Bald zwei Jahre ist Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto jetzt im Amt, und in dieser Zeit ist ihm in der Sicherheitspolitik mehr geglückt als den Vorgängerregierungen in mehr als zehn Jahren. Polizei und Militär haben die Chefs fast aller führenden Drogenkartelle geschnappt. Selbst die Zahl der Todesopfer, da stimmen Regierung und Experten überein, ist um rund ein Viertel gesunken. Fast hätte man geglaubt, dass sich wirklich alles zum Besseren wendet.
Aber Ende September wurde ganz Mexiko auf brutale Weise ins Gedächtnis gerufen, wie präsent und mächtig die Mafias im Land sind. Für das böse Erwachen steht Iguala, eine 140.000-Einwohner-Stadt, kaum 200 Kilometer südlich der Metropole Mexiko-Stadt gelegen. Dort geschah offenbar ein unfassbares Verbrechen: 43 Studenten werden vermisst, vermutlich wurden sie unter Mithilfe örtlicher Polizisten ermordet.
Die Studenten waren in Iguala festgenommen worden und anschließend verschwunden (mehr zu dem Fall lesen Sie hier). Offenbar übergab die Polizei die jungen Menschen an die lokale kriminelle Bande "Guerreros Unidos" (Vereinigte Krieger). Die mexikanische Armee und die Bundespolizei übernahmen deshalb die Kontrolle in Iguala und entwaffneten alle örtlichen Polizisten. Am Dienstag wurden 14 weitere städtische Sicherheitskräfte festgenommen. Laut der Generalstaatsanwaltschaft haben sie gestanden, die Studenten an die Bande übergeben zu haben - auch andere Geständnisse sollen das belegen.
Zwei Verdächtige führten die Ermittler zu einem Hügel, bei dem Massengräber mit verkohlten Leichen gefunden wurden. DNA-Tests brachten bisher aber keine Übereinstimmungen mit den vermissten Studenten. Untersuchungen weiterer Gräber und Leichen stehen noch aus. Mittlerweile sind fast 50 Verdächtige in Haft, der Bürgermeister der Stadt ist untergetaucht. Inzwischen suchen rund 1200 Bundespolizisten nach den Verschwundenen.
Selten zuvor hat ein Fall derart deutlich zutage gefördert, wie eng Politik und Gangster mancherorts in Mexiko auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene zusammenarbeiten. In Iguala kooperierte der Bürgermeister offenbar mit den "Guerreros Unidos", zwei seiner Schwager standen im Sold des Beltrán-Leyva-Kartells.
Das organisierte Verbrechen regiert
Die Verhältnisse in Iguala sind Folge einer jahrelangen Entwicklung. Vor allem in ländlichen Gebieten unterwandert das organisierte Verbrechen Teile des lokalen oder bundesstaatlichen Machtapparates oder übernimmt ihn ganz. Meist kontrollieren die Verbrecher die Polizei, den Bürgermeister, selbst Gouverneure. Manchmal aber sind die Staatsdiener gleich selbst Mitglieder der Mafia. Die Übergänge sind fließend. Bestimmte Landstriche sind so vollständig von der organisierten Kriminalität gekapert worden. In Mexiko hat sich dafür die Bezeichnung "Narco-Política" durchgesetzt. Narco-Politik.
Rafael Benítez, Sicherheitsexperte an der Universität UNAM, geht davon aus, dass rund ein Drittel der 31 Bundesstaaten in Teilen vom organisierten Verbrechen regiert werden. Laut Recherchen von Edgardo Buscaglia und seinem Institut "Bürgeraktion" sind die Kartelle in drei Vierteln aller Gemeinden Mexikos präsent - sei es mit Produktpiraterie, Prostitution oder Drogenhandel.
Die Verbrechen von Iguala zeigen, dass das organisierte Verbrechen nicht geschlagen ist, wenn die großen Capos aus dem Verkehr gezogen werden. Die Kartelle sind ein tief verwurzeltes gesellschaftliches und wirtschaftliches Phänomen in Mexiko, das man nicht alleine mit dem Einsatz von integerer Polizei und Militär besiegt. Unter dem Druck der Verfolgung suchen sich die Täter neue Aktivitäten, sagt der unabhängige Sicherheitsberater Alejandro Hope.
13.000 Mexikaner vermisst
Splittergruppen wie die "Guerreros Unidos" arbeiteten früher als bewaffnete Arme großer Kartelle. "Diese regionalen Banden sind nicht in der Lage, den großen internationalen Drogenschmuggel zu betreiben. Aber sie kontrollieren den örtlichen Rauschgifthandel und widmen sich anderen Delikten wie der Erpressung, Entführung und Einschüchterung", erklärt Hope. "Die Menschen vor Ort leiden unter dieser Verbrechensstruktur wesentlich mehr als unter den Schmuggelaktivitäten der Großkartelle".
Diese These lässt sich auch mit Zahlen belegen: Auf dem Höhepunkt des Drogenkriegs im Jahre 2011 starben 27.000 Menschen im Kampf der Kartelle um Routen und Reviere. Dieses Jahr werde die Zahl auf rund 20.000 Opfer sinken, schätzt Hope. Allerdings steigen Delikte wie Verschleppung und Schutzgelderpressung drastisch an. 13.000 Mexikaner gelten offiziell als vermisst.
Auf diese Herausforderung habe die Regierung keine adäquate Antwort, kritisieren alle Experten: "Man muss die Korruption in Politik, Justiz und Polizei unterbinden und die Finanznetze der Mafia zerstören", fordert Edgardo Buscaglia. Unerlässlich sei es zudem, Villen, Firmen und Ländereien der Mafiosi ins Visier zu nehmen und zu verhindern, dass Geld gewaschen wird. Auch der stillschweigende "pacto de impunidad", die Verabredung zur Straflosigkeit zwischen Staat und Verbrechen, müsse beendet werden. Wenn man nur auf Repression als Konfliktlösung setze, betont Buscaglia, werde ganz Mexiko irgendwann vom Militär besetzt sein. "Dann lassen vielleicht Mord und Entführung nach, aber wir haben trotzdem einen Narco-Staat."
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