Klaus Ehringfeld

Korrespondent und Reporter für Lateinamerika, Mexiko-Stadt

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Fahrrad fahren in Mexiko-Stadt: Ein bisschen irre muss man sein - SPIEGEL ONLINE

Man hat Flaschen nach mir geworfen, mich zwei Mal fast und einmal ganz über den Haufen gefahren, mir zwei meiner Räder gestohlen. Autofahrer haben mich als armen Schlucker beschimpft und mir gesagt, ich störte den Verkehr. Aber ich liebe es dennoch, durch eine der größten und chaotischsten Städte der Welt mit dem Fahrrad zu fahren. Ist einfach unschlagbar schnell. Und die Nerven werden so schön gekitzelt. Außerdem: Allmählich erkennt man selbst in Mexiko-Stadt die Vorteile des Zweirads.

Im Sommer 2004 habe ich mir mein erstes Fahrrad hier gekauft. Ein No-Name-Mountainbike. Rot mit 18 Gängen. Hat damals eine kleine Werkstatt zusammengebaut, Fahrradgeschäfte gab es noch keine. Gekostet hat es 2250 Peso - mit Tacho und Lampen waren das etwas über 200 Euro damals. Als ich stolz den Laden verließ, sagte der Eigentümer noch mit einem maliziösen Lächeln: "Viel Glück". Ich verstand das damals nicht. Das änderte sich dann schnell.

Vor zehn Jahren war ein Fahrradfahrer in Mexiko-Stadt ein armes Schwein. Er strampelte allein gegen vier Millionen Autos. Ab und zu grüßte mal ein Restaurant-Kurier, der Fleisch vom Metzger holte. Die fuhren auch Fahrrad. Oder die Postboten.

Dass jemand freiwillig Rad fährt, um den Staus zu entgehen, die Umwelt zu schonen oder schlicht aus Spaß an der Freude, konnte sich kaum ein Mexikaner vorstellen. Im Gegenteil: Der "Chilango", der Hauptstadtbewohner also, dachte damals und denkt noch heute: "Der Arme, für vier Räder hat es nicht gereicht." Wer Rad fährt, hat kein Geld für ein Auto, dem hier mit religiöser Inbrunst gehuldigt wird.

Rush Hour den ganzen Tag

Dabei ist das Fahrrad hier als Transportmittel eigentlich wunderbar geeignet. Mexiko-Stadt ist platt wie ein Maisfladen, Wind weht nur selten. Außerdem steht man hier mit dem Auto mehr als man fährt. Zehn Kilometer pro Stunde bewegt sich der Verkehr in der Rush-Hour vorwärts. Und die ist eigentlich immer zwischen 6 und 21 Uhr.

Radfahren ist in Mexiko-Stadt noch immer ein Bekenntnis zum Wagemut. Manche meiner Freunde meinen, ich sei ein Gefahrensucher, andere halten mich für schlicht durchgeknallt. Doch die Stimmung ändert sich: Seit zwei Jahren gilt es plötzlich als chic, Fahrrad zu fahren. Jedenfalls in den hippen Stadtteilen. Angefangen hat alles mit dem früheren linken Bürgermeister Marcelo Ebrard. Der hatte vor einigen Jahren die Vision einer anderen Stadt als jener von doppelstöckigen Stadtautobahnen und freier Fahrt für freie Bürger: "Wir müssen den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen und die Stadt für die Menschen zurückerobern".

Ebrard ließ neue Konzepte für den Nahverkehr entwickeln mit öffentlichen Buslinien, Fußgängerzonen und einem Fahrrad-Leihsystem nach europäischem Vorbild. Vor allem dieses "Eco-Bici" boomt.

Das Leihradsystem, das mittlerweile rund ein Viertel der Bezirke von Mexiko-Stadt miteinander verbindet, ist das Transportmittel mit den höchsten Zuwachsraten. Zwischen Januar und März hat "Eco-Bici" 23.300 Fahrten pro Tag gezählt. Mittlerweile gehören Menschen in Anzügen, Sportklamotten oder Abendoutfit, die sich auf den kleinen roten Rädern durch den Moloch kämpfen, zum festen Bild. Und günstiger als Taxi, Bus und eigenes Auto ist es allemal.

Die Chilangos haben das Rad auch als Freizeit- und Vergnügungsmittel entdeckt. Jeden Sonntag wird der Prachtboulevard "Reforma" von acht bis 14 Uhr von Autos befreit. Zehntausende Radler und Skater kapern die Avenida.

Geklaute Teile werden auf halblegalen Märkten verscherbelt

Kein Business boomt in Mexiko-Stadt so sehr wie das von Fahrradgeschäften. Im Monatsrhythmus öffnet irgendwo ein neuer Laden. Von mexikanischen Herstellern bis zu teuren Profi-Radmanufakturen ist alles dabei.

Doch den Hype um das Bike haben längst auch die Delinquenten erkannt. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit konnte man selbst die teuersten Räder mit einem kleinen Schloss sicher anschließen. Mittlerweile aber steigt die Zahl der Diebstähle rasant an. Schlösser werden geknackt, Vorderräder abmontiert, Radler mit vorgehaltener Waffe vom Sattel gebeten.

Auf Facebook gibt es eine eigene Seite "Gestohlene Räder in Mexiko-Stadt", die ständig mit neuen Einträgen gefüttert wird. Vergangenes Jahr wurden im Schnitt jeden Tag drei Räder in Mexiko-Stadt gestohlen. Dieses Jahr sind es täglich zehn. Sie werden dann als Ganzes oder in Einzelteilen auf den unzähligen halblegalen Märkten verkauft, wo man von Waffen bis Viagra alles bekommen kann.

Manchmal gehen die Diebe besonders dreist vor. Sie verwickeln dich geschickt in ein Gespräch über Räder, bieten Hilfe an. Dann fragen sie dich, ob sie mal eine Runde drehen dürfen... na ja, man ahnt es schon.

Ich war so unbedarft und habe dem Kerl mein fast neues Marken-Mountain-Bike für einen Moment überlassen: "Ich fahr mal ne Runde um den Block", sagte er, rückte den Helm zurecht und trat in die Pedale wie Lance Armstrong auf verbotenen Substanzen. Ich habe dann noch lange da gestanden und gewartet, dass er von der Runde wieder um die Ecke kommt.

Jedes Mal, wenn ich die Geschichte Freunden erzähle, ernte ich große Heiterkeit. Und vor Kurzem erst habe ich mir ein neues Rad gekauft. Ist jetzt wieder No-Name.

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