Sex ist längst kein Thema mehr, das lediglich hinter verschlossenen Türen zur Sprache kommt - nur in heimischen Betten angesprochen, und dann schnell wieder beschämend abgewunken wird. Sex ist laut, und allgegenwärtig. Über Sex wird geredet, geschrieben und diskutiert. Über Vorlieben, Orientierungen, Sehnsüchte und Tabus. Selten jedoch darüber, was Sex eigentlich ist.
Was ist Sex? Ja, diese scheinbar banale Frage gilt es tatsächlich zu beantworten. Zumindest mit Blick auf das in der Gesellschaft überwiegend verbreitete Verständnis von Sex, findet Maya. Die 25-jährige Politikwissenschaft-Studentin hat in der Schule gelernt, was Sex ist: Penetration durch einen Penis. Hierzu wurden Bilder gezeigt, beschriftet und durch das Kichern der Mitschüler:innen untermalt. Das Kichern vergeht Maya jedoch beim relativ eindimensionalen Verständnis vieler Menschen von Sex.
Denn: Zur Verwunderung einiger haben Menschen auch dann Sex, wenn kein Penis involviert ist. Wäre dies nicht so, hätten viele Personen, die Lust, Nähe und Intimität erfahren, qua auferlegter Definition keinen Sex. So auch Maya. Sie hat sich vor zehn Jahren als lesbisch geoutet, hatte seitdem mehrere Sexualpartnerinnen und ist derzeit in einer Partnerinnenschaft. „Ich habe Sex. Und zwar ganz ohne Penis", erklärt sie.
„Es geht für mich um Lust und Orgasmen"Doch nicht alle denken so. Denn Sex findet für den Großteil der Gesellschaft zwischen Mann und Frau statt. Auch wenn sich in den letzten Jahren viel im Umgang mit Sex und Sexualität geändert hat und vieles offener angesprochen wird, ist die Gesellschaft noch immer heteronormativ geprägt. Personen, die sich der Problematik bewusst sind, versuchen diese zwar aufzubrechen und ihren Blick zu weiten. Doch viele hinterfragen noch immer nicht. Auch nicht, ob Sex womöglich vielfältiger sein kann als in den eigenen vier Wänden.
„Ich selbst habe nie hinterfragt, ob ich richtigen Sex habe. Das war für mich klar. Intimität, Nacktheit und sexuelle Handlungen waren immer Teil des Miteinanders", erklärt Maya. Dass in ihrem Sexleben etwas fehlt, hat sie nie gedacht. „Es geht für mich um Lust und Orgasmen, um nackte Körper und um Begehren. Das waren immer Dinge, die ich mit meinen Sexualpartnerinnen erlebt habe", so Maya.
„Ich habe schon häufiger die Erfahrungen gemacht, dass es in den Köpfen nur eine Art von Sex gibt. Besonders dann, wenn typische ,Frauengespräche' geführt werden", erklärt sie. „Da wird nach einem Date dann gefragt, ob sie Sex hatten. Wenn dann Antworten kommen wie ,Nein, ich habe ihm nur einen geblasen', bin ich verwundert", beschreibt die Studentin.
Warum gilt Oralsex nur als Vorspiel?Es scheint daher weniger nur eine Generationenfrage zu sein, wie Sex verstanden wird, es geht vielmehr darum, inwieweit die bisher verankerten Vorstellungen hinterfragt und überdacht werden. Wenngleich dieses Hinterfragen häufiger in der jungen Generation stattfindet. „Es scheint, als wäre Oralsex nur eine untergeordnete oder abgeschwächte Form, die vor oder nach dem Sex zwar ausgelebt, aber eben nicht als Sex beschrieben werden darf."
Dass solche Bilder im täglichen Austausch, in Gesprächen oder sozialen Netzwerken vermittelt wird, hat Folgen. Denn Sprache schafft Bewusstsein. Sprache kann diskriminieren, verletzen oder ausgrenzen. Und das tut sie in diesem Fall tatsächlich. Denn es verletzt, wenn der eigene Sex lediglich als Vorspiel, als bloße Annäherung verstanden wird, bevor es „richtig zur Sache" geht. „Ich glaube nicht, dass sie es böse meinen", sagt Maya. „Es ist vermutlich einfach die heteronormative Perspektive auf die Dinge."
Maya reagiert in solchen Momenten. Sie hakt nach, macht aufmerksam, gibt Denkanstöße. Das kann sie, wenn sie sich sicher fühlt. Aber nicht alle Situationen, in denen queeren Menschen ihr Sex aberkannt wird, sind sicher. „Sobald fremde Menschen in solche Gespräche involviert sind - das kann sogar in meiner WG-Küche sein - wird eine Situation unsicher für mich", erklärt die Studentin. Auch auf der Straße oder in ungeschützten Räumen sind queere Menschen oftmals großen Gefahren ausgesetzt.
Das Hinterherrufen von Sprüchen wie „ihr bräuchtet mal wieder einen richtigen Schwanz", ist eine Form der Diskriminierung, die für queere Paare zum Alltag gehört. Und dieser Mythos scheint sich hartnäckig zu halten. Denn misogynes Verhalten und die Mär der männlichen Überlegenheit scheinen trotz des vermeintlichen Fortschritts in unser patriarchalen Gesellschaft noch immer stets präsent zu sein.
Sextoys und Dildos sind kein Penis-ErsatzWenn zwei Personen mit Vulven Sex haben, verwenden sie manchmal Sextoys. Diese können dabei auch die Form eines Penis haben. Es gibt auch Möglichkeiten, sich einen Dildo umzuschnallen: einen sogenannten Strap-on. „Einen Strap-on zu benutzen, ist für mich eine tolle Möglichkeit, mein Sexleben vielfältiger zu gestalten. Es hat aber nichts mit dem Gedanken zu tun, dass mir ein Penis fehlt und dieses Fehlen ausgeglichen werden soll", berichtet sie. Denn es ist viel einfacher. Sex bedeutet für Maya Spaß und sexuelle Lust. Diese Lust kann durch vaginale Stimulation erfüllt werden und ein Strap-on kann diese Stimulation erzeugen. „Wenn ich eine Person mit einem Strap-on befriedige, dann sind meine Hände frei, um sie anders einzusetzen."
Obwohl sich Maya mit ihrem Sexleben sicher ist, macht sie das oft nur heteronormative Verständnis von Sex nachdenklich. Sie findet, das Verständnis von Sex müsse sich gesellschaftlich ändern. Es solle klar werden, dass Sex vielfältiger ist, als das Eindringen eines Penis. Dafür reicht es nicht, queeren Sex sprachlich mitzumeinen. „Auch im Heterosex wäre es wichtig, sich vom Penismonopol zu lösen", findet Maya. „Ich bin mir sicher, dass sich der Sex zwischen Personen immer verbessert, wenn berücksichtigt wird, dass sexuelle Befriedigung nicht an einen Penis gekoppelt ist."
Frauen kommen durch Penetration selten zum OrgasmusSchon lange ist bekannt, dass viele Frauen durch die Penetration allein nicht oder nur selten zum Orgasmus kommen. Statt dieses Wissen zu nutzen, und die Vielfalt von anderen Stimulationen auszuprobieren, scheint dies gerade im heterosexuellen Kontext immer wieder zu Problemen führen. Die Frau denkt, mit ihr stimme etwas nicht, wenn ihr Höhepunkt ausbleibt. Der Mann denkt wiederum, durch das Eindringen seines Penis sei sein Teil der Arbeit erledigt - besonders, wenn er selbst zum Orgasmus kommt. „Es scheint mir manchmal, als würden Paare die Macht des Penis um keinen Preis infrage stellen wollen", erzählt die Studentin. „Wenn ich solche Beispiele von Freundinnen höre, verwundert es mich wenig, dass mein Sex von vielen als ‚unvollständig' abgestempelt wird."
„Es ist nicht die Aufgabe queerer Menschen, im Alltag immer wieder Aufklärungsarbeit zu leisten. Zumal das immer auch ein Outing bedeutet", sagt Maya. Die Verantwortung sollte woanders liegen. „Ich glaube nicht, dass das Schulfach Biologie umfassende sexuelle Aufklärung leisten kann, wenn es ausschließlich um Fortpflanzung geht. Deshalb wäre eine Zusammenarbeit von Schulen und Vereinen sinnvoll für eine nachhaltige Aufklärungsarbeit." Queere Bildungs- und Aufklärungsvereine haben es sich zur Aufgabe gemacht, Schüler:innen frühzeitig über die Vielfältigkeit von Lebensrealitäten, Identitäten und Sexualitäten aufzuklären. Häufig bekommen die Schüler:innen dadurch die Möglichkeit, in direkten Austausch mit queeren Personen zu kommen.
Denn Aufklärung kann nur allumfassend sein, wenn Sex vielfältig gedacht wird. So vielfältig, wie er nun mal ist. Es ist daher wichtig, den Fokus auch weg vom Penis zu legen. Und den Blick hingegen auf alle Menschen zu richten, die Sex haben.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen - jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.