Dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen regulär studieren, ist an vielen deutschen Unis nicht vorgesehen. Eine Hochschule in Niedersachsen will das ändern. Taugt ihr Modell auch für andere?
Von Kristin Hermann, Ottersberg
Im Seminarraum F 1.06 balancieren etwa 20 Studierende wassergefüllte Plastikbeutel auf Füßen, Armen und Köpfen. In der Mitte steht Hans-Joachim Reich, Professor für Performance, Tanz und Bewegung. Er erklärt, der menschliche Körper sei so flexibel wie ein Wassersack und reagiere auf kleinste Impulse. Die Studierenden, unter ihnen Nachwuchsschauspieler:innen und angehende Theaterpädagog:innen, sollen durch die Übung verstehen, wie anpassungsfähig Wasser und damit auch ihr eigener Körper ist.
Eine von ihnen ist Amelie Gerdes. Die 18-Jährige wiegt den Beutel in ihren Händen, lässt ihn dann über andere Körperteile gleiten. »Fühlt sich spannend an«, sagt sie.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Gerdes studiert. Sie ist mit Trisomie 21 geboren und träumt von einer Karriere als Schauspielerin. Doch für Menschen mit Behinderung ist der Weg an eine Uni oft kein leichter, egal, ob sie eine körperliche oder eine geistige Behinderung haben – ein Begriff, der mittlerweile von vielen Betroffenen als diskriminierend abgelehnt wird, schließlich sei nicht ihr Geist behindert. Stattdessen bezeichnen sie sich als Menschen mit Lernschwierigkeiten. Auch von Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist mitunter die Rede.
Um sie soll es in diesem Text gehen. So erzählt Gerdes zum Beispiel, dass sie komplizierte wissenschaftliche Texte vor Schwierigkeiten stellten. Was ein Studium zu einer besonderen Herausforderung macht.
Die Uno-Behindertenrechtskonvention verpflichtet ihre Unterzeichnerstaaten zwar, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Hochschulbildung zu ermöglichen. In der Realität funktioniert das aber oft nicht. Laut der jüngsten Erhebung des Deutschen Studierendenwerks (DSW) aus dem Jahr 2016 haben etwa elf Prozent der Studierenden in Deutschland eine Beeinträchtigung, meist ist die allerdings psychischer oder körperlicher Natur. Wie groß der Anteil der Studierenden mit geistiger Beeinträchtigung ist, dazu liegen dem DSW keine Daten vor.
Wie kann auch ihre Inklusion an Unis funktionieren?
Pilotprojekt an der HKS Ottersberg
Die Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) im niedersächsischen Ottersberg bei Bremen versucht, Wege dafür zu finden. Neben Amelie Gerdes haben dort im Herbst zwei junge Männer mit Lernschwierigkeiten ein Studium begonnen: Ole Bramstedt und Erik Bernsen, beide 21 Jahre alt. Die drei Bremer:innen haben zuvor eine Begabtenprüfung bestanden, die ein Studium ohne Abitur ermöglicht, und ein Semester in Gasthörerschaft verbracht. Seit dem Wintersemester sind sie im Bachelor-Studiengang »Tanz und Theater im Sozialen« eingeschrieben. Eine weitere Studentin mit Lernschwierigkeiten wurde bereits im Frühjahr 2022 im Fachbereich »Freie Bildende Kunst« immatrikuliert.
Alle vier sind auch Teil des Pilotprojekts Artplus, initiiert vom Verband Kunst und Behinderung Eucrea, der die HKS Ottersberg engmaschig begleitet. Ziel des aktuell in fünf Bundesländern stattfindenden Projekts ist es, neue Möglichkeiten der beruflichen Qualifizierung für Kreative mit Behinderung zu schaffen. »In Deutschland ist die Bildung von Menschen mit Lernschwierigkeiten lange vernachlässigt worden«, sagt Projektleiterin Angela Müller-Giannetti, »auch außerhalb des künstlerischen Bereichs«.
Die Kooperation zwischen der Hochschule und Artplus sehen die Macher:innen als Paradigmenwechsel in der Hochschullandschaft. Als eine der ersten Hochschulen in Deutschland ermöglicht die HKS die Immatrikulation von Menschen mit kognitiven Einschränkungen im Regelstudium. Sie besuchen also alle Seminare und Vorlesungen und müssen Prüfungsleistungen ablegen – eine Herausforderung, nicht nur für die Studierenden.
»Oft wird davon ausgegangen, man müsse Menschen mit Lernschwierigkeiten in das bereits bestehende System integrieren, aber so funktioniert das nicht«, sagt Gabriele Schmid, akademische Hochschulleitung der HKS Ottersberg. »Dafür muss sich der ganze Hochschulapparat verändern.« Oder wie es Student Ole Bramstedt formuliert: »Wir drehen die Hochschule einmal auf links.«
Einen gleichwertigen Abschluss ermöglichen
Und dazu gehört eine Menge: Kommiliton:innen, Eltern, Dozierende, Verwaltung – alle müssen sich auf die neue Konstellation einlassen. »Wir sind in der Erprobungsphase. Es gibt Vorbehalte, Ängste und auch Anlaufschwierigkeiten«, sagt Schmid. Zu den größten Herausforderungen gehöre, den Studierenden einen Abschluss zu ermöglichen, der gleichwertig ist, ohne dass ihnen zu sehr entgegengekommen wird. Zwar haben Gerdes, Bramstedt und Bernsen einen gesetzlich verankerten Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. »Aber es ist nicht genau geregelt, wie dieser auszusehen hat«, sagt Schmid.
An der Hochschule geht man davon aus, dass sie etwas länger als die angesetzten sieben Semester benötigen werden. Aber man stellt sich auch die Frage, ob schriftliche Prüfungen wie die Bachelorarbeit etwa durch eine Performance oder mündliche Abfragen ersetzt werden können. Schließlich fällt einigen der Artplus-Studierenden das Lesen und Schreiben komplexer Texte schwer. Von Behörden und Ministerien erhielten sie in diesen Fragen nur wenig Unterstützung, sagt Schmid.
Und so tastet sich die Hochschule langsam an die neuen Umstände heran. In den künstlerischen Seminaren funktioniert die Zusammenarbeit laut Dozent Hans-Joachim Reich schon gut. Die Artplus-Studierenden haben bereits vor dem Studium praktische Erfahrungen gesammelt. Bernsen ist Experte für Handpuppen, sein Ziel: ein Job im Lübecker Theaterfigurenmuseum. Bramstedt war im Tatort zu sehen. Und auch Gerdes hat bereits in einem ARD-Film mitgespielt. »Mein größter Wunsch ist es, später einen Job zu finden«, sagt sie. Und meint damit: eine Stelle auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt, nicht in irgendeiner Werkstatt speziell für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Denn: »Ich brauche Herausforderungen.«
Holpriger läuft es dagegen noch in den wissenschaftlichen Kursen. »Manchmal fällt es schwer, Onlinevorlesungen zu folgen oder Fachbegriffe zu verstehen«, sagt Bernsen. Unterstützung erhalten die Studierenden von Assistenzkräften, die selbst an der HKS Ottersberg studieren und für ihre Arbeit ein Honorar und Leistungspunkte erhalten. Sie vermitteln, wenn etwas unklar ist, oder schreiben Protokoll, damit die Artplus-Studierenden den Stoff zu Hause nacharbeiten können. Mindestens eine Assistenz soll pro Kurs anwesend sein. Auch die Eltern spielen im Hintergrund eine wichtige Rolle. Sie koordinieren die Fahrten zur Hochschule und helfen bei der Organisation. »Erik fühlt sich angekommen und wahrgenommen, und das ist das Wichtigste«, sagt Christine Bernsen, die Mutter des 21-Jährigen.
Für Lehrende besteht eine große Herausforderung darin, theoretische Inhalte in eine andere Form zu übertragen. So werden etwa im Fach Bewegungsanalyse für abstrakte Begriffe wie Kraft, Raum und Zeit passende Bilder herausgesucht. Für »viel Kraft« nimmt Dozent Reich das Bild eines Gewichthebers. Auch die Studierenden ohne Behinderung nehmen Rücksicht. »Wir versuchen Dinge möglichst einfach zu umschreiben«, sagt eine Kommilitonin.
Für vieles ist aber noch keine Lösung gefunden. Zum Beispiel, wie die individuelle Lerngeschwindigkeit berücksichtigt oder wissenschaftliche Texte verständlich gemacht werden können.
Ein bisschen Zeit bleibt noch – an der HKS werden in den ersten zwei Semestern generell keine Prüfungsleistungen benotet. Was sich nach den ersten Wochen im Wintersemester herauskristallisiert: Alle Beteiligten wünschen sich ein:e Koordinator:in, die sich ausschließlich um die Belange der Artplus-Studierenden kümmert. Derzeit feilt die Hochschule noch an der Finanzierung.
Ein Zuwachs an Interesse- und viele offene Fragen
Trotzdem bleibt die Frage: Funktioniert das Konzept nur in praktisch angelegten Fächern wie Theater oder Kunst? Wie sieht es aus mit anderen Studiengängen wie Mathematik, Betriebswirtschaftslehre oder Germanistik? Und wie mit dem Studium an Universitäten, für das man ja in der Regel die Allgemeine Hochschulreife braucht?
In Deutschland fehlen bisher Beispiele, um diese Frage ausreichend zu beantworten. Im Ausland gibt es vereinzelt Projekte, die Studierende mit geistigen Beeinträchtigungen einbinden. Zu den bekanntesten gehört das »Otzmot Empowerment Project« an der Bar-Ilan-Universität in Israel. Dort sollen die Teilnehmenden den Bachelorabschluss in Erziehungswissenschaften in inklusiven Lerngruppen erlangen. Dafür absolvieren sie zunächst Vorbereitungskurse, bevor sie dann Schritt für Schritt am regulären Unterricht teilnehmen.
Nach Angaben der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), dem freiwilligen Zusammenschluss der staatlichen und staatlich anerkannten Hochschulen in Deutschland, gibt es auch hierzulande einen großen Interessenzuwachs. »Wir haben heute eine ganz andere Situation als noch vor 20 Jahren. Der Wille, das bestehende Grundrecht von Menschen mit Behinderung auf Bildung noch konsequenter zu gewährleisten, wird immer größer«, sagt HRK-Vizepräsidentin Susanne Rode-Breymann. Projekte wie das an der HKS Ottersberg seien wichtig, um anderen Hochschulen Mut zu machen.
In der Kunst sei der Zugang zum Studium für Menschen mit Lernschwierigkeiten etwas leichter als in anderen Bereichen, sagt Rode-Breymann. »Doch auch in anderen Feldern ist ein reguläres Studium denkbar.« Dafür brauche es jedoch entsprechende Rahmenbedingungen, den Mut, Dinge auszuprobieren sowie eine aufgeschlossene Haltung von Lehrenden und Studierenden. »Außerdem ist eine darauf geschulte Studienberatung wichtig, bei der Interessierte die nötigen Informationen erhalten.«
Ob und wie genau Inklusion für Menschen mit kognitiven Einschränkungen flächendeckend gewährleistet werden kann, scheint weitestgehend noch ungewiss. Doch die Erfahrungen der HKS Ottersberg zeigen erste Schritte in die richtige Richtung: Regelstudienzeit anpassen, individuelle Betreuung sicherstellen, wissenschaftliche Texte in einfache Sprache übersetzen.
Und sie zeigen auch, was es noch braucht: mehr Unterstützung seitens der Politik, etwa zur Frage, wie Nachteilsausgleiche konkret gestaltet werden können, und mehr Geld für Koordinationsstellen, die sich ausschließlich um die betroffenen Studierenden kümmern. So können etwa Hochschulen in Sachsen Sondermittel für Inklusion beantragen. Auch Forschungsprojekte könnten helfen, um die speziellen Bedürfnisse dieser Studierenden zu ermitteln.
Und letztlich braucht es: mehr Geld für mehr Vorbilder. Damit Ottersberg keine Ausnahme bleibt.
Dort hat man trotz der zahlreichen Herausforderungen die Hoffnung, dass andere Hochschulen sich dem Weg anschließen. »Es wird viel über Inklusion geredet. Wir haben jetzt die große Chance, ein Zeichen in der Gesellschaft zu setzen«, sagt Dozent Reich.
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