In seinem ersten Interview bei dieser WM war James Rodríguez, Kolumbiens grandioser Regisseur, kurzfristig irritiert. Nach dem 3:0-Sieg gegen Griechenland in Belo Horizonte zum Auftakt schaute er sich kurz um, zögerte einen Moment und sagte dann: "Das hat sich heute hier angefühlt wie Barranquilla". In der Karibik-Stadt, Heimat von Shakira, haben die Kolumbianer alle Heimspiele in der WM-Qualifikation ausgetragen und den Grundstein für die erste Teilnahme an einem globalen Kräftemessen nach 16 Jahren gelegt.
Viel weniger Fans als in Barranquilla sind es auch in Brasilien nicht, die jedes Spiel der Südamerikaner zu einem Heim-Happening machen. In Belo Horizonte waren es 40.000 Anhänger aus Kolumbien. Gestern Abend beim 4:1-Triumph gegen Japan in Cuiabá waren es nur deswegen 25.000, weil die Arena lediglich 40.000 Zuschauer fasst. Aber Kolumbiens Elf fühlt sich in Brasilien wie daheim. Das Klima ist ähnlich warm und feucht wie in der Karibik - und die Stimmung gleich ausgelassen.
Ähnliche Kommentare wie den von Rodríguez hat man bei dieser bemerkenswerten Weltmeisterschaft ganz oft gehört von den Mannschaften aus der Region. Chiles Stürmer Eduardo Vargas lobte die "verrückten chilenischen Fans", argentinische Termine sind ohnehin himmelblau-weiße Heimspiele. Und selbst die Costa Ricaner, zahlenmäßig die kleinste Anhängergruppe der Latinos in Brasilien, machen auf den Rängen einen Lärm, als wären sie daheim in San José.
"Pura Vida" - pralles Leben, das geflügelte Wort für das Lebensgefühl der "Ticos" passt bei dieser WM auf alle Latinos. Die Mannschaften rauschen beschwingt durch dieses Turnier, erzielen erstaunlich viele Tore und verzaubern Fans und Fachwelt. Bis zum Dienstag haben die neun Vertreter aus Süd- und Zentralamerika 40 Treffer erzielt - und da waren die letzten Spiele Argentiniens, Ecuadors und von Honduras noch gar nicht angepfiffen.
Der Faktor Fans ist einer von drei Gründen, warum die lateinamerikanischen Teams in Brasilien so dominant auftreten. 38.500 Chilenen haben auf den offiziellen Wegen Tickets für die WM gekauft, 54.500 Billets gingen nach Kolumbien, und die traditionell fußballverrückten Argentinier haben 61.000 Eintrittskarten ergattert. Aber vermutlich sind noch einmal so viele Anhänger ohne Karten nach Brasilien gereist: "Es ist eine WM auf unserem Kontinent, da kommen wir auch ohne Tickets, um das Ambiente zu genießen und uns und unsere Mannschaft zu feiern", sagt stellvertretend ein Arzt aus dem argentinischen Mendoza. Diesen Rückhalt spüren auch die Spieler.
Und so ist die Weltmeisterschaft in der Vorrunde eine Copa América geworden, eine Kontinentalmeisterschaft mit ein paar geladenen Gästen. Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko und Uruguay stehen sicher in den Achtelfinals. Ecuador könnte folgen, nur Honduras wird vermutlich ausscheiden. Bei diesem globalen Turnier gilt wortwörtlich die alte WM-Weisheit: In Lateinamerika gewinnen die Latinos.
Dabei überrascht jedoch, wie dominant die Teams aus Süd- und Zentralamerika auftreten. Sie stellen weniger als ein Drittel der Teilnehmer, haben aber über die Hälfte alle Punkte eingefahren. Und es ist vor allem die fußballerische Mittel- und Unterschicht der Region, die die Gegnern das Fürchten lehrt. Kolumbien überrollte jeden Gegner auf dem Weg in die Achtelfinals. Chile spielte Spanien an die Wand und schickte die Weltmeister heim. Mexiko brachte Gastgeber Brasilien an den Rand einer Niederlage und gewann hochverdient gegen Kroatien. Derweil spielt Argentinien bisher eine eher pragmatische WM - mehr Krampf als Klasse. Gastgeber Brasilien brauchte bis zum letzten Gruppenspiel, um in Fahrt zu kommen.
Die Europa-Legionäre spielen groß auf
Neben den entrückten Anhängern ist es auch der Faktor Fußball, der die Stärke der Latinos ausmacht: Costa Rica, Chile, Kolumbien und selbst Mexiko überraschen mit Sport auf der Höhe der Zeit. Die Mannschaften sind physisch stark und beherrschen mehrere taktische Systeme. Und sie praktizieren wunderbarsten Überfallfußball. Zudem verfügen alle Teams inzwischen über Spieler, die den Unterschied ausmachen und ein Spiel entscheiden können.
Zumeist sind das die in Europa ausgebildeten und spielenden Legionäre wie Costa Ricas Torschützen Bryan Ruiz vom PSV Eindhoven und Joel Campbell vom FC Arsenal. Chile verfügt mit Alexis Sánchez (FC Barcelona) und Arturo Vidal (Juventus Turin) sogar über Spieler von internationalem und Weltklasse-Format. Und Kolumbien ist auch ohne Radamel Falcao ein starkes Kollektiv um den jungen Anführer James Rodríguez (AS Monaco) und den Veteranen Mario Yepes (Atalanta Bergamo), den ältesten Feldspieler des Turniers. "Lateinamerikas Fußball steht dem europäischen in Modernität in nichts mehr nach", sagte Costa Ricas kolumbianischer Trainer Jorge Luis Pinto.
Schließlich der Faktor Leidenschaft: Wer einmal bei einem Spiel Brasiliens oder eines anderen Latino-Teams im Stadion war, dem ist die Inbrunst nicht entgangen, mit der Anhänger und Spieler die Nationalhymnen schmettern. Manche Kicker singen unter Tränen. Und fast immer setzen Ränge und Spieler gemeinsam die Hymne a cappella fort, wenn die Musik längst verklungen ist.
Während des Spiels feiern und tanzendie Zuschauer, feuern ihre Mannschaften an und treiben sie so mitunter in einen Spielrausch. Es ist eine Stimmung, aus der Weltmeister gemacht werden.
Aus Datenschutzgründen wird Ihre IP-Adresse nur dann gespeichert, wenn Sie angemeldeter und eingeloggter Facebook-Nutzer sind. Wenn Sie mehr zum Thema Datenschutz wissen wollen, klicken Sie auf das i.
Hilfe Lassen Sie sich mit kostenlosen Diensten auf dem Laufenden halten: