boden berührt", wiederholt Sportlehrer Christian Wiese. Ihre Mitschüler schauen zu. "Nein, nein, nein", sagt Larissa. Sie wird den Ball nicht loslassen. Eine Mitschülerin übernimmt. "Willst du eine kleine Pause machen?", fragt der Sportlehrer das Mädchen. Larissa schweigt.
Larissa Krol, 15 Jahre, hat das Downsyndrom. Seit drei Jahren besucht sie das Kurt-Schwitters-Gymnasium in Hannover, eine Regelschule mit zwei Inklusionsklassen: die 5 a und die 7 a. Larissa geht zusammen mit drei weiteren geistig beeinträchtigten Kindern in die Siebte. Es ist die Art von Inklusion, die sich Henris Eltern aus dem baden-württembergischen Walldorf für ihren Sohn wünschen. Der Fall des elfjährigen Downsyndrom-Schülers sorgt für Schlagzeilen. Die Eltern wollen den Jungen aufs örtliche Gymnasium schicken, doch die Schule weigert sich, ihn aufzunehmen. Auch eine Realschule hat mittlerweile abgelehnt. Der Fall erregt die Gemüter: Wo beginnt Inklusion - und wo stößt sie an ihre Grenzen?
Der baden-württembergische Kultusminister Andreas Stoch (SPD) will die Entscheidung der Schule nicht aufheben. Dabei gilt in Deutschland seit März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention. Alle Kinder mit Behinderung haben seitdem das Recht auf eine inklusive Schulbildung. Die Realität in Deutschland sieht anders aus: Nur 5,5 Prozent der Schüler mit Förderbedarf besuchen ein reguläres Gymnasium, weitere 4,3 Prozent eine Realschule. Liegt der Inklusionsanteil im Kindergarten noch bei 67 Prozent, schrumpft er laut einer Bertelsmann-Studie von 2013 in der Grundschule auf 39 Prozent. Anders formuliert: Im Kindergarten malen Behinderte und Nichtbehinderte noch zusammen, in der Schule werden sie getrennt.
"Auch Larissa war zuerst auf einer Förderschule", erzählt Mutter Therese Krol. "Aber ich wollte unbedingt, dass sie mit normalen Kindern zur Schule geht." Die 54-jährige gelernte Bürokauffrau bleibt lange Zeit hartnäckig, hört sich um, bohrt nach. "Eltern behinderter Kinder sind selbstbewusster geworden", sagt sie. "Wir fordern endlich unsere Rechte ein, die uns mit der UN-Behindertenkonvention gegeben wurden." Eines Tages, im Dezember 2010, ruft Krol zusammen mit dem Behindertenverein "Mittendrin" den Schulleiter Winfried Baßmann an, fragt nach, ob er das Kind mit Downsyndrom im Schuljahr 2011 am Kurt-Schwitters-Gymnasium aufnehmen würde.
Dreieinhalb Jahre später sitzt Winfried Baßmann in seinem Büro, er hat Larissas Zeugnisse aus den Ordnern geholt und auf dem Tisch verteilt. "Insgesamt hat Larissa eine erfreuliche Sozialentwicklung innerhalb der Klasse gemacht", steht in einer Bewertung. Er blickt zufrieden. Zwei Jahre bevor die Inklusion behinderter Kinder 2013 in Niedersachsen verpflichtend wird, nimmt Baßmann das Mädchen an der Schule auf. "Ich habe über die Entscheidung nicht lange nachdenken müssen, nur musste ich noch die anderen überzeugen, dass Inklusion bei uns möglich ist." Die anderen, damit meint der Schulleiter Lehrer, Eltern, Schüler. Viele sind zunächst skeptisch, teilweise auch ängstlich. Kann das funktionieren?
Um kurz vor zwölf ist der Sportunterricht vorbei, die 7 a sitzt mittlerweile im Musikraum. Larissa, ein Mädchen mit dunklen Haaren, Brille und buntem Stirnband, steckt sich eine Spange ins Haar. "Verteilst du bitte die Musikbücher", sagt Franziska Jaap. Sie teilt sich mit Sportlehrer Christian Wiese die Klassenleitung. Larissa legt die Spangen auf den Tisch, steht auf, holt die Bücher aus dem Schrank, drückt jedem aus der Klasse eins in die Hand. Dicht hinter ihr: Erzieherin Sarah Knigge. Die 24-Jährige begleitet die Schülerin durch den Schulalltag. Die anderen geistig behinderten Kinder haben ebenfalls sogenannte Einzelfallhelfer an ihrer Seite. Eine Sonderpädagogin und eine pädagogische Mitarbeiterin sind zusammen 35 Stunden die Woche an der Schule tätig. In jeder Schulstunde sitzen somit zusätzlich zur Lehrkraft noch drei weitere Mitarbeiter im Raum. "Für manche Lehrer ist diese Transparenz eine unangenehme Vorstellung", sagt Christian Wiese und lacht. Es ist eine Begleiterscheinung der Inklusion, die manchen Lehrern vielleicht mehr Angst macht als die Inklusion selbst. Der Unterricht wird permanent beobachtet, bewertet. Manche Eltern sind von der Anwesenheit der vielen Erwachsenen in der Klasse ebenso wenig begeistert. Können die Kinder Kinder sein, wenn ständig Pädagogen umherschwirren?
Die beiden Klassenlehrer empfinden die zusätzlichen Mitarbeiter als große Entlastung. "Anders würde es nicht funktionieren, wir würden sonst draufgehen", sagt Franziska Jaap. Auf inklusiven Unterricht hat man die jungen Lehrer, beide Anfang 30, im Studium nicht vorbereitet. Als Larissa in der Fünften das einzige Kind mit Behinderung war, wurde die Klasse nur fünf Stunden die Woche von einer Sonderpädagogin unterstützt. "Das war einfach viel zu wenig", sagt Wiese. "Da bin ich wirklich an meine Grenzen gestoßen."
Aus den Boxen im Musikraum dröhnt ein Lied von Adel Tawil. "Ich ging wie ein Ägypter, hab mit Tauben geweint." Die meisten Kinder singen mit, einige summen nur die Melodie. Musiklehrerin Jaap erklärt, was Akkorde sind. Ein paar Jungen quatschen dazwischen, sind laut, machen Faxen. Pubertät eben. Larissa ist ruhig und konzentriert, auf ihre Art. Früher hat sie im Unterricht noch mit Sachen umhergeworfen, sich unter dem Tisch versteckt. Das hat aufgehört. Während ihre Mitschüler von der Tafel abschreiben, darf Larissa auf dem Xylofon spielen.
Zieldifferentes Lernen nennt sich das Konzept. In Mathe zum Beispiel lernen die Schüler Bruchrechnung, die geistig beeinträchtigten Kinder lösen Aufgaben, die sie bewältigen können. Unterschiedlicher Stoff, unterschiedliches Tempo. Die Übungen werden für die sogenannten I-Kinder vorab erstellt. "Klar, der Zeitaufwand, um eine Unterrichtsstunde vorzubereiten, ist größer als in anderen Klassen", sagt Lehrerin Franziska Jaap. Zusammen mit ihrem Kollegen hat sie Fortbildungen besucht, gelernt, eine inklusive Schulstunde zu gestalten.
"Komm, komm!", ruft Larissa. Sie will ihrer Einzelfallhelferin Sarah Knigge auf dem Xylofon etwas vorspielen. Die Erzieherin ist Larissas Bezugsperson, ihre Vertraute. Manchmal kuschelt die Schülerin in den Pausen mit ihr. Knigge weiß das Mädchen zu deuten, kennt seine Launen. "Wenn Larissa etwas nicht will, dann bockt sie eben." So wie heute Morgen im Sportunterricht. Dennoch war heute ein guter Tag. Larissa hat in der Früh drei Mathe-Blätter geschafft. "Mathe", sagt Larissa fröhlich. Das ist ihr Lieblingsfach.
Jeden Tag schreibt Erzieherin Sarah Knigge einen kurzen Bericht, der nachmittags von Mutter Krol gelesen wird. Noch bis Ende des Schuljahres wird Knigge das Mädchen unterstützen, mit ihm lernen, es motivieren. Danach kommt jemand Neues. Bis zur zehnten Klasse wird ein Einzelfallhelfer Larissa begleiten.
"Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif", sagt Schulleiter Winfried Baßmann. Das Gymnasium musste Rahmenbedingungen schaffen: mehr Personal, neue Lehrmaterialien, ein Raum, in den sich die behinderten Schüler zurückziehen können. All das kostet. Nordrhein-Westfalen diskutiert derzeit, wie die Inklusionskosten finanziert werden sollen. Ab dem Schuljahr 2014/2015 soll es in NRW inklusiven Unterricht geben. Die Kommunen als Schulträger wollen die Kosten für Umbauten und Personal alleine nicht stemmen. Mit 175 Millionen Euro will sich die Landesregierung in den ersten fünf Jahren an den Kosten beteiligen. Selbst wenn die Mittel der derzeitigen Förderschulen in Deutschland weitgehend zu den Regelschulen umgeschichtet würden, bräuchte es bundesweit jährlich 660 Millionen Euro für 9.300 zusätzliche Lehrkräfte. Oft scheitert Inklusion an der Kassenlage der Kommunen.
Die Stadt Hannover hat sich kooperativ gezeigt. Sie zahlt unter anderem das Taxi, das Larissa morgens abholt und mittags wieder heimfährt. "Natürlich werde ich oft gefragt, warum ich mein behindertes Kind aufs Gymnasium schicke", erzählt Therese Krol. Wird Larissa dort nicht überfordert? Muss sie nicht jeden Tag spüren, dass sie anders ist, dass sie nicht mithalten kann?
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, äußert sich in der Debatte skeptisch zum Thema Inklusion geistig Behinderter: "Es ist die Frage, ob es wirklich im Interesse des Kindeswohls ist, ein Kind auf eine Bildungslaufbahn zu schicken, wo es auf kurz oder lang eine Enttäuschung nach der anderen erfährt." Kraus, Onkel eines 24-Jährigen mit Downsyndrom, sagt: "Mein Neffe wäre in einer Regelschule untergegangen." Larissas Eltern hingegen sagen, für ihre Tochter sei es gut, wenn sie mit normalen Kindern unterrichtet wird. Henris Eltern sagen, für ihren Sohn sei es gut, wenn er mit den Freunden zur Schule gehen kann. Beide Familien wollen das Kind auf einem Gymnasium sehen, auch wenn es dort nie Abitur machen wird. "Larissa wird ja nicht einmal einen Hauptschulabschluss schaffen, auf gar keiner Schule", sagt Mutter Krol. Sie ist gegen das System der Förderschule, glaubt, dass Larissa auf dem Gymnasium besser lernt. Der Sprachschatz der 15-Jährigen habe sich vergrößert, ihre Fähigkeiten und ihr Verhalten hätten sich verbessert.
Eine neue Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegt: Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an einer Regelschule unterrichtet wurden, weisen höhere Leistungen auf als Schüler in Förderschulen. Doch inwieweit profitieren die nichtbehinderten Schüler von inklusivem Unterricht? Werden sie nicht eher in ihrem Lerntempo gebremst, weil sie Rücksicht auf die Schwachen nehmen müssen? Leiden nicht letztlich die Noten?
"Manche Eltern hatten anfangs Angst, dass der Unterricht an Qualität verliert", sagt Schulleiter Baßmann. Auch ein Mitschüler von Larissa erzählt: "Als meine Eltern erfuhren, dass nun auch ein Autist in die Klasse kommt, wollten sie mich von der Schule nehmen." Er kann seine Eltern überzeugen, ihn in der Inklusionsklasse zu lassen. Die Frage, ob er denn ein Problem mit den I-Kindern hätte, verneint er: "Nö, ist eigentlich normal." Die anderen Mitschüler reagieren ähnlich, zucken teilweise die Schultern. "Also mit Larissa bin ich immer gut klargekommen", sagt eine Mitschülerin. Man gewöhne sich schnell dran. Manchen scheint es auch gleichgültig zu sein, dass vier Mitschüler eine Behinderung haben. "Die sind halt da."
Winfried Baßmann ist überzeugt: Inklusion lehrt Kinder Rücksicht und Toleranz. "Ein Gymnasium ist längst keine reine Lehranstalt mehr, sondern es geht auch darum, den Schülern soziale Kompetenzen zu vermitteln." Bislang wurde kein behindertes Kind am Kurt-Schwitters-Gymnasium abgewiesen. Geistig Beeinträchtigte seien prinzipiell "gut inkludierbar", so der Schulleiter. Ablehnen würde die Schule hingegen schwerstbehinderte Kinder, die gewindelt werden müssen und nicht sprechen können. Für solche Fälle haben Regelschulen keine Kapazitäten. Ein Kind mit Downsyndrom, so wie Larissa, würde Baßmann jedoch wieder aufnehmen.
Mittlerweile hat sich auch die anfängliche Skepsis der Eltern gelegt: Die Inklusionsklasse schneidet im Vergleich mit den Parallelklassen im Notendurchschnitt am besten ab. Therese Krol glaubt daher, dass die leistungsschwachen Schüler am meisten von der Inklusion profitieren. Die Lehrer seien stärker darauf geschult, die Schüler individuell zu betrachten, sie seien aufmerksamer. Erzieherin Sarah Knigge hat eine andere Erklärung: "Wenn die anderen Kinder den Stoff nicht verstehen, können sie drei weitere Ansprechpersonen fragen. Das haben andere Klassen nicht."
13.10 Uhr, ein lautes Schellen hallt durch die Flure des Kurt-Schwitters-Gymnasiums. Der Unterricht ist zu Ende. Larissa Krol packt ihre Sachen zusammen, sie kann nach Hause gehen. Im heutigen Bericht wird stehen: Mathe und Musik gut, Sport so lala. Klingt nach einem ziemlich gewöhnlichen Schultag.