Laura Aha

Freie Journalistin, Berlin

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Feature

Lip Sync for Your Life: Eine Geschichte der Unerhörten

Der Verlust der eigenen Stimme ist ein zentrales Motiv in Rusalka. Sie tauscht ihre Stimme gegen ein vermeintlich besseres Leben bei den Menschen ein. Die Waldnymphen performen ihre eigene Stimmlosigkeit wiederum als Drag Show mit Lip-Sync-Elementen. Dahinter steckt mehr als ein buntes Spektakel. Denn die Geschichte des Lip Syncings ist eine von Unterdrückung, Widerstand und radikalem Selbstausdruck.

 

Es ist das Highlight am Ende jeder Folge von RuPauls Drag Race: das Lip-Sync-Battle. In der US-amerikanischen Reality-Show treten seit 14 Staffeln Drag Queens um den Titel „America’s Next Drag Superstar“ gegeneinander an. Vor den Augen einer Jury, in der auch Showmaster RuPaul Andres Charles alias RuPaul sitzt, entscheidet sich, wer von den Kandidat*innen bleiben darf  oder gehen muss. Jedes Lip-Sync-Battle wird von RuPaul mit der Aufforderung gestartet: Lip Sync for Your Life!

 

Denn darum geht es ganz buchstäblich, wenn man sich mit der Geschichte von Drag beschäftigt: Es ist ein Kampf ums Überleben. Denn auch wenn RuPaul Drag ins Mainstream-Fernsehen gebracht und so anschlussfähig gemacht hat, dass 2019 mit Heidi Klums „Queen of Drags“ sogar hierzulande ein Ableger der Show zur Primetime in deutschen Wohnzimmern lief, wurden Drag Queens und Kings die längste Zeit kriminalisiert, unterdrückt und an die gesellschaftlichen Ränder gedrängt. Dabei war Drag schon immer eine progressive Kunstform, mit der gesellschaftliche Normen infrage gestellt und bewusst übertreten wurden.

 

„Die Geschichte des Drag (...) ist voll von talentierten Darsteller*innen und Künstler*innen aller Art – Schauspieler*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen, Impressionist*innen und Komiker*innen“, schreiben Tom Fitzgerald und Lorenzo Marquez in Legendary Children. The First Decade of RuPaul’s Drag Race and the Last Century of Queer Life. Darin analysieren sie den Einfluss der Show auf die heutige LGBTQ*-Szene. Gleichzeitig interpretieren sie RuPaul’s Drag Race als „Museum queerer Kultur und Sozialgeschichte“. Denn eine systematische queere Geschichtsschreibung gibt es kaum. Zu lange wurde queeres Leben verfolgt und musste im Untergrund stattfinden: in illegalen Bars, dunklen Parkanlagen oder Privatwohnungen.

 

Vermutlich gab es Vorläufer von Drag auf der ganzen Welt, zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte. Die ersten dokumentierten Anfänge des Cross-Dressings finden sich im britischen Renaissance Theater, im französischen Vaudeville und Varieté, sowie in den US-amerikanischen Minstrel Shows. Diese Bühnen boten LGBTQ* -Performer*innen, denen Jobs in der „echten Welt“ oft verwehrt blieben, einen geschützten Raum, um Geld zu verdienen. Doch sie waren auch utopische Möglichkeitsräume radikalen Selbstausdrucks. Orte, an denen das, was gesellschaftlich nicht sein durfte, dargestellt werden konnte. „Bei Drag geht es darum, sich voll in die eigene Künstlichkeit hineinzulehnen und sie gleichzeitig absolut real erscheinen zu lassen“, schreiben Fitzgerald und Marquez.  

 

Drag erhebt die Künstlichkeit zur Kunst und stellt binäre Genderkategorien infrage. Drag Kings spielen dabei mit Männlichkeits-Klischees. Präsenter in den Medien und auch der Literatur sind allerdings die Drag Queens, weshalb sich im Folgenden auch vorwiegend auf die „female impersonation“ bezogen wird.  Ob mit schrillem Makeup, riesigen Perücken oder ausgestopften BHs – Weiblichkeit wird hierbei überzeichnet. Die Aneignung einer weiblichen Stimme durch Lip Syncing kann dabei als weiteres Werkzeug betrachtet werden. Doch damit Lip Syncing in Drag Shows überhaupt als Technik aufgegriffen und zur eigenen Kunstform werden konnte, musste es erst einmal erfunden werden.

 

Die Erfindung des Lip Syncs: Von Hollywood bis Milli Vanilli

 

Rein technisch entstanden die Möglichkeiten des Lip Syncings Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Tonfilms. Bei der Produktion des Hollywood Musical Films The Broadway Melody kam man 1929 zur Verbesserung der Tonqualität erstmals auf die Idee, die Schauspieler*innen über eine voraufgezeichnete, separat eingespielte Tonspur spielen und singen zu lassen und diese erst nachträglich dem Bild zu unterlegen. Der erste Lip Sync war geboren. Der 1952 erschienene Musicalfilm Singing in the Rain reflektiert diesen technischen Kniff des Kinos sogar in der Handlung: Die wenig talentierte Lina lip-synct zum Gesang von Kathy, die hinter dem Bühnenvorhang versteckt steht. Als dieser beiseite gezogen wird, flieht die gedemütigte Lina von der Bühne, während Kathy als „der wahre Star“ präsentiert wird.

 

Auch abseits der Kinoleinwand hält Lip Sync Einzug in die Musikwelt. In den 1960ern kommen Scopitone auf den Markt, eine Art Jukebox für Bars, die kurze Videoclips abspielt. Zu berühmten Songs werden kurze Musikvideos gedreht, in denen die Sänger*innen zu ihren eigenen Songs lip-syncen. Die Performance rückt in den Vordergrund, was in der Folge ganz neue Möglichkeiten der Bühnenshows ermöglicht. Spätestens 1981 mit dem Start von MTV und der Popularisierung des Musikvideos wird Lip Sync normalisiert und als Stilmittel genutzt: George Michael lässt etwa im Video zu „Freedom“ Supermodels wie Cindy Crawford oder Naomi Campbell zu seiner eigenen Gesangsspur lip-syncen.

 

Trotzdem erzeugt Lip Syncing immer wieder auch echte Skandale – Mariah Carey, Britney Spears und Beyoncé können davon buchstäblich ein Lied singen. Den größten Lip-Sync-Skandal der Popgeschichte dürfte 1990 aber wohl das Disco-Pop-Duo Milli Vanilli ausgelöst haben. Ihr Vergehen: Sie hatten es gewagt zu Musik zu lip-syncen, die sie nicht mal selbst eingesungen hatten. New Hampshire führt 1993 als erster Staat tatsächlich ein „Lip Sync Disclosure“-Gesetz ein. „Die Öffentlichkeit mag ,fake’ Lip Sync nicht“, schreiben Fitzgerald und Marquez in Legendary Children. Doch dieses ,fake’ Lip Sync ist genau das, was Drag Lip Sync im Kern ausmacht.

 

Lip Sync im Drag: Diven und Street Fairies

 

Da Drag von den USA aus seinen internationalen Siegeszug in den medialen Mainstream antrat, fokussiert sich dieser Text insbesondere auf die dortigen Entwicklungen. Tatsächlich gibt es auch innerhalb dieser Drag-Community anfangs Vorbehalte gegenüber der Praxis des Lip Syncings. Aus der Tradition des Varieté-Theaters erwachsen, gehörte zur Drag-Performance klassischerweise Tanz, humoristische Sketche, Witze erzählen und eben: der Live-Gesang. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gibt es in den USA noch offizielle Drag Shows und mit dem Finocchio’s in San Francisco und dem Garden of Allah in Seattle Orte, an denen Drag Shows öffentlich stattfinden. Diese werden nach der Great Depression und dem Zweiten Weltkrieg auch von einem heterosexuellen Publikum frequentiert. Der Aufstieg des konservativen McCarthyismus in der Anfangsphase des Kalten Kriegen führt jedoch zu einer kulturellen Paranoia, die Unterhaltungsformen abseits des Mainstreams nach und nach in die Illegalität und den Untergrund verdrängt.

 

Es ist kein Zufall, dass genau in dieser Zeit das Lip Syncing an Bedeutung gewinnt. Mit dem Einzug von Jukeboxes und Plattenspieler in die Bars steigt die Zahl der so genannten „Record Acts“, also Drag Queens, die zu Platten performen. Für Bars sind diese Record Acts günstiger als die Live-Performer*innen, die häufig auch von Live-Bands begleitet werden müssen. Mit der Schließung offizieller Spielorte in den 1950ern werden die Record Acts oft zur einzigen praktikablen Möglichkeit überhaupt eine Show auf private, häufig illegale Bühnen zu bringen. Lip Sync gewinnt an Bedeutung –  und macht aus der Not eine Tugend.

 

Die Anthropologin Esther Newton ist eine der ersten, die die Drag-Szene der 1960er in den USA wissenschaftlich untersucht. Ihr 1972 veröffentlichtes Buch Mother Camp. Female Impersonators in America ist zu einem Schlüsselwerk queerer Geschichtsschreibung geworden und eine der wenigen ethnografischen Dokumentationen der Szene dieser Zeit. Über zwei Jahre betreibt Newton Feldforschung und interviewt zahlreiche Drag Perform*innen in lauten Bars, chaotischen Umkleidekabinen und vor Schminkspiegeln in billigen Apartments oder Stundenhotels.

 

Newton unterscheidet zwischen „stage performers“ und „street fairies“. Erstere zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihre Arbeit auf der Bühne als Kunst verstünden und diese auch als „Beruf mit Zielen und Standards“ anerkannt und (relativ) respektiert würden. Solche „stage performers“ schauten häufig auf die „street fairies“ herab. „Street fairies“ seien Newton zufolge niemals „off stage“. Sie streiften sich ihre Drag Persona also nicht nur für die Bühne über. Sie lebten sie konstant und dadurch außerhalb der Gesellschaft. Häufig bleibt ihnen zum Überleben nur die Prostitution – oder die Bühne. Für die „street fairies“ ist das Aufkommen des Lip Syncings eine Chance: Die Bühne wird demokratisiert und auch für jüngere, weniger professionell ausgebildete Performer*innen von niedrigerem sozialen Status zugänglich. Man muss nicht mehr singen können wie Diana Ross. Man muss sie nur bestmöglich performen.

 

Lip Syncing ist damit auch Ausdruck eines kreativen Umgangs mit dem Mangel. Man arbeitet mit dem, was man hat und braucht kaum mehr als den eigenen Körper, um Kunst zu machen – eine Strategie, die man aus zahlreichen Subkulturen kennt. Zum Beispiel aus dem Hip Hop, wo man mit Breakdance oder Beatboxing neue Ausdrucksformen fand, über vorhandene Beats auf Schallplatten rappte, aus musikalischen Versatzstücken dank Sampling neue Tracks zusammenbaute oder durch das Zusammenmischen zweier Platten beim DJing einen völlig neuen Sound kreierte. Nicht zufällig bezeichnen Fitzgerald und Marquez Lip Sync auch als „Remix“: 

 

„Bei einem guten Lip Sync geht es nicht nur um Künstlichkeit. Ein*e talentierte*r Lip-Sync-Performer*in drückt damit seine*ihre eigene Wahrheit aus, unabhängig von der ursprünglichen Absicht des Songs. Ein*e wirklich meisterhafte*r Lip-Sync-Performer*in mischt die Emotionen eines Songs neu ab, filtert sie durch den eigenen Charakter und die Lebenserfahrungen, unterstreicht sie mit übertriebenen Schnörkeln, die fast wie die Bewegungen eines Dirigenten wirken, und spielt mit den Emotionen und Erwartungen des Publikums wie ein Virtuose. Es ist wie ein Remix, ohne tatsächlich zu remixen."

 

Obwohl die Sichtbarkeit und öffentliche Akzeptanz von Drag zu allen Zeiten stark von der jeweiligen Regierung in den USA abhingen, gehen die Autoren von Legendary Children davon aus, dass Lip Syncing auch schon lange vor den Verboten der öffentlichen Drag Shows in den glamourösen Spielorten der Großstädte stattgefunden haben muss. Kleine Undergroundbars werden ohnehin niemals die finanziellen Mittel gehabt haben, ihre Drag Performer*innen von einem Live-Orchester begleiten zu lassen. Außerdem zielten die offiziellen Drag Shows mit Live-Musik ohnehin auf ein weißes, privilegiertes Mittelklasse-Publikum – die segregierenden Jim-Crow-Gesetze galten bis 1964. LGBTQ*s of Colour mussten sich ihre safer spaces mit privaten, illegalen Partys und Bällen selbst erschaffen. Und erfanden dadurch eine der spannendsten Subkulturen des 20. Jahrhunderts.

 

Die Ballroom-Szene: Von „Paris is Burning“ bis „Pose“

 

Denn diese illegalen Zusammenkünfte in Underground-Clubs oder Privatwohnungen bilden den Ausgangspunkt der New Yorker Ballroom-Szene. Diese bildet einen wichtigen Bezugspunkt für RuPaul’s Drag Race und ist dank der 1991 erschienen Dokumentation Paris is Burning von Jennie Livingston eine der wenigen frühen LGBTQ*-Szenen, die filmisch dokumentiert wurde. Zentraler Ort für die Szene, die hauptsächlich aus afro- und lateinamerikanischen LGBTQ*s bestand, war der Ballroom. Hier traten sie auf Tanzwettbewerben – den Balls – gegeneinander an.

 

In verschiedenen Kategorien mit aufwendigen Kostümen, Performance und Tanz galt es, die Jury von der eigenen, möglichst realen Inszenierung zu überzeugen. „Realness“, die authentische Verkörperung der dargestellten Bühnenfigur, ist dabei zentral. Für Transfrauen kann das „passing“, also die Fähigkeit in der Öffentlichkeit „als Frau“ gelesen zu werden, eine Überlebensstrategie sein, die vor Diskriminierung und Gewalt schützt. Auf den Balls ging es aber auch um die Inszenierung dessen, was man gesellschaftlich nicht sein konnte – zum Beispiel ein Covergirl auf den großen Modemagazinen. Nicht umsonst ist das Voguing, der Tanzstil, den die Ballroom-Szene entwickelte, nach dem bekannten Magazin benannt. Die Posen, die die Models beim Fotoshooting einnahmen, werden beim Voguing in rhythmischer Abfolge aneinandergereiht. Der Leitsatz: Strike a Pose!

 

Doch es geht bei Ballroom um mehr als akrobatische Tanzperformances und aufwendige Kleider. Für viele ist die Szene eine Ersatzfamilie, weil sie von ihren eigenen homo-und transfeindlichen Familien verstoßen wurden. Bis heute organisiert sich die Szene in so genannten „Houses“, Wahlfamilien, die mit Mothers, Brothers und Sisters sogar symbolisch wie solche strukturiert sind. Der Ballroom ist ein safer space, ein geschützter Raum, in dem das, was, die Gesellschaft ihnen verwehrt, ausgelebt werden kann: Glamour, Erfolg, Anerkennung. Viele der Drag Queens und Kings aus Paris is Burning arbeiteten aus Mangel an Alternativen als Prostituierte. Mit der aufkommenden AIDS-Krise der Zeit verschärfte sich ihre ohnehin prekäre Lebenssituation umso mehr.

 

Genau diese Zeit bildet auch die 2018 veröffentlichte Serie Pose ab. Basierend auf der Vorlage von Paris is Burning zeigt die Serie den Kampf der Szene, im Angesicht des eigenen Todes im Ballroom als „Legend“ unsterblich zu werden. Lip Sync wird dabei zum Werkzeug einer mündlichen queeren Geschichtsschreibung, durch das die Vergangenheit in die Gegenwart gebracht, erinnert und interpretiert werden kann. Ein Archiv und lebendige Repräsentation zugleich.

 

Pose stellt einen wichtigen Meilenstein dieser informellen queeren Geschichtsschreibung dar und erzählt die Geschichte der Ballroom-Szene nach Paris is Burning weiter: Wie die Kultur durch Madonnas Vogue von einer weißen Cis-Frau angeeignet, popularisiert und vermarktet wurde und dadurch auch ihre Wurzeln als Subkultur marginalisierter Menschen in Vergessenheit gerieten. Pose erinnert nicht nur daran, sondern erobert sich die Deutungshoheit und das Narrativ zurück: Mit Janet Mock und Our Lady J wurde die Serie von zwei Transfrauen maßgeblich geschrieben und produziert. Mit Indya Moore, Dominique Jackson, Hailie Sahar, Angelica Ross und MJ Rodriguez spielen Transfrauen of Colour die Hauptrollen.

 

Eine der finalen Szenen der Serie zeigt die letzte Performance der Protagonistin Blanca Evangelista (MJ Rodriguez). Im Rollstuhl wird die von AIDS geschwächte Blanca in den Ballroom geschoben. Im Hintergrund läuft die amerikanische Nationalhymne, gesungen von Whitney Houston beim Superbowl 1991. Mit dieser Performance löste Houston damals ihrerseit eine kontroverse Debatte aus, da sie – wie später auch Beyoncé – über eine voraufgenommen Version ein Lip Sync performt hatte. Indem Blanca als Latinx Transfrau The Star-Spangled Banger, gesungen von einer afroamerikanischen Frau, als Lip Sync im Ballroom performt, verhandelt sie die Fragen von Identität und Zugehörigkeit in den USA radikal neu. Ohne selbst zu singen, verschafft sie sich Gehör und erobert sich die eigene Stimme, ihren Platz in der Gesellschaft zurück. Eine hochpolitische Performance. Und buchstäblich ein Lip Sync, um das eigene (Über)leben.


Artikel für das Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Rusalka