Kilian Kirchgeßner

Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, Prag

1 Abo und 3 Abonnenten
Radio-Beitrag

Warum gedenkt eigentlich keiner?

ORF - 25 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs ist die „Samtene Revolution“ in Tschechien oft ein Reizbegriff: Die einstigen Dissidenten haben für viele an Glanz verloren und selbst ranghohe Politiker stellen die Frage, ob man wirklich das erreicht habe, wofür das Land vor 25 Jahren eingetreten sei. Eine Initiative in Prag will das Gedenken vom Kopf auf die Füße stellen – ihr „Samtener Karneval“ soll eine bombastische Feier der neuen Freiheit werden.



Es wird noch eifrig gefeilt und gemalt in der Werkstatt. Masken hängen an der Wand, es sind schaurige Köpfe aus Pappmaché, im Raum steht ein riesiges rotes Sofa. Wie bei einem Karnevalsumzug wollen die Teilnehmer diese Accesoires durch Prag tragen, am großen Nationalfeiertag. Die Idee mit dem Sofa stammt von Lukas Silc.

 

Einspielung

Ich beobachte häufig, dass die Leute sich wieder auf ihre Couch zurückziehen; dass sie von dort aus auf die Gesellschaft und die Politik schimpfen, aber selbst nicht aktiv werden. Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, in den Menschen die Sehnsucht zu wecken, etwas zu ändern.

 

„Samtene Kirmes“ ist die Aktion überschrieben – in Anlehnung an die Samtene Revolution, wie in Prag die Geschehnisse vom 17. November 1989 heute genannt werden; jene Tage, an denen das kommunistische Regime zusammenbrach. Es sind Bürgerinitiativen, die an dem großen Festumzug durch Prag teilnehmen. Organisatorin des Spektakels ist Olga Cieslarova.

 

Einspielung

Der 17. November ist ein Tag, an dem die Leute das Bedürfnis haben zu feiern. Es gibt in der Stadt an diesem Datum traditionell Demonstrationen auf der einen Seite und Kranzniederlegungen auf der anderen Seite, aber wir wollen einfach die Demokratie feiern – sie ist das beste, was wir haben. Aber zugleich bringt sie eben Probleme mit sich.

 

Genau das ist der Grund, weshalb sich Bürgerinitiativen an dem Spektakel beteiligen. Sie wollen den Finger in die Wunden legen, die auch nach 25 Jahren noch nicht verheilt sind. Olga Cieslarova:

 

Einspielung

Wir möchten einen großen Überblick bieten über das, was der Gesellschaft auf den Nägeln brennt. Beteiligt sind deshalb die Initiativen, die sich seit langer Zeit mit einem Problem beschäftigen – sei es der Umweltschutz, sei es die Bildung, seien es Minderheitenfragen. Sie heben dieses jeweilige Thema mit einer künstlerischen Darstellung auf eine satirische Ebene – und präsentieren sich so, dass sie die Zuschauer für das Thema interessieren.

 

Mit der Aktion befeuern die Initiatoren eine leidenschaftlich geführte Debatte.

 

Einspielung Atmo Demonstration 1989

 

Die Bilder von jener Studentendemonstration auf der Prager Nationalstraße, die vor 25 Jahren die lang ersehnte Demokratie einläutete, sind in Tschechien im Jubiläumsjahr allgegenwärtig. Die Lesart der historischen Ereignisse ist aber selbst in der hohen Politik erstaunlich nüchtern: Die Freiheit hat uns nicht das gebracht, was wir uns erhofft haben – diese Feststellung ist momentan häufig zu hören. Viele Tschechen haben inzwischen ein nüchternes Verhältnis zu dem Tag, der ihnen die Freiheit gebracht hat.

 

Einspielung Havel, Havel-Rufe

 

In der Diskussion ist immer wieder auch Vaclav Havel – jener Dissident, den die Menschenmenge auf dem Wenzelsplatz vor einem Vierteljahrhundert hat hochleben lassen und der kurz darauf der erste demokratische Staatspräsident wurde. Im Ausland wird er als Freiheitskämpfer verehrt, als unsterblicher Held – in Tschechien jedoch stehen ihm viele kritisch gegenüber. Zuletzt schmähte ihn sein Amtsnachfolger Vaclav Klaus: Havel sei nichts weiter gewesen als ein Reformkommunist, schimpfte er vor ein paar Tagen in einem Interview. Klaus, der bis vor einem Jahr Präsident gewesenist, grenzte sich darin vehement von Havel ab. Viele der jungen Prager finden diese Rhetorik abstoßend; für sie ist Vaclav Havel nach wie vor ein Held. Die aktuelle Debatte verfolgen sie deshalb mit einem Kopfschütteln – der Fest-Umzug durch die Stadt soll auch das deutlich machen. Martin Pehal, einer der Organisatoren:

 

Einspielung

Natürlich gibt es vieles in unserem Land, womit ich nicht zufrieden bin. Aber das sind doch partikuläre Probleme! Sie sollten dazu dienen, dass wir sie lösen und an ihnen wachsen. Wir haben eine demokratische Gesellschaft – und dass jetzt manche die Frage aufwerfen, ob wir tatsächlich etwas zu feiern hätten, das kommt mir absurd vor.

 

Mehr als ein Dutzend Bürgerinitiativen sind bei der Aktion dabei – manche erinnern an die politischen Gefangenen, andere kritisieren den Russland-freundlichen Kurs der aktuellen Prager Regierung oder setzen sich für die Rechte von homosexuellen Paaren ein. Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist die Korruption. Eine der Masken zeigt den inzwischen abgewählten Prager Oberbürgermeister, der immer wieder mit kriminellen Machenschaften in Verbindung gebracht wird. Hinter der Maske steckt beim „Samtenen Karneval“ eine junge Aktivistin – sie übt schon einmal für ihren Auftritt.

 

Einspielung

Danke, dass Sie mich eingeladen haben. Ich möchte allen Pragern danken, die mit ihren finanziellen Mitteln dazu beigetragen haben, dass ich mich bald aus der Politik zurückziehen kann. Es gibt ja Gerüchte, dass ich bald vor Gericht stehen werde, aber ich kann Ihnen nur sagen: Glauben Sie das nicht, dem ist nicht so!

 

Der sarkastische, schwarze Humor ist eine der schärfsten Waffen der Bürgerinitiativen. Martin Pehal, der Mit-Organisator, sieht genau darin eine Verbindung zu Vaclav Havel.

 

Einspielung

Er hatte ja die Idee von der nicht-politischen Politik aufgebracht – einer Politik, in der nicht nur die Parteien eine Gesellschaft gestalten, sondern in der es eine Selbstregulation gibt, in der man gemeinsam entscheidet, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt. Ich bin optimistisch, weil ich sehe, dass dieses Modell bei uns immer dominanter wird; die Zivilgesellschaft hat gerade in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Das hat sicher damit zu tun, dass eine neue Generation heranwächst, die nicht mehr aus der kommunistischen Zeit deformiert ist.

 

Aufblendung Atmo aus der Werkstatt

 

Der Wagen mit dem roten Sofa, der beim großen Festumzug mit dabei sein soll, ist fast schon fertig. Olga Cieslarova, die Mit-Organisatorin, ist begeistert von der Couch als Sinnbild für den Rückzug ins Private.

 

Einspielung

Bei dem Umzug werden die Darsteller rund um das Sofa herumstehen und sich vor ihm verbeugen. Das Sofa – das ist der sicherste Platz der Welt, an dem einem nie etwas passiert! Ich finde, das bringt zwei typisch tschechische Eigenschaften zum Ausdruck: Zum einen die Ironie und der Hang zur Übertreibung – und zum anderen eben die Bequemlichkeit.

 

Es wird Zeit, da sind sich die Initiatoren einig, dass sich in der tschechischen Gesellschaft wieder etwas bewegt – jetzt, 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.