Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Syć
Zuerst erschienen in Groove 162 (September/Oktober 2016).
Die rotgoldene Abendsonne taucht die grasbewachsenen Hangars auf dem alten DDR-Flughafengelände in ein unwirkliches Licht. Entspannte Menschen, deren kunstvolles Make-up zu diesem Zeitpunkt noch genau da sitzt, wo es soll, fläzen unter einem weißen Sonnensegel, ein Windspiel aus farbigen Plexiglasscheiben wirft bunte Schatten auf die erwartungsfrohen Gesichter. Auf der halb im Wald versteckten Querfeld-Bühne wiegt man sich vereinzelt schon zaghaft zu den Ambientklängen des ersten Live-Sets. Zur Eröffnung des Fusion Festivals, das in diesem Jahr sein 20. Jubiläum feiert, wirkt das Festivalgelände geradezu idyllisch. Doch während für die Festivalbesucher die schönste Zeit des Jahres gerade erst losgeht, ist sie für die Macher von Syć zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon fast vorbei.
Seit zwei Wochen ist die Gruppe auf dem Gelände und baut mit die Querfeld-Bühne auf, die sie seit einigen Jahren gemeinsam gestalten. „Wir genießen diese Aufbauzeit eigentlich viel mehr als das Festival selbst. Diese Quality Time mit der ganzen Gruppe haben wir das ganze Jahr über kaum noch", gesteht die Gruppe, deren einzelne Mitglieder nicht namentlich hervorgehoben werden sollen. Einige Mitglieder von Syć gehören auch zu den zentralen Figuren des Weimarer Labels Giegling, das in den vergangenen Jahren nicht nur in informierten Kenner- und Liebhaberkreisen dank einer intelligenten Mischung aus Micro-House, Leftfield-Electronica und Dubtechno einen Senkrechtstart hingelegt hat. Doch deckungsgleich sind die beiden Gruppen nicht: Und während Giegling seinen Fokus auf die Musik richtet, ist die gestalterische Arbeit von Syć wesentlich offener für verschiedene Kontexte.
Poesie & Detailverliebtheit
Die Geschichte von Syć, sorbisch für „Netz“, erzählt sich so schön wie der Plot eines in Sepia gehaltenen Indie-Films. Eine Gruppe von Irgendwasmit-Kunst-und-Medien-Studenten lernt sich in der thüringischen Provinz kennen, das kulturelle Ödland wird zum kreativen Motor und die ersten gemeinsamen Partys legendär. Gleichgesinnte Künstler und Musiker aus dem Spreewald und Berlin kommen hinzu, gemeinsam veranstalten sie ein intimes Festival für Freunde und Freundesfreunde auf einer winzigen dänischen Insel, touren als DJs durch Deutschland und bringen Platten heraus, mit deren Einnahmen sie bald ihre Kunstaktionen finanzieren können. Auch als das Label plötzlich internationale Bekanntheit erreicht, bleibt das Kollektiv am Boden, gemeinsam etwas zu erschaffen bleibt wichtiger als der Erfolg.
Kunst und Musik sind für Syć dabei von Anfang an untrennbar verbunden. Die Nichtmusiker des Kollektivs gestalten die Plattencover der Giegling-Releases, die Flyer und Deko-Elemente für die Partys und schließlich die CD-Box, mit der sie sich 2008 ursprünglich für einen Gig bei der Fusion bewerben und dank des beeindruckenden Designs gebeten werden, doch einfach gleich die ganze Bühne zu gestalten. „Wir versuchen, mit unseren Bühnengestaltungen über das Poetische eine Atmosphäre zu etablieren, in der ganz viel möglich ist“, erläutert er philosophisch.
Die Liebe zum Detail, die man aus den Giegling-Produktionen von Traumprinz, Kettenkarussell, Ateq und Co. kennt, spiegelt sich auch in ihren Festivalbühnen in jedem Element. In diesem Jahr wirkt die Querfeld-Bühne wie ein Abenteuerspielplatz: In einer provisorisch gezimmerten Kirche steht eine funktionstüchtige Heimorgel aus den siebziger Jahren, auf der ein aufgeklapptes Notenheft dazu einlädt, mit Panoramablick auf die unten tanzende Meute Beethovens „Für Elise“ in die Tasten zu hauen. Wenn man mutig wäre, könnte man von hier oben aus direkt in das Bällebad springen, in dem sich einige Festivalbesucher schon kichernd mit blauen Plastikkugeln bewerfen. Das Unnütze, das kindlich Verspielte ausgestalten und durch eine eigene Festivalwelt fiktive Räume erschaffen, in deren geschützter Blase man sich ungestört austoben kann, darum geht es Syć.
„An der Fusion war für uns die Illusion, dass hier ganz unterschiedliche Seinsarten und Bewegungen ungestört nebeneinander existieren können, sehr inspirierend. Man hat das Diverse und gleichzeitig ein Gemeinsames, das dann flimmert und schimmert und total unterschiedlich ist.“ Wenn die Gruppe über den ideologischen Überbau von Syć spricht, verfällt sie schnell in einen anthropologischen Duktus, spricht fast schon esoterisch über kreative Energien, kollektives Gestalten und basisdemokratische Arbeitsprozesse. Wichtig sei ihnen, dass man das ideologische Konzept begreift, das hinter Syć steckt. Das Spezielle an ihren Projekten ist nämlich, dass man ihnen das Besondere an ihrer Kunst rein augenscheinlich gar nicht ansieht. Denn wie die Orte, die sie erschaffen, letztendlich konkret aussehen, ist nicht das Entscheidende.
Prozess-Design-Achse
Frei nach Joseph Beuys’ erweitertem Kunstbegriff, der das traditionelle Verständnis des Kunstwerkes als abgeschlossenes Produkt infrage stellte, erhebt Syć den Gestaltungsprozess zur eigentlichen künstlerischen Leistung. Oberste Maxime: Alle dürfen und müssen sich schöpferisch einbringen, jeder ist Ideengeber, keiner bestimmt. Kommt man da jemals zu einem Ergebnis?
Syć hat sich für diese Art des Gestaltens spezielle Arbeitstechniken ausgedacht. Mit Moodboards, auf denen im Vorfeld alle Vorschläge gesammelt werden, entwickeln sie Methoden des gemeinschaftlichen Entwerfens. Jede Idee wird diskutiert, seine individuelle Aufgabe findet jeder selbst, ohne Zwang. „Das dauert natürlich viel länger und ist auch anstrengender, aber wir finden, das, was dabei am Ende herauskommt, hat immer eine besondere Qualität, die größer ist als das, was sich ein Individuum ausdenken kann“, legitimieren sie den aufwendigen Prozess. Es gehe darum, gemeinsam etwas zu schaffen. Dass das Ergebnis am Ende vielleicht nicht jeden Einzelnen zufriedenstellt, sei unvermeidbar, aber eben auch nicht so wichtig.
Syć experimentiert mit neuen Formaten und hinterfragt die eigene Arbeit. In einem exklusiven Katalog stellen sie Fotos von Installationen, Menschen, Baumaterial und Skizzen scheinbar zufällig gegenüber und schaffen so Querverbindungen zwischen Prozess und Design. In einer Ausstellung in Berlin rekonstruierten sie die temporären Installationen, die sie quasi „auf dem Acker“ entworfen hatten, in einem sterilen Ausstellungsraum. „Wir wollten wissen: Was passiert mit dem Festivalding und den Symbolobjekten, wenn man sie einfach ausschneidet? Was passiert in der Reflexion? Warum machen wir das eigentlich, was ist der Wert davon?“
Syć heißt auch, immer wieder kritisch die Perspektive zu wechseln. Beim Hamburger Festival Dockville stellten sie sich daher vor ein paar Jahren buchstäblich auf die andere Seite und sezierten das Festivaltreiben quasi ethnologisch aus Sicht eines außenstehenden Forscherteams mit der Fragestellung: Was ist eigentlich normal? „Wir haben die Artefakte der Festivalkultur als etwas ‚Wildes‘ in einer Art Kolonialvilla ausgestellt, die Stäbe und Trinkflaschen als Totems. Oder Fotoarbeiten gemacht von Leuten, die sich ähnlich sahen, Mädchen mit Stirnband und Männer mit Käppi und Bart“, erklärt die Gruppe. Die Kunst der Selbstreflexion beherrschen sie – und machen deutlich, dass bei aller Konzeptionalität der gemeinsame Spaß natürlich auch nicht zu kurz kommt.
Kollektive Sehnsucht nach Freiheit
Auch bei der kreativen Coverart, wegen der die Giegling-Platten begehrt und gefeiert sind, steht das kollektive Gestalten im Vordergrund. Beuys’ viel zitierten Ausspruch „Jeder Mensch ist ein Künstler“ nimmt Syć wörtlich und stellt sich in die Tradition des Fluxus, dessen avantgardistische Anhänger seit den Sechzigern den althergebrachten Begriff des Kunstwerks elementar angriffen. Bei der Gestaltung von Matthias Reilings Release „Gefällt Mir Nicht Mehr“ ließ das Kollektiv daher reale Gefängnisinsassen das Blut auf das Cover malen. Andere Plattenhüllen gaben sie zum Ausmalen an Kindergärten oder Seniorenheime. An der Gestaltung der Platte „The Golden Age“ von Map.ache waren Menschen mit Behinderung beteiligt. „Uns geht es um eine neue Art von Kunst, die den Individualismus überwinden muss. Das steckt hinter Syć: ein horizontales Denken, das keine Hierarchien kennt.“ Dass die Giegling-Platten als Unikate oft teuer auf Discogs verkauft werden, ärgere sie daher schon, denn um Wirtschaftlichkeit gehe es ihnen nicht.
„Uns geht es um eine neue Art von Kunst, die den Individualismus überwinden muss.“
„Es ist immer dieser gewisse irrationale Mehraufwand, der das, was wir machen, ausmacht. Jedes Cover wird von uns einzeln gestaltet, das Ø Festival haben wir auf einer schwer zugänglichen dänischen Insel gemacht, die nur limitierte Platzkapazitäten hat. Da wird nicht drauf geachtet, ob das jetzt wirtschaftlich ist oder nicht“, beschreiben sie die idealistische Quintessenz. Als politische Kapitalismuskritik wolle das Kollektiv seine Kunst aber dennoch nicht verstanden wissen. Vielmehr gehe es um einen gelebten Idealismus, eine kollektive Sehnsucht nach Freiheit und um die Leidenschaft für die gemeinsame Sache. Gleichzeitig versteht das Kollektiv seine Kunst als eine Art soziales Experiment, das auch für das gesellschaftliche Zusammenleben eine Übung sein kann.
Syć bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Kunst, Kultur und Sozialem und erschaffen durch ihre Arbeit soziokulturelle Räume, in denen neue Arten der Partizipation und Selbstverwirklichung entstehen können. Oder etwas weniger akademisch ausgedrückt: Syć ist eine Gruppe von Freunden, die sich ihren Idealismus nicht nehmen lassen und für sich und andere eine Realität erschaffen, die einfach ein bisschen besser ist als die, in der wir sonst leben müssen.