- Es ist eine Geschichte, die sich wacker hält: Wer zur Psychotherapie geht, wird später nicht verbeamtet.
- Viele Lehramtsanwärter und -anwärterinnen verzichten deswegen ganz auf eine Behandlung oder zögern sie hinaus – mit fatalen Folgen.
- Über die Kraft der Stigmatisierung psychischer Krankheiten.
Es ist eine Geschichte, die unter Lehramtsanwärtern und -anwärterinnen häufig erzählt wird: Wer eine Psychotherapie macht, wird später nicht oder nur sehr schwer verbeamtet. Und weil Lehrkräfte im Angestelltenverhältnis deutliche Nachteile im Gegensatz zu ihren verbeamteten Kollegen haben, verzichten Anwärter oft darauf, sich bei Krisen professionelle Hilfe zu holen.
Das bestätigt auch Christiane Maurer, Leiterin der Psychologisch-Therapeutischen Beratung für Studierende (ptb) in Hannover: „Als ich vor zehn Jahren hier anfing, war das noch ziemlich verbreitet", sagt sie. „Heute ist das etwas weniger, aber natürlich gibt es immer noch Studierende, die direkt fragen, ob sie sich damit den Weg zur Verbeamtung verbauen."
Dabei ist das Risiko zu erkranken hoch: Psychosomatische und psychische Leiden sind laut einer Studie zur Lehrergesundheit (2015) im Lehramt häufiger als in anderen Berufen. Auch sind sie der Hauptgrund für frühzeitige Pensionierungen.
Ein Grund dafür: „Die Bereitschaft, über das reguläre Arbeitspensum und über seine Belastungsgrenzen hinauszugehen, sind im Lehrerberuf sehr stark ausgeprägt", sagt der Vorsitzende des Philologenverbands, Georg Hoffmann. „Das Berufsethos ist sehr hoch." Aber auch andere Faktoren, wie die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, führen zu einer andauernden sensorischen Überstimulation, welche die physiologischen Parameter in die Höhe treibe, stellt Psychotherapeut Michael Mehrgardt im Deutschen Ärzteblatt fest. Dauerstress also.
Das Ergebnis ist eine hohe emotionale Erschöpfung - ein zentrales Burn-out-Symptom. Während die Studie von 2015 die Betroffenen noch auf 3 bis 5 Prozent schätzt, rechnet eine aktuelle Untersuchung von 2020 mit dramatisch höheren Zahlen: „Fast 30 Prozent der Lehrkräfte berichteten von einer hohen Erschöpfung - sie waren burn-out-gefährdet", heißt es dort. Besonders bedroht - unabhängig von Schulart, Alter und Geschlecht - seien Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst, also Referendare und Referendarinnen.
Wer dann therapeutische Hilfe in Anspruch nimmt, befürchtet häufig, seine berufliche Zukunft zu gefährden. Dabei ist das eher unwahrscheinlich: „Früher war das ein erhebliches Problem", sagt Matthias Albers, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Köln. „Ein Restrisiko gibt es noch, aber es ist inzwischen sehr unwahrscheinlich, dass jemand wegen einer Psychotherapie nicht verbeamtet wird." Als Amtsarzt führt er Einstellungsuntersuchungen durch und entscheidet mit seiner Prognose, wer verbeamtet wird und wer nicht.
„Es ist nicht mehr so, wie es manchmal in einigen Foren rumwabert: Sobald man irgendwo einen Eintrag über eine Psychotherapie in seiner Akte hat, war's das mit der Verbeamtung", sagt auch Hoffmann. „Andererseits kann aber auch nicht garantiert werden, dass der Hinweis auf eine Psychotherapie ausnahmslos unproblematisch ist." Fachärztliche Gutachten von Therapeuten und Therapeutinnen könnten aber die Verbeamtung unterstützen.
Gefährdet ist die Verbeamtung aber nur dann, wenn der Amtsarzt mit einer überdurchschnittlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert, dass es zu einer Dienstunfähigkeit kommen wird. Diese Hürde hatte das Bundesverwaltungsgericht mit einem Urteil 2013 festgelegt. Damit sei es fast unmöglich, nicht verbeamtet zu werden - trotz Psychotherapie. „Selbst bei schwerwiegenderen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie rechnet man nur mit einer 30-prozentigen Wahrscheinlichkeit für einen dauerhaft beeinträchtigenden chronischen Krankheitsverlauf", sagt Albers.
Und selbst, wer eine schwerwiegende Erkrankung hat, habe seit einer Gesetzesänderung die Möglichkeit, sich verbeamten zu lassen: „Wer eine schwere psychische oder körperliche Erkrankung hat, kann einen Schwerbehindertenausweis beantragen. Dann ist ohnehin alles ausgehebelt und man muss im Rahmen der Gleichstellung Behinderter keine weiteren Probleme befürchten", sagt Albers. „Das wirkt leicht absurd. Aber so ist es."
Die Angst, wegen einer Psychotherapie diskriminiert zu werden, sei aber nicht ganz unbegründet. „Viele Versicherungen, die man bis dahin nicht hatte, bekommt man auch nicht mehr - oder man muss deutlich mehr bezahlen", sagt Albers. In der Regel sind Beamte und Beamtinnen in Deutschland bei einer privaten Krankenkasse (PKV) versichert. Dort aufgenommen zu werden ohne hohe Risikoabschläge zahlen zu müssen sei nach einer Psychotherapie aber gar nicht so einfach.
„Private Krankenkassen funktionieren anders als gesetzliche", sagt Christian Arns, Sprecher der Debeka, eine der größten privaten Krankenversicherer in Deutschland. Rund jeder vierte Beamte und jede vierte Beamtin sind dort versichert. „Gesetzliche Krankenkassen arbeiten mit dem Solidaritätsprinzip, private mit dem Äquivalenzprinzip", sagt Arns. „Es geht um das individuelle Risiko und die gewählten Leistungen. Das heißt, das Risiko zu erkranken wird für jeden individuell kalkuliert beziehungsweise geprüft."
Vorübergehende Krise oder lebenslange StörungGar nicht aufgenommen zu werden sei allerdings unwahrscheinlich. Viele private Kassen hätten eine freiwillige Selbstverpflichtung, nach der auch Menschen aufgenommen würden, die normalerweise nicht versichert werden würden. „Das kommt auch daher, weil man den privaten Krankenversicherungen früher vorgeworfen hat, sich nur die Rosinen rauszupicken", sagt Arns.
Bei psychischen Leiden würden, laut Arns, dieselben Maßstäbe gelten wie bei anderen Erkrankungen. „Die Frage ist immer: Ist das ein vorübergehender Zustand oder eine lebenslange Sache?", sagt er. „Wer sich etwa in einer Krise therapeutische Hilfe holt, wird keinen Risikoabschlag zahlen müssen. Bei lebenslangen Störungen wie Bipolarität wahrscheinlich schon." Der sei aber auf höchstens 30 Prozent begrenzt.
Aber auch, wenn die tatsächlichen Folgen einer Psychotherapie für Lehrerkarrieren weniger verheerend sind als noch vor ein paar Jahren - das Gerücht hält sich wacker. Und wer Angst hat, seine berufliche Zukunft zu gefährden, wird sich erst spät oder gar nicht behandeln lassen.
Das kann fatale Auswirkungen haben: „Auch leichtere Erkrankungen, wie Angststörungen, können ausgesprochen schwerwiegende Verläufe nehmen, wenn sie unbehandelt bleiben", sagt Albers. „Das ist auch eine Frage des Vermeidungsverhaltens: Einige haben immer wieder heftige Panikattacken und können trotzdem ihren Alltag bewältigen, andere sind schon nach wenigen Attacken nicht mehr in der Lage, auch nur zum Briefkasten zu gehen."
Und in der Regel gilt: Wer aufschiebt, chronifiziert. Albers empfiehlt daher unbedingt sich Hilfe zu holen, wenn es notwendig ist: „Auch, wenn es nachteilig sein kann, eine Psychotherapie gemacht zu haben - das Risiko, dass es einem ohne diese Behandlung wesentlich schlechter geht, ist höher", sagt er.
Menschen mit psychischen Erkrankungen erfahren immer noch Stigmatisierung in der Gesellschaft - das stellt auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) fest. Aber in anderen Berufen ist der Druck, eine möglichst krankheitsfreie Vergangenheit zu haben, oft geringer, weil der Arbeitgeber nicht zwangsläufig davon erfährt.
„Es bedarf noch einiger Aufklärungsarbeit", sagt auch Hoffmann. „Letztlich geht es ja darum, gesund zu sein und gesund zu bleiben. Da sollten keine Steine in den Weg gelegt werden." Hierzu gehöre aber auch, dass sich Anwärter und Anwärterinnen bewusst machen, dass der Lehrerberuf ein anspruchsvoller Beruf sei, für den man psychisch und physisch fit und stabil sein sollte.
Wer eine Therapie in Anspruch nehmen wolle, solle sich beraten lassen: „Das kann man bei den Lehrerverbänden und Gewerkschaften machen. Auch Ärzte sind für dieses Thema sensibilisiert", sagt Hoffmann. „Wenn man merkt, dass da irgendwas ist, wo man sich Hilfe holen muss, dann sollte man das auch tun."
In der Lehramtsausbildung sieht er noch Verbesserungsbedarf beim Thema psychische Krisen: „Ich denke, dass es für Berufseinsteiger mehr Angebote geben sollte", sagt Hoffmann. „Auch sollte man keine Angst haben müssen, dass man als nicht belastbar gilt und stigmatisiert wird, wenn man solche Angebote wahrnimmt."
Schulbezogene Präventionsmaßnahmen seien dringend notwendig, um die Arbeitsfähigkeit und Gesundheit der Lehrer und Lehrerinnen längerfristig zu erhalten. „Lehrer benötigen einen modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz. Da besteht großer Unterstützungsbedarf", sagt Hoffmann.