Kilian Kirchgeßner

Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, Prag

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Radio-Beitrag

Tschechiens Revier im Aufbruch

Bayerischer Rundfunk - Ostrava ist eine Stadt der traurigen Rekorde: Nirgendwo in der Tschechischen Republik ist die Luft schmutziger als hier, nirgends schlägt der Strukturwandel härter zu. Kulturell und wirtschaftlich hat die Stadt aber einiges zu bieten.



Schmutzig ist es immer noch, daran hat sich nichts geändert. Petr Danninger steht oben am Ausgang aus dem Schacht, mitten im Bergbau-Revier von Ostrava, und bedient den Aufzug. Heute sind es keine Kollegen, die er aus den Stollen ans Tageslicht befördert, sondern Kinder – ein Schulausflug mit Abenteuer-Garantie. Petr Danninger hat sich über sein T-Shirt eine dunkle Grubenjacke geworfen, er erzählt inmitten des Trubels von früher.

 

OTON 01

Die Vielseitigkeit ist es, die diesen Beruf ausmacht. Man muss alles gleichzeitig beherrschen: Du bist Elektriker, Schlosser, Rettungssanitäter; jeden Tag erlebst du was Neues.

 

Danninger ist um die 60 Jahre alt, ein drahtiger Mann mit kurzen Haaren; mehr als die Hälfte seines Lebens hat er im Untertagebau gearbeitet. Der alte Stollen Anselm ist heute ein Museumsbergwerk. Alte Kumpel wie Petr zeigen den Besuchern nun ihre einstige Arbeit.

 

ATMO Gitterschließen, Rumpeln

 

Per Lastenaufzug geht es unter die Erde. Mit Holzträgern sind die Gänge gestützt, im Gestein links und rechts sind noch Reste von Kohle zu sehen. Glühbirnen setzen die Szenerie in ein gespenstisches Licht.

 

OTON 02

Das eigentliche Abbauen der Kohle war lange Handarbeit. Da vorne sehen Sie die lebensgroße Puppe in dem schmalen Gang liegen – so haben die Jungs früher die Kohle abgebaut. Ein Zweiter hat sie auf die Rutsche gelegt und so zu den Waggons gefördert, in denen die Kohle dann ans Tageslicht gefahren worden ist.

 

ATMO Rufen

 

Die Rufe der Arbeiter indes kommen heute nur noch aus den Lautsprechern: In Betrieb ist Schacht Anselm schon lange nicht mehr, genausowenig wie die meisten anderen Kohlegruben in Ostrava. Was noch in den 90er Jahren ein florierendes Geschäft mit Milliardenumsätzen war, lohnt sich heute nicht mehr. Nur wenige der alten Schächte sind noch in Betrieb, alle anderen haben zugemacht.

 

ATMO Autobus, Fahrtgeräusche, Stationenansage

 

Wer heute mit dem Bus vom Bergbaumuseum hinein ins Zentrum der Region fährt, in die 300.000-Einwohner-Stadt Ostrava, der sieht vor den Fenstern die Überreste der Industrialisierung: Kilometerweise ziehen Industriebrachen vorbei; Fördertürme, die nicht mehr gebraucht werden, Beton- und Stahlskelette, Schornsteine – das Panorama der Schwerindustrie zieht sich bis zum Horizont. Diese mächtigen Monumente sind untrennbar mit der Stadt verbunden – und sie geben ihr ihren rauen Charme, sagt Ilona Rozehnalova.

 

OTON 03

Man muss wohl hier geboren sein, damit einem das gefällt. Hier gibt es Vogelschutzgebiete, die unter europäischem Naturschutz stehen, und direkt daneben ist eine Halde, da ragen Kamine auf – uns gefällt das. Ich glaube, wenn jemand aus Prag käme, der würde gar nicht erkennen, wie schön das eigentlich ist (Lachen).

 

Ilona Rozehnalova sitzt in ihrem Antiquariat im Zentrum von Ostrava, ein schmaler Laden ist es, der langgestreckt weit ins Haus hinein ragt. Um sie herum türmen sich Zeitschriften und Bücher über die Stadt – viele hat sie selbst herausgegeben.

 

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Ich bin in Ostrava geboren. Und weil wir eine komplizierte Familiengeschichte hatten – ich bin mit mehreren Vätern aufgewachsen -, bin ich so durch die ganze Stadt gekommen. Ich habe in vielen Vierteln und Vorstädten gewohnt. Darüber bin ich eine Patriotin geworden, eine Patriotin für Ostrava.

 

Heute geht Rozehnalova auf die 40 zu, sie ist mit ihrem Antiquariat eine Institution geworden – im neuen Ostrava, in dem nicht mehr die alten Kohlengruben im Mittelpunkt stehen. Ostrava ist mitten in der Selbstfindung: Der Strukturwandel in der drittgrößten Stadt Tschechiens gilt als eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen in Mitteleuropa: Die Arbeitslosigkeit ist nach vielen Grubenschließungen immer noch hoch, die Minderheit der Roma ist hier stärker vertreten als in anderen Landesteilen – die Integration ist nicht einfach, die Luft ist an vielen Tagen von dichtem Smog verschmutzt. Aber es gibt eben längst nicht mehr nur Probleme, sondern immer öfter gute Nachrichten. Endlich, sagt die Antiquarin Rozehnalová, mischen die sich Leute aus Ostrava ein: Sie kämpfen für den Erhalt historischer Gebäude, für bessere Luft oder gegen ein neues Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Solcher Bürgergeist ist alles andere als selbstverständlich in einer Stadt, die lange Jahre geprägt war von Zuzüglern, die für die Arbeit hier in den Osten gekommen sind und oft keine Wurzeln geschlagen haben.

 

ATMO

 

Eines der Zentren der neuen Bürger-Aktivität ist das Antiquariat von Ilona Rozehnalová. Stolz geht sie durch ihr Reich, das sich auf drei Etagen erstreckt. Im Keller sind Stühle aufgebaut, in dem kleinen Saal finden einhundert Gäste Platz.

 

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Ich habe schon am Gymnasium Kulturaktionen veranstaltet, Lesungen und Literaturkreise. Irgendwann habe ich mir gedacht, das könnte ich hier auch machen. Der Platz ist schließlich da, wir haben 300 Quadratmeter und davon umfasst das eigentliche Antiquariat nur ein Drittel.

 

Bei ihren abendlichen Diskussionen geht es mal um den Denkmalschutz in Ostrava, mal stellen Künstler aus der Region ihre Werke vor. Architekturkritiker halten Referate und manchmal erzählen Wissenschaftler von der örtlichen Uni etwas über japanisches Theater. Für Ilona Rozehnalova machen gerade solche Veranstaltungen, wie sie allenthalben in den Hinterzimmern sprießen, Ostrava so lebenswert:

 

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Ich habe schon ein paar Mal darüber nachgedacht, warum wir eigentlich hierbleiben, obwohl zum Beispiel die Luft so schlecht ist in Ostrava. Aber Prag – da gibt es zwar etliche Kulturaktionen, aber die Stadt ist einfach so groß. In Ostrava triffst du auf der Straße deine Freunde. Und die Kulturszene ist so lebendig, dass es nicht nötig ist, irgendwo anders hinzugehen.

 

ATMO

 

Es sind verblüffende Blüten, die das Kulturleben in der alten Bergbaustadt heute treibt. Zur mitteleuropäischen Hauptstadt der Neuen Musik hat sich Ostrava in den vergangenen Jahren entwickelt. Alle zwei Jahre findet ein Festival der experimentellen Musik statt, zusätzlich gibt es eine Biennale der Neuen Oper und regelmäßig treffen sich Künstler aus aller Welt zu Workshops. Dahinter steckt Petr Kotik – der Musiker ist 72 Jahre alt und zählt zu den führenden Köpfen der Neuen Musik. Sein Lieblingskomponist ist der US-Amerikaner John Cage, dessen Werk er in Ostrava auf die Bühne gebracht hat.

 

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Wir haben das Festival mit der Oper von John Cage eröffnet. Zum überhaupt ersten Mal ist sie bei uns so aufgeführt worden, wie sie gedacht war – in einem klassischen Theater. Woanders wäre das nicht möglich gewesen! Stellen Sie sich vor, John Cage im Prager Nationaltheater - undenkbar! Die hätten uns in Prag irgendwo in eine Industrieruine am Rand der Stadt verwiesen!

 

Die Geschichte von Petr Kotik, dem Dirigenten und Flötisten, und Ostrava ist eine Geschichte der Wiederentdeckung: In den 60er Jahren ging er aus der Tschechoslowakei ins Exil in die USA, er spielte dort zunächst in einem Ensemble in Buffallo. Nach der Wende kehrte er immer häufiger zurück in seine tschechische Heimat und gründete schließlich in Ostrava das Zentrum für Neue Musik. Warum gerade dort, im tiefsten Osten des einstigen sozialistischen Landes? Petr Kotik denkt kurz nach.

 

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Ich hatte nie eine Beziehung zu Städten. Mein Bezug zu bestimmten Orten – sei es zu Prag, zu New York, zu Rio de Janeiro oder zu Ostrava – besteht immer aus Kontakten zu Leuten, die dort leben und arbeiten, die den Ort so gestalten wie er ist. Ostrava erinnert mich in vielen Punkten an Buffallo: Hier wie dort gibt es keinen Provinzialismus. Wissen Sie, was ich meine? In vielen großen Städten wie Prag, Berlin oder Boston, da treffen Sie diesen Provinzialismus an – diese Eingenommenheit vieler Bewohner, die von sich und ihrer Stadt Gott-weiß-was denken. Ostrava denkt aber gerade nicht Gott-weiß-was von sich.

 

Diese Unaufgeregtheit der Stadt, gepaart mit einer Offenheit für Neues – das sei es, was Ostrava ausmache, sagt Petr Kotik. Zu seinen Festivals reisen Besucher aus aller Welt an, selbst aus Amerika gibt es jedes Mal Gäste. Und die Leute in Ostrava? Die, sagt Kotik, kämen inzwischen auch.

 

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Ohne die Zuhörer vor Ort würde das gar nicht gehen! Das ist wie eine Fußballmannschaft: Wenn da die Einheimischen nicht zu den Spielen gehen, dann kann das nicht funktionieren. Im ersten Jahrgang hatten wir Konzerte, zu denen nur 15 Leute gekommen sind. Heute sind die Konzerte oft ausverkauft – wenn man konstant gute Arbeit macht, dann findet man eben sein Publikum.

 

Tomas war noch nie auf einem dieser Konzerte. Mit dem neuen Ostrava kann er wenig anfangen; er ist einer von denen, die noch verwurzelt sind in der alten Zeit: Tomas arbeitet noch unter Tage. In Wirklichkeit heißt er anders, aber er will lieber nicht, dass ihn aus der Firma jemand erkennt.

 

ATMO Atmo Pizzeria, Begrüßungsszene

 

In einer Kneipe hat er sich mit Freunden verabredet. Es war ein langer Arbeitstag, er sieht müde aus. Im Gespräch geht es wie so oft um die Arbeit.

 

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Was wir da unten machen, das kann sich niemand vorstellen, der das nicht kennt. Es ist richtig gefährlich geworden, viele Stollen sind einsturzgefährdet. Früher konnten wir auch mal unsere Frauen mitnehmen, die Söhne und Töchter, manchmal auch Bekannte. Aber heute geht das nicht mehr, die lassen niemanden mehr rein – nicht, dass jemand unten bleibt.

 

Fünf oder sechs Kollegen seien in diesem Jahr schon gestorben, sagt Tomas – das waren keine großen Grubenunglücke, sondern kleine Unfälle, manchmal aus Unachtsamkeit. Tomas ist ein Schrank von Mann, Schultern und Brustkorb wie ein Bodybuilder, die Haare kurzgeschoren. Um die 50 Jahre alt ist er, mit seinem Beruf hat er angefangen, da gab es noch die CSSR, die tschechoslowakische sozialistische Republik

 

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Ich hatte keinen Schulabschluss und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Also bin ich in den Schacht. Natürlich wusste ich, dass das harte Arbeit ist. Aber ich wusste auch, dass es super bezahlt ist. Als ich meine erste Lohntüte bekam , habe ich meinen eigenen Augen nicht getraut: Das war richtig viel Geld. Man hat damals gesagt: Wer Bergmann ist, der hat Geld. Und am Anfang war ich noch auf der niedrigsten Gehaltsstufe! Dann bildest du dich nach und nach weiter, und entsprechend kriegst du immer mehr Geld. Selbst wenn ich damals den ganzen Monat in der Kneipe gesessen hätte, so viel hätte ich gar nicht verprassen können! Aber ich habe zum Glück nie getrunken - also getrunken natürlich schon, aber nicht einen ganzen Monat lang! (Gelächter ringsum)

 

Die Freunde am Tisch stimmen in Tomas’ Lachen ein. Viele von ihnen erinnern sich noch gut an die Zeit, von der er erzählt: Das kommunistische Regime hofierte die Schwerarbeiter; wer unter Tage arbeitete, musste nicht zum zweijährigen Militärdienst. Und er verdiente so viel Geld, dass die Ehefrau meistens zu Hause bleiben konnte – eine große Ausnahme im Sozialismus. In Ostrava, so erzählen sich die Einheimischen heute noch, gab es damals in den Geschäften die teuersten Produkte, die sonst allenfalls noch in Prag zu bekommen waren – die Kaufkraft der Leute hier im Osten der damaligen Tschechoslowakei war für damalige Verhältnisse gewaltig. Der Preis dafür allerdings auch – in jeder Hinsicht:

 

OTON 12

Ostrava war wirklich schwarz! Wir haben immer gesagt, wenn einer mit ´ner weißen Jacke durch die Stadt geht und es fängt an zu regnen, dann kann er sie wegschmeißen. Die ließ sich nicht mehr waschen!

 

Selbst darüber schmunzeln sie hier am Tisch, die Runde aus Freunden und Familie – der Dreck, der überall in der Luft hing, hat ihnen nichts ausgemacht, er gehörte einfach irgendwie dazu. Diese schwarzen Jahre werden für Tomas im Rückblick zur goldenen Zeit von Ostrava.

 

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Solange der Staat die Minen betrieben hat, ging es hier fröhlich zu. Naja, und dann kam die Privatisierung in den 90er Jahren. Die haben ganze Betriebe für eine symbolische Krone verkauft. Das ist unglaublich, wie der Staat das alles verschleudert hat, den ganzen nationalen Reichtum. Wir haben gestreikt, aber gebracht hat das nichts.

 

Es waren die Jahre, in denen der lange Abstieg der Industriestadt allmählich begann. Ein Stollen nach dem anderen wurde als unrentabel geschlossen. Als er im Bergbau  angefangen hat, sagt Tomas und brummt missmutig, habe es in Ostrava noch 120.000 Kumpel gegeben; heute seien es nur noch gut 20.000.

 

ATMO Bestellung bei Kellnerin

 

Ein Bier bestellt sich Tomas noch; die Kneipe hat sich gefüllt, aber er muss gleich aufbrechen. Früher wurde hier ausgelassen gefeiert, heute ist die Stimmung fast immer gedämpft. Auch Tomas bereitet sich in Gedanken schon auf die nächste Schicht vor; es wird die härteste im ganzen Monat.

 

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Am Sonntag gehe ich in einen Bereich des Schachts, da herrschen 45 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Wenn dir da aus Versehen die Maske runterfällt, atmest du einmal ein und es ist vorbei mit dir. Aber für so eine Schicht kriege ich mehr als sonst in einer ganzen Woche. Und irgendeiner muss das ja machen.

 

Man habe sich in den vergangenen Jahren unter Wert verkauft, sagt Tomas noch zum Schluss, und am Tisch nicken sie zustimmend: Von der Regierung in Prag fühlen sie sich im Stich gelassen, vor allem aber fürchten sie sich vor den regelmäßigen Nachrichten von bevorstehenden Schachtschließungen. Wie lange es den Bergbau in Ostrava noch gebe, bevor auch die letzte Grube dicht macht? Tomas schüttelt nur den Kopf.

 

OTON 15

Die sagen einem jedes Jahr was anderes. Einmal sagen sie dir, dass sie in zwei Jahren alles dichtmachen, drei Monate später sagen sie, dass wir eine Perspektive bis 2025 haben. Gestern stand sogar in der Zeitung, dass sie wieder junge Leute einstellen.

 

Die meisten Jungen allerdings glauben nicht mehr an die Zukunft des Bergbaus.

 

ATMO

 

Viele von ihnen haben die Arbeitslosigkeit in der eigenen Familie erlebt. Eine Perspektive zu zeigen – für Zdenka Prusova ist das die größte Herausforderung. Sie ist Direktorin des Gymnasiums in Poruba, einem Stadtteil von Ostrava, der fast nur von früheren Bergarbeitern bewohnt wird. Die Kommunisten haben ihn gleich in den 50er Jahren gebaut für den Boom der Schwerindustrie: Keine Plattenbauten, sondern prächtige Arbeiterpaläste sind hier entstanden, ganze Straßenzüge im sowjetischen Realismus mit großen Torbögen und Reliefs. Heute ist Poruba geprägt von Arbeitslosigkeit. Zdenka Prusova ist etwa 60 Jahre alt, sie trägt ein elegantes Kostüm und wirkt mit ihrer strengen Haltung wie aus einer anderen Zeit. Wenn sie Gästen ihr Gymnasium zeigt, beginnt sie draußen auf dem Pausenhof, wo sie stolz auf die Schule deutet.

 

ATMO Türe, Schritte nach draußen.

 

OTON (alle Einspielungen von Prusova auf Deutsch) 16

Das ist das älteste Gebäude von Poruba und diese beiden Häuser hier nebenan. 1954 wurde die Schule gebaut für die Kinder der Arbeiter, die aus der ganzen Republik gekommen sind. Die Straße gegenüber heißt Delnicka, Arbeiterstraße – das ist ganz typisch.

 

Lange war hier, in diesem imposanten Gebäude mit seinen langen Fluren, den hohen Decken und den repräsentativen Treppenhäusern, eine Grundschule untergebracht, nach der Wende zog dann das Gymnasium ein. Zdenka Prusova geht voran in die Verwaltung.

 

ATMO Innen-Atmo, Schlüsselklirren, Türenöffnen

 

In ihrem Büro herrscht peinliche Ordnung; eine Ordnung, die sie den schlechten Nachrichten entgegenstellt, die von draußen über sie hereinbrechen. Auf ihr Gymnasium, sagt sie, kommen zwar vor allem Kinder aus den gut situierten Familien der Stadt, aber die Armut mache auch vor ihrer Schule nicht halt.

 

OTON (deutsch) 17

10, 15 Prozent kommen aus Familien, wo mindestens einer von den Eltern arbeitslos ist. Das sehe ich, wenn sie beantragen, dass wir Bücher stellen, da müssen wir sie ihnen borgen. Das ist traurig. Ich denke, dass das von Tag zu Tag schlechter ist. Es ist schwer, hier Arbeit zu finden, es gibt kaum Firmen, die etwas erzeugen. Die Politiker sagen, die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist besser, aber das ist immer vorübergehend. Das sind Zahlen aus dem Bauwesen, aus der Landwirtschaft – und die werden auch nur im Sommer besser.

 

Zdenka Prusova ist selbst in Ostrava geboren und ist als Lehrerin hier geblieben. Deutsch unterrichtet sie, Englisch, Russisch und Physik; ihre Schule hat sie in den vergangenen Jahren zu einem spezialisierten Sprachengymnasium entwickelt. Der Ruf ist inzwischen gut. So gut, dass die Schüler, die sie stolz „unsere Studenten“ nennt, von weither ausgerechnet in das Problemviertel Poruba kommen, um Sprachen zu lernen.

 

OTON (deutsch) 18

Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Motivation verändert. Vor zehn, 15 Jahren waren Fremdsprachen das Ziel, heute sind sie ein Mittel zum Erreichen der höchsten Ausbildung. Unsere Absolventen studieren in Deutschland, Österreich, Großbritannien und Frankreich.

 

Das ist es, was der Strukturwandel von Ostrava mit sich bringt: Viele der jungen Leute verlassen die Stadt, sie gehen für die Ausbildung in die ferne Hauptstadt Prag oder gleich ins Ausland – und meistens bleiben sie dann dort. Zdenka Prusova schüttelt den Kopf.

 

OTON (deutsch) 19

Es tut mir leid, dass gerade die Besten die Stadt verlassen. Wissen Sie, wir sind immer traurig. Ich bin stolz darauf, dass unsere Studenten im Ausland studieren oder in Prag. Aber andererseits bin ich immer traurig davon. Sie bekamen die beste Ausbildung gerade bei uns, es tut mir leid, dass sie die Stadt verlassen. Aber ich kann sie begreifen – sie suchen etwas Neues.

 

Dabei findet das Neue, das Junge, nicht nur anderswo statt. Auch Ostrava hat sich entwickelt, für manche der jungen Leute wird die Stadt allmählich wieder zum Magneten.

 

ATMO Musik aus Straßencafé

 

Das liegt auch an ihrem Ruf als Party-Stadt. Dieses Renomee verdankt sie einer einzigen Straße – der Stodolni-Straße. Auf ein paar Hundert Metern sind dort mitten in der Altstadt mehr als 60 Bars, Kneipen und Clubs aneinandergereiht, geöffnet ist selbst unter der Woche bis in den Morgen und die jungen Leute kommen selbst aus Polen und der Slowakei, um gerade hier zu feiern. Einer von denen, die wieder zurückgekommen sind in ihre Heimat, heißt Bretislav Sevcik. Er ist 29 Jahre alt und hat für ein Gespräch die Stodolni-Straße vorgeschlagen. Wer ihn auf die alten Ostrava-Klischees anspricht, die sich um die Schwerindustrie ranken und die schlechte Luft, erntet nur ein Kopfschütteln.

 

OTON 20

Wir waren ja bekannt als das Schwarze Ostrava. Aber heute gibt es wieder herrlich renovierte, saubere Häuser. Die Stadt ist gerade auf der Suche nach sich selbst: Wir sind zwar nicht mehr die schmutzige Stadt im Osten – aber zugleich auch noch nicht multikulturell und global. Und es herrscht eine Spannung, wie die Entwicklung jetzt weitergeht.

 

Bretislav Sevcik hat lange in Deutschland studiert, er hat dort gearbeitet –und ist dann schließlich doch zurückgekommen nach Ostrava. Er arbeitet jetzt in einer der Firmen, die hier reihenweise eröffnen: Automobilzulieferer und Maschinenbauer aus aller Welt bauen hier Werke auf, weil die arbeitslosen Schwerarbeiter erfahrene Fachkräfte sind; unlängst hat eine IT-Firma aus Skandinavien hier ein Entwicklungszentrum mit 2.000 Mitarbeitern gegründet und selbst ein Biotechnologie-Park ist entstanden, der von den 30.000 Studenten der Stadt profitiert. Bretislav Sevcik:

 

OTON 21

Als ich von meinem Auslandsstudium wieder zurückkam, habe ich mit Freunden einen internationalen Klub an der Uni gegründet. Wir haben festgestellt: Es kommen richtig viele Studenten hier an die Uni, aus Istanbul, aus Schottland, aus Belgien. Das sind meistens Leute, die etwas Neues entdecken wollen, die nicht von Vorurteilen geprägt sind.

 

Trotz aller positiven Entwicklungen ist es natürlich ein langer Weg, bis Ostrava den Strukturwandel schafft, das weiß auch Bretislav Sevcik. Die Arbeitslosigkeit ist hier im Osten des Landes ist mit knapp 10 Prozent deutlich höher als im tschechischen Landesdurchschnitt, die Löhne sind ein ganzes Stück niedriger: Während das tschechische Durchschnittsgehalt bei 1.000 Euro im Monat liegt und in Prag sogar bei 1.400 Euro, sind es in Ostrava noch 900 Euro. Gerade das aber macht den Standort für Investoren interessant. Einer, der in der Region Fuß gefasst hat, ist Ernst Käppeler: Als er in den frühen 90er Jahren aus Deutschland kam, hat er 30 Kilometer entfernt von Ostrava eine Tochtergesellschaft für seine schwäbische Firma aufgebaut. Befra heißt sie, heute beschäftigt sie mehr als 250 Mitarbeiter.

 

ATMO: Schritte, Werkshallen-Lärmen im Hintergrund

 

Wenn Ernst Käppeler die Produktionshallen zeigt, ist ihm der Stolz anzumerken.

 

OTON (deutsch) 22

Jetzt gehen wir mal kurz rein in die Umkleideräume. Das ist ein ESD-Schutz, da wird statische Aufladung abgeleitet mit dieser Jacke. Damit das funktioniert, müssen Sie das auch an den Füßen haben. Dieses hier über die Schuhe ziehen, das stecken Sie dann zwischen Schuh und Socken, diesen Zipfel da.

 

(Atmo bleibt drunter)

 

Es ist ein aufwendiges Prozedere, bis Besucher ins Werk gelassen werden; Sicherheitsschleuse inklusive.

 

OTON (deutsch) 23

Hier draufstehen und einen Moment warten. (Piepen, Entriegelung eines Tores). Das, was wir hier sehen, ist gegen statische Aufladung. Jede Maschine, jeder Tisch, der Boden ist so ausgestattet, dass da eine Ableitung von statischer Aufladung stattfindet. Jeder Mitarbeiter hat Schuhe, die das ableiten oder hat ein Armband. Das ist eine wichtige Funktionalität, dass man nicht durch Aufladung elektronische Teile beschädigen kann.

 

ATMO Maschinengeräusche (bleibt drunter)

 

Die Erfolgsgeschichte von Befra fing mit einem elektronischen Steuerungssystem für den Bergbau an. Deshalb ist die Firma ursprünglich nach Ostrava gekommen: Ein paar Schritte vom Werksgelände entfernt erhebt sich der riesige Förderturm der Grube Frantisek, hier hat Ernst Käppeler mit seinen Mitarbeitern einst die erste der modernen Steuerungsanlagen montiert. Heute ist die Grube Frantisek längst geschlossen – nur Ernst Käppeler ist immer noch hier. Er hat mit seiner Firma umgesattelt und baut heute die Steuerung von High-Tech-Geräten. Das ist es, was hier in den Werkshallen passiert: In langen Maschinenstraßen werden Platinen mit Prozessoren und anderen Bauteilen bestückt – ein komplizierter Prozess, der äußerste Präzision erfordert. Käppeler bleibt vor einer Maschine stehen, in der die grünen Platinen verschwinden, auf die sämtliche Bauteile und Drähte aus Lötpaste noch lose aufgelegt sind.

 

OTON (deutsch) 24

In der Form geht es dann hier in den Ofen rein. Hier sind die Temperaturen, von 180 bis 250 Grad. Das wird erhitzt, und bei 221 Grad schmilzt diese Paste und verlötet sich. Und das Ergebnis sieht dann so aus wie das hier – das ist fertig verlötet. Das ist zum Beispiel eine Steuerung für Ampelanlagen oder im Industriekopierer oder in einer Werkzeugmaschine oder oder oder.

 

Im Kleinen bildet Ernst Käppeler mit seiner Firma Befra ab, was mit der Region Ostrava im Großen passiert ist: Der Bergbau, für den er sich hier angesiedelt hat, ist zwar fast verschwunden – aber längst entsteht etwas Neues. Der koreanische Autobauer Hyundai beispielsweise hat sein einziges europäisches Werk hier in der Region aufgebaut, um von den erfahrenen Metallarbeitern zu profitieren – in seinem Gefolge kamen etliche Zulieferfirmen aus aller Welt. Erfolgsgeschichten wie jene von Ernst Käppeler gibt es inzwischen vielfach: Bei seiner Firma Befra beschäftigt er längst nicht nur billige Montage-Kräfte, sondern auch ein paar Dutzend Ingenieure für die Entwicklungsabteilung. Ob er es nicht manchmal bereut, soweit im Osten gebaut zu haben und nicht näher an der deutsch-tschechischen Grenze? Käppeler schüttelt den Kopf:

 

OTON (deutsch) 25

Nein, das hat sich sogar als Vorteil gezeigt. In Pilsen kriegen Sie schon keine Leute mehr, in Prag nicht, in Brünn nicht. Das Niveau der Arbeitslosigkeit hier in Ostrava war lange Zeit hoch, ist immer noch vergleichsweise hoch. Okay, man könnte mit jedem Transport nach Deutschland 400 Kilometer weniger fahren – aber für uns hat sich der Standort als Vorteil erwiesen.

 

ATMO Geräusche aus der Kohlegrube

 

Zurück in Ostrava, zurück im Stollen. Hier, wo der Lastenaufzug mit Gerumpel die Besuchergruppen unter Tage bringt, ist für den früheren Kumpel Petr Denninger die Vergangenheit immer noch lebendig. Jede Handbewegung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen; es ist die Routine nach den langen Jahren, die er selbst in den Stollen verbracht hat.

 

OTON 26

Die Arbeit war immer schlecht bezahlt. Das, was wir da unter Tage machen, das ist eine unvorstellbare Maloche. Wer das nicht erlebt hat, der kann sich das überhaupt nicht vorstellen.

 

Trotzdem, brummt er dann: Es sei ein guter Job. Für ihn ist die Arbeit eine Art Berufung. Inzwischen, sagt er, sei er zwar davon losgekommen – aber vier, fünf Mal im Monat steht er dann doch noch hier im Bergbau-Museum, und fährt wieder ein in die Grube. Zumindest als Museum hat die Schwerindustrie hier im Osten Tschechiens eine Zukunft.

 

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