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Nach dem Lockdown: Was tun, wenn Treffen mit anderen Menschen Angst und Stress auslösen?

Berlin. Viele Abende zu Hause, wenig soziale Kontakte, Sorge um Angehörige oder den Arbeitsplatz - der Corona-Lockdown hat viele Menschen in Deutschland stark belastet. Laut dem aktuellen Gesundheitsreport der Techniker-Krankenkasse gaben im März 2021 89 Prozent der Befragten an, Treffen mit Freunden und Verwandten zu vermissen.

Doch für einige hatten die Beschränkungen in der Pandemie auch gute Seiten: weniger Termine, mehr Zeit für die Familie, weniger Stress. Mehr als 50 Prozent der Befragten hatten das Gefühl, im Lockdown auch etwas Positives für sich selbst tun zu können.

Inzwischen ermöglichen sinkende Inzidenzen und stetige Impfquoten wieder deutlich mehr soziales Leben. Freizeitaktivitäten sind wieder möglich, auch größere Gruppen dürfen sich wieder im Freien, im Restaurant oder zu Hause treffen. Diese wiedererlangten Freiheiten sind für viele ein Segen. Doch die vielen Möglichkeiten, gepaart mit dem Wunsch, die verpasste Zeit aufholen zu wollen, können auch zur Herausforderung werden. Insbesondere deshalb, weil man nach den Lockdownmonaten nicht mehr daran gewöhnt ist, von vielen Menschen umgeben zu sein.

Langsam wieder an mehr Kontakte gewöhnen

„Es gibt Menschen - und das sind nicht wenige -, die sich gestresst fühlen, wenn sie jetzt vor vollen Biergärten oder Restaurants stehen", sagt der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli. An veränderte Lebensumstände müsse man sich immer erst gewöhnen. „Das erfordert von uns eine aktive Anpassungsleistung", sagt der Professor von der Charité in Berlin und Chefarzt der Fliedner Klinik für psychische Erkrankungen.

Was solche Gewöhnungsprozesse angehe, habe jede und jeder ein eigenes Tempo. „Es ist völlig in Ordnung, sich diesem Tempo anzupassen", sagt Adli. Der Psychiater rät, sich nicht unter Druck setzen zu lassen und soziale Kontakte schrittweise zu steigern.

Soziale Phobie: wenn die Zeit mit anderen Menschen zur Qual wird

Wenn man feststellt, dass man durch Ängste vor sozialen Situationen erheblich eingeschränkt ist, könne professionelle Hilfe richtig sein, so Adli. Es könnte eine Angststörung vorliegen. Zu unterscheiden ist zwischen der Agoraphobie - der Angst vor Menschenansammlungen - und der sozialen Phobie, die sich eher um Angst vor der Interaktion mit anderen dreht.

„Wir sehen, dass sich die Probleme bei Menschen, die auch vor der Pandemie schon mit sozialen Ängsten zu tun hatten, durch den Lockdown teilweise noch verstärkt haben", sagt Adli. Der Rückzug in die eigenen vier Wände sei ein Nährboden für alle möglichen Ängste, erklärt der Professor. Denn durch die Vermeidung unangenehmer Situationen verstärke sich die Angst immer weiter.

Für Menschen mit einer sozialen Phobie werde der Umgang mit anderen zur Qual. Betroffene kämpfen vor allem mit der Angst vor einer Bloßstellung oder Blamage im Umgang mit anderen. Sie werden plötzlich nervös, wenn sie mit einer anderen Person sprechen, laufen rot an oder trauen sich kaum noch, etwas zu sagen, erklärt Adli. Bei der sozialen Phobie betreffe das vor allem den Umgang mit unbekannten oder wenig vertrauten Personen. „Das erlebe ich bei Menschen, die sich jetzt schwertun, vom Homeoffice wieder zurück ins Büro zu gehen, aber auch bei Studierenden, die sich nach Monaten des Distanzunterrichts kaum noch vorstellen können, wieder in einem Hörsaal zu sitzen", sagt Adli.

Die Angst vor der Angst verlieren

In der Therapie lernen die Betroffenen entweder in Gruppen oder einzeln, sich den Situationen, die ihnen Angst machen, schrittweise wieder zu nähern. Dafür werde ein Übungsplan erstellt, erklärt Adli. „Es geht auch darum, die Angst vor der Angst zu verlieren und zu verstehen, dass es nicht schlimm ist, wenn etwas Angstgefühl aufkommt", so der Psychiater.

Was das Bedürfnis nach sozialen Kontakten angehe, gebe es zwar unterschiedliche Persönlichkeitstypen - etwa eher extrovertierte und eher zurückgezogene Menschen. „Grundsätzlich sind wir aber alle soziale Wesen und brauchen die anderen für unser psychisches und körperliches Wohlbefinden", sagt Adli. Soziale Verbundenheit sei ein menschliches Grundbedürfnis.

Auf die eigenen Bedürfnisse hören

Die eigenen Grundbedürfnisse besser wahrnehmen zu lernen gehört auch zur Arbeit der Achtsamkeitstrainerin Tina Klein. In Gruppentrainings und mit Einzelcoaching hilft Klein Menschen dabei, Stress im Alltag abzubauen. Einige ihrer Klienten hätten berichtet, sich im Lockdown weniger gestresst zu fühlen als vorher, sagt Klein. Grund dafür sei vor allem der Ausfall vieler Termine gewesen.

„Sich Auszeiten zu nehmen ist gesellschaftlich nicht anerkannt", sagt Achtsamkeitstrainerin Tina Klein. © Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa

„Viele haben die Zeit im Lockdown auch genutzt, um zu hinterfragen: Was mache ich überhaupt in meiner Freizeit, und tut es mir gut oder nicht?", sagt die 45-Jährige. Sie beobachte immer wieder Menschen, die sowohl beruflich und privat hohe Erwartungen an sich selbst stellen. Sie neigten dazu, sich viel vorzunehmen und auch private Lebensbereiche möglichst optimieren zu wollen. Irgendwann merke man dann nicht mehr, was einem eigentlich guttue.

„Wer Pausen macht, wird belächelt"

Warum neigen Menschen überhaupt dazu, sich selbst in der Freizeit noch Stress aufzuladen? „Weil es gesellschaftlich nicht anerkannt ist, sich Auszeiten zu nehmen", sagt Klein. Das Bedürfnis, dazugehören zu wollen, sei ein uraltes Muster und tief im menschlichen Verhalten verankert, erklärt die Achtsamkeitstrainerin. Ständige Aktivität und Beschäftigung werde mit Anerkennung von außen betrachtet - die Person ist gestresst, also muss sie sehr wichtig und wertvoll sein, so in etwa lautet die tiefer liegende Annahme. Wer dagegen offen erzähle, viel Freizeit zu haben und Pausen zu machen, werde eher belächelt. „Dabei kann unser Gehirn dann viel besser arbeiten und kreativ sein", betont Klein.

Menschen, die sich im Lockdown eher wohlgefühlt haben und sich einen Teil der Ruhe auch im neuen Alltag erhalten wollen, rät Klein, eine Bilanz zu ziehen. „Es ist hilfreich, einmal schriftlich festzuhalten, was in der Zeit auch positiv war, was man dabei gelernt und im eigenen Leben verändert hat und was man auch beibehalten möchte."

Ein weiterer wichtiger Schritt liegt für die Achtsamkeitstrainerin darin, bewusste Entscheidungen zu fällen. „Wenn viele Termine sind oder viele Freunde nach Treffen fragen, geht es darum, wirklich für sich zu prüfen: Will ich das, tut es mir gut - ja oder nein -, und dann eine Entscheidung zu fällen", sagt Klein. Im Zweifel bedeute das, eben auch mal eine Verabredung abzusagen oder eine Veranstaltung zu verpassen. Durch achtsame Kommunikation könne man lernen, Familie und Freunden diese Entscheidungen so zu vermitteln, dass es nicht zu Konflikten oder Enttäuschungen kommt.

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