Kilian Kirchgeßner

Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, Prag

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Reportage

Die Königin der Früchte

Reportagen #29

Wie eine Frau aus einem Dorf in Tschechien zur besten Marmelade-Köchin der Welt wurde

Einerseits war es sicherlich gewagt, ausgerechnet da ein Café aufzumachen, wo die Zivilisation am weitesten entfernt ist. Andererseits kann die Entscheidung so falsch nicht gewesen sein, wenn die Leute aus Prag sich ins Auto setzen und zweieinhalb Stunden in Richtung Westen fahren, um hierher zu kommen in dieses Nest im Böhmerwald, in dem es ein paar Dutzend Häuser gibt, eine Kapelle mit Holzschindeln und im Übrigen einen Nebel, der bisweilen so undurchdringlich wird, dass die Autos in Schrittgeschwindigkeit vorwärtsschleichen auf dem endlosen Weg durch den Wald. Sie kommen wegen dieser göttlichen Marmelade, die hier in den 20-Liter-Töpfen kocht, und wenn das Café ein paarmal im Monat geöffnet hat, dann ist das ganze Dorf zuparkiert.
«Die sind hier in der Nähe gewachsen», sagt Blanka Milfaitová und nickt mit dem Kopf in Richtung der Äpfel auf dem Küchentisch. Shampion heisst die Sorte, die Äpfel sind grün mit leicht rötlichen Wangen, und vor allem sind es zwei riesige Kisten voll. Draussen vor dem Fenster zieht eine Wandergruppe in den Tag, der gerade erst begonnen hat, die Kapuzen der Regencapes eng um den Kopf gezogen, und drinnen greift Blanka Milfaitová zum Apfelschäler.
Nach den ersten zehn Kilo wird die rechte Hand allmählich lahm. In langen Spiralen fällt die Schale ab, ein Apfel, zwei Äpfel, zwanzig Äpfel, die erste Kiste leert sich. Es ist eine wortlose Arbeit, Blanka Milfaitová schaut kaum auf, ohnehin redet sie nur wenig. 39 Jahre alt ist sie, in ihrer Küche trägt sie zur roten Trainingshose ein schwarzes T-Shirt. Ihre braunen Haare hat sie nach hinten gekämmt, damit sie nicht in die Schüssel hängen, die alle paar Minuten so voll wird, dass sie den Schäler zur Seite legt und zum Messer greift. Exakt sechs Züge braucht sie, um einen Apfel zu vierteln und die Kerngehäuse rauszuschneiden. Bis es Zeit ist zum Mittagessen, wird der Apfelberg kleingearbeitet sein, er wird verteilt sein auf 46 Marmeladengläschen, und Blanka Milfaitová wird mit dem Topfschaber durch die drei grossen Edelstahltöpfe fahren und die letzten Reste der Masse probieren, sie wird noch warm sein. Die herbe Note des Apfels wird leicht übertönt werden von einer Caramelnote, ein wenig Zitrone wird herauszuschmecken sein und das Aroma der getrockneten Preiselbeeren, die ganz zum Schluss in den Topf gekommen sein und die Marmelade leicht rot gefärbt haben werden.
Sie ist keine Frau der grossen Worte, nicht einmal dann, wenn sie im Scheinwerferlicht steht. Die meisten Tschechen kennen sie aus dem Fernsehen, sie und ihre unglaubliche Geschichte. Neulich war sie bei einer Sendung zu Gast, die der amerikanischen Show Late Night von David Letterman nachempfunden ist. Eingesunken sass sie auf dem Fernsehsofa, und während die Gäste sich üblicherweise ein paar coole Sprüche überlegen, um möglichst schlagfertig zu wirken, antwortete sie auf jede Frage mit sparsamen Worten, die sie sich mühsam zurechtsuchte. Das Reden übernahm bald ohnehin der Moderator für sie: Er öffnete das Marmeladenglas, das Blanka Milfaitová mitgebracht hatte, und erging sich die halbe Sendezeit über in Ahs und Ohs. Als der Abspann lief, war das Glas leer.
Srní heisst die Gemeinde, die draussen vor den Küchenfenstern liegt, dieses nebelverhangene Dorf im Böhmerwald mit 200 Einwohnern. Hierhin hat sich Blanka Milfaitová zurückgezogen von der Welt, sechs Jahre liegt das jetzt zurück, aber die Welt wollte sie nicht gehen lassen. Nach London schickt sie regelmässig Pakete, denn das englische Königshaus bezieht Marmeladen aus dem Böhmerwald. Nach Prag schickt sie Pakete, wenn der tschechische Präsident ein Staatsbankett gibt und ihre Marmeladen im Spanischen Saal der Prager Burg gereicht werden. Und wenn der Winter naht und der Böhmerwald allmählich versinkt in den Schneemassen, macht sie sich auf den Weg nach Sizilien, wo um diese Zeit die herrlichsten Orangen an den Bäumen reifen, und es geht schliesslich nichts über eine dieser süss-herben Orangenmarmeladen. Die beste der Welt macht Blanka Milfaitová, und seit das offiziell ist, schickt sie noch mehr Pakete quer über den Erdball. «Das mit der Ruhe, derentwegen ich gekommen bin», sagt sie und lächelt, «das hat irgendwie nicht geklappt.»

Für Blanka Milfaitová begann ausgerechnet hier im Böhmerwald ihr zweites Leben. Das erste? Das sei nicht der Rede wert gewesen, sagt sie. Auf Lehramt hat sie studiert, Mathe und Physik, ist dann aber doch lieber in einen Bürojob gegangen. Sicheres Einkommen, jeden Tag morgens zur Arbeit und abends zurück, jedes Jahr ein paar Tage Ferien und immer diese Unzufriedenheit im Bauch. Ein paar Jahre hielt sie das durch, dann ging es nicht mehr. Sie kündigte, vom Ersparten kaufte sie ein verfallenes Haus in dieser Einöde namens Srní. Sie renovierte, experimentierte mit Torten, eröffnete im Erdgeschoss unter ihrem Wohnzimmer ein Café und nahm irgendwann auch selbstgemachte Marmeladen in das Sortiment auf. Ihr zweites Leben begann als verzweifelte Suche einer Aussteigerin nach sich selbst.
An dem Tag, an dem sie den ersten Schritt ihres kulinarischen Aufstiegs unternahm, ohne dass sie es ahnte, ging sie zur Post. Es war ein kalter Januartag im Jahr 2013. Sie hatte von den «Worldʼs Original Marmalade Awards» gelesen, die in England jährlich vergeben werden und unter Eingeweihten als eine Art Oscar des Einkochens gelten. Ein wenig spleenig ist die Veranstaltung auf einem englischen Adelssitz, der mit seinem viktorianischen Pomp aussieht wie aus einem Werbekatalog für Ferien in Grossbritannien, aber sie ist auch wissenschaftlich präzise: Eine Jury arbeitet sich durch alle Einsendungen, es sind jedes Jahr mehr als 1500. Natürlich sind die Marmeladen fein säuberlich nach Rubriken sortiert, allein für den Bereich Orangenmarmelade zum Beispiel gibt es drei Unterkategorien: solche mit dicken, dünnen und mittleren Orangenstreifen. Dorthin also schickte Blanka Milfaitová an jenem Tag ihr Paket, knapp 40 Euro investierte sie in das Porto. Zehn Gläser packte sie ein: fünf verschiedene Marmeladensorten und von ihnen jeweils zwei Exemplare, ganz so, wie es die Wettbewerbsbedingungen vorsehen. «Ich habe gedacht, dass ich ein paar Zeilen von Experten zurückbekomme, was ihnen geschmeckt hat und wo ich mich noch verbessern kann», sagt Blanka Milfaitová. Aber statt der Einkochtipps kam ein Einladungsschreiben nach England zur Preisverleihung: Mit ihrer Süssorangenmarmelade ist sie auf der Liste der Nominierten gelandet, ihre Clementinenmarmelade mit Lavendelblüten hat Bronze bekommen, und ihre Orangenmarmelade mit Bourbon-­Whiskey und Vanille wurde zur besten Marmelade des Wettbewerbs erklärt. Auch der Gesamtsieg ging an diese Newcomerin aus Tschechien, die in ihrem Sommerkleid schüchtern auf der Bühne stand und seit nicht einmal einem Jahr Marmeladen kocht, während all die englischen Cracks, die zum Teil von ihren Eltern kleine Manufakturen mitsamt den alten Familienrezepten übernommen haben, applaudierend daneben standen. Jetzt ist sie es, die sich offiziell «beste handwerkliche Marmeladen-Herstellerin der Welt» nennen darf. Ein paar Monate später der zweite Ritterschlag: Beim Great-Taste-Wettbewerb, auch so einer Besonderheit aus England, schickte sie zwei Proben ihrer Marmeladen ein, die «pure lemon marmalade» und den «pure cherry jam». 10 000 Einsendungen gab es, und sie bekam auch hier Auszeichnungen.
Was dann losbrach, trieb Blanka Milfaitová bald darauf in ihre zweite Flucht: Dutzende Magazine entsandten Korrespondenten in den Böhmerwald, um ein Interview mit der Marmeladen-Königin zu ergattern, selbst die BBC berichtete. Sie sass im Frühprogramm des tschechischen Rundfunks, und das tschechische Fernsehen drehte einen Dokumentarfilm über die Frau, die aus ihrer Küche heraus die Welt erobert hatte. In Zürich konnte man ihre Einmachgläser kaufen und in einer Prager Boutique. Der Londoner Luxus-Tempel Fortnum & Mason bestellte 1000 Gläser Marmelade im Böhmerwald, die in atemberaubender Geschwindigkeit ausverkauft waren. «Alle standen sie Schlange», erinnert sich Blanka Milfaitová. «Die Anfragen der grossen Supermärkte habe ich aus Prinzip abgelehnt. Kleinere Boutiquen habe ich beliefert, und wenn sie nachbestellten, orderten sie jedes Mal mehr und mehr.» Die Manufaktur brummte, und eigentlich hätte sie in Ruhe den amerikanischen Traum leben können, wie sie heute sagt: grössere Töpfe, die ersten Angestellten, eine professionelle Büroorganisation, eine ambitionierte Vertriebsabteilung, das ganze Programm. «Aber genau das wollte ich nicht.»
Stattdessen erkundigte sich Blanka Milfaitová nach einem Wohnwagen. Sie kaufte ein Modell, das mehr einem Lastwagen gleicht als einem dieser Caravans, wie sie auf den Campingplätzen stehen, neun Meter lang, fast drei Meter hoch, drei Achsen, knapp fünf Tonnen Leergewicht. Überall, wo keine Fenster sind, brachte sie riesige Aufkleber an: Die Goldmedaillen der World’s Original Marmalade Awards, die Auszeichnung vom Great-Taste-Wettbewerb, und hinten zwischen den Rücklichtern ihr eigenes Foto, auf dem sie ein Glas Marmelade in der Hand hält. «European Marmalade Expedition», schrieb sie dazu, «World’s winner on tour.» Das ist die zweite Seite von Blanka Milfaitová, die im Gespräch nur langsam auftaut und auch dann nur ein paar Worte sagt: Wenn es darauf ankommt, kann sie auch trommeln wie eine Weltmeisterin. In die Garage des Lastwagens, die eigentlich für zwei Motorräder gedacht ist oder für ein kleines Auto, verstaute sie einen Vorrat von Hunderten leeren Einmachgläsern, ein paar grosse Töpfe und eine komplette Feldküche mitsamt Gasflaschen.
Die Besatzung besteht aus drei Personen: Blanka Milfaitová, ihr Freund Pavel, der Wirtschaft studiert hat und früher einmal Soldat war, ein Schrank von Mann mit breiten Schultern und kurz rasierten Haaren, und ihre gemeinsame Tochter Eliska, die beim Start der Expedition kurz davor ist, das Laufen zu lernen. Vom Böhmerwald aus fahren sie los, das erste Ziel ist San Marino. Für jedes Land hat sich Blanka Milfaitová eine Frucht vorgenommen, aus der sie Marmelade kochen will. In San Marino ist es die Kaki. «Was man bei uns in Mitteleuropa bekommt», sagt sie, «ist ein paar Wochen vorher geerntet worden und dann irgendwo in Lagerhäusern und Lkws fertig gereift.» Daraus Marmeladen zu kochen, sagt Milfaitová und blickt streng, das verbiete sich doch von selbst. In San Marino also fährt sie direkt zur Plantage, mit Pavel pflückt sie ein paar Kilo und baut ihre Feldküche auf. Die Kakis sind leicht zu verwerten, sie haben keinen Kern, und schälen muss man sie auch nicht. Ein bisschen Zitronensaft dazu, einen Schuss Limoncello, diesen Zitronenlikör, Zucker, etwas Geliermittel und ab damit in die Einmachgläser. Die erste Marmelade der Expedition ist gekocht. Nächstes Ziel ist Sizilien: Natürlich fährt sie hier zu den Orangenplantagen direkt am Ätna, zu den Zitronen- und Mandarinenbäumen. «Wenn die Früchte reif sind», sagt sie, «dann duftet es zum Verrücktwerden gut.» Ihre eigentliche Aufgabe aber, die sie sich für Sizilien gesetzt hat, sind Opuntien, diese Kaktusfrüchte mit ihren heimtückischen Stacheln: Mit ihnen experimentiert sie, bis sie eine perfekte Kaktusmarmelade herausbekommt – ein halbes Kilo Zucker auf anderthalb Kilo Früchte, das ist zu süss. Mit 200 Gramm ist es besser, noch besser wird es mit einem Schuss Zitronensaft und ein paar Krümeln Zitronenschale. Das sind endlich die Marmeladen, die ihr gut genug sind, um darauf das Etikett mit ihrem Firmennamen und den Goldmedaillen aus England zu kleben.
Eigentlich will sie die ganze Ladung mit zurücknehmen in den Böhmerwald und sie dort verkaufen, aber die Einheimischen lassen ihr keine Chance: Wenn sie wieder einmal die Feldküche aufbaut irgendwo am Rande einer Plantage, ruft der sizilianische Bauer seine Freunde an, um ihnen von der Verrückten aus Osteuropa zu erzählen, die auf seinem Feld Marmeladen kocht, und schon strömen die italienischen Frauen herbei, langsam erst, dann mutiger, und schauen Blanka Milfaitová über die Schulter. Sie laufen wieder nach Hause und kommen kurz darauf mit Gläsern voller eigener Marmelade zurück, sie tauschen und verkosten, sie diskutieren über ihre Rezepte, darüber, ob Pektin wirklich nötig ist und welche Zutaten sich mit den einheimischen Orangen am besten vertragen. Und wenn Blanka Milfaitová dann weiterfährt zur nächsten Station, hängen oft Autos hinter ihr, die sie mit Lichthupe zum Halten drängen und gläserweise die Vorräte aufkaufen. Leichtsinnigerweise hat sie unter ihr Bild auf der Rückseite des Lastwagens auch ihre E-Mail-Adresse geschrieben, und so laufen selbst während der Fahrt E-Mails ein, in denen jemand schreibt, er fahre gerade hinter ihrem Lastwagen her und sie möge doch anhalten, um ein paar Gläser zu verkaufen.
Fein säuberlich hat Blanka Milfaitová die Expedition vorbereitet, die auf den Tag genau ein Jahr dauern soll. Die einzige Massgabe: immer der Vegetationsperiode folgen. Während daheim im Böhmerwald längst Schnee liegt, bläst sie unterwegs am Rande der Plantagen das Schwimmbecken für Eliska auf und macht sich mit Pavel auf die Suche nach dem reifsten Obst. Also: In Gibraltar die Früchte von Erdbeerbäumen, wie sie im Mittelmeerraum verbreitet sind; in Portugal Quitten, auf Sardinien Erdbeeren mit Rosmarin, auf Korsika Kiwis, ein kurzer Abstecher nach Afrika, wo in Marokko gerade die Berberbananen reifen, die mit Honig und Rosinen zu Marmelade werden. In Rumänien Walderdbeermarmelade, in der Türkei Feigen mit Orangen- und Zitronensaft, in Griechenland Kirschen mit Metaxa, in Mazedonien Pfirsiche mit Zitronen, in Albanien schwarze Johannisbeeren, in Slowenien Pfirsiche mit Zganje, einem örtlichen Pfirsichbrand. Und jetzt die nordischen Länder: In Estland Heidelbeeren mit Honig, in Finnland Holunder mit Zitrone, in Schweden Preiselbeeren. Die Tour führt langsam in einem Bogen wieder zurück Richtung Mitteleuropa: in den Niederlanden Birnen mit Grapefruit, in Frankreich Zwetschgen mit rotem Pfeffer, in der Schweiz Äpfel mit Walnüssen.
Als im März wieder Einsendeschluss ist bei den spleenigen Engländern mit ihren World’s Original Marmalade Awards, ist Blanka Milfaitová gerade in Spanien unterwegs und schaut, was sie noch alles unten in der Garage ihres Lastwagens auf Lager hat. Acht verschiedene Sorten schickt sie los, einen Monat später kommt die Einladung zur Siegerehrung. Sie räumt zum zweiten Mal ab. Bronze für ihre Zitronenmarmelade mit Vanille, für die Mojitomarmelade und für Orange mit rosa Grapefruit und Kardamom. Silber für Clementine mit Lavendel. Und dann die Goldmedaillen: Süssorange mit 70% Schokolade (die richtige Schokolade dazu hat sie in einer kleinen Manufaktur in der Toskana gefunden), Zitrone mit Pfirsich und Vanille, Zitrone mit Champagner sowie Orange mit Zitrone und Kardamom. Acht Einsendungen, acht Medaillen.
Und wo Blanka Milfaitová wegen der Preisverleihung sowieso schon auf den Britischen Inseln ist, schiebt sie hier ein paar Stationen für ihre Marmeladen-Expedition ein und sucht nach geeigneten Zutaten. In Irland kocht sie Brombeermarmelade mit Stout, in Nordirland Zwiebelmarmelade.
Im November 2013 sind Blanka, Pavel und Eliska daheim im Böhmerwald losgefahren, genau ein Jahr später kommen sie wieder zurück. 102 230 Kilometer liegen zwischen Abreise und Rückkehr, sie machten in 42 Ländern auf drei Kontinenten Station. Und weil sie ja auch eine Mission hatten: In 29 dieser Länder hat Blanka Milfaitová Marmelade gekocht, Pavel hat die Früchte dazu geschält. Bei ihrer Rückkehr in den Böhmerwald trägt der Lastwagen ein paar Aufkleber mehr, sie zeigen die neu gewonnenen Medaillen von den World’s Original Marmalade Awards. Und Eliska läuft inzwischen wie eine kleine Weltmeisterin. «Eigentlich», stellt Blanka Milfaitová fest, als sie wieder zu Hause sitzt in ihrem abgeschiedenen Häuschen und an die Expedition denkt, «eigentlich braucht man dafür nicht mehr als zehntausend Liter Diesel.»

Schon seit ein paar Wochen liegt bei ihrer Rückkehr die nächste Bestellung aus England vor, Fortnum & Mason ordert wieder ein riesiges Quantum Marmeladen. Die Boutiquen in den anderen Orten Europas drängen auf Nachschub, und Blanka Milfaitová trifft eine Entscheidung, die ausser ihr niemand versteht: Sie sagt ihren Grosskunden ab, ein für allemal, sämtliche Geschäftskontakte erklärt sie auf einen Schlag für beendet. Wer Marmeladen von ihr kaufen wolle, der möge in den Böhmerwald fahren, in jenes Nest namens Srní, wo ihr Café immer samstags und sonntags geöffnet hat, jeweils ab 10 Uhr. Sie gibt keine Interviews mehr. In ihrem ganzen Leben hat sie noch keine einzige Krone ausgegeben für Werbung, und doch dauert es nicht lange, bis sich am Wochenende die Schlangen bilden auf der langen Treppe, die durch den steil abschüssigen Garten hinaufführt ins Café. «Je weniger Geschäfte meine Marmeladen anbieten», sagt Blanka Milfaitová und lächelt resigniert, «desto mehr verkaufe ich.»
Jetzt steht sie in ihrer Küche und schaut über ihr Reich, das viel zu klein geworden ist. Eine Einbauküche für den Hausgebrauch, in der Mitte eine Kochinsel, ein Ofen, ein Herd, eine Spüle, nur dass hier eine halbe Heerschaar von Helfern um Blanka Milfaitová herumwirbelt: Zunächst ist da Bara, die seit zwei Jahren im Team ist und den Laden leitet, wenn die Chefin unterwegs ist. Sie hat in Prag studiert, Volkswirtschaft, und ist ein Fan von Blanka Milfaitová, seit sie im Fernsehen diesen Dokumentarfilm über sie gesehen hat; sie ist die Jüngste. Dann ist da Eva, deren Kinder aus dem Haus sind und die deshalb jetzt keinen Sinn mehr darin sieht, in Prag zu leben. Seit zwei Monaten ist sie dabei, Probezeit, und wenn es nach ihr geht, dann geht sie nie wieder weg. Die zweite Eva kommt aus der Slowakei. Hana arbeitet eigentlich in Stuttgart und kocht jetzt für einen Monat Marmeladen, um den Stress abzubauen, der sich in ihrem Job über die Jahre so angesammelt hat. Miroslav ist noch da, ein junger Mann, der von seiner Kindheit im Heim erzählt und jetzt Koch werden will. Sie alle stehen in der Küche, dicht an dicht, und arbeiten an einem knappen Dutzend Aufgaben zugleich: Eva mischt den Teig für die Windbeutel, die am Wochenende in der Vitrine des Cafés liegen werden, Blanka Milfaitová selbst schneidet Äpfel, diese zwei Kisten der Sorte Shampion, Bara rührt die Caramelmasse an für die Marmelade, die daraus werden soll, Hana spült unter fliessendem Wasser die Einmachgläser aus, in die gleich per Trichter die dampfende Masse gefüllt werden soll, die zweite Eva befestigt Etiketten an den Bastfäden, mit denen die Marmeladengläser am Ende verziert werden, und Miroslav klopft die Schnitzel, die es um Punkt zwölf zum Mittagessen geben wird.
«Das Geheimnis einer guten Marmelade», sagt Blanka Milfaitová, «ist es, die Früchte so kurz wie möglich zu kochen. Auch ganz wichtig: Zucker gehört in angemessener Menge unbedingt dazu. Und dann sollte man auf keinen Fall Pektin vergessen.»
Für Eingeweihte ist genau das jedoch ein ewiger Streitpunkt: Pek­tin ist eine Art natürliches Geliermittel, das jede Fruchtsorte enthält. Manche Früchte wie beispielsweise Erdbeeren enthalten aber sehr wenig. Will man vollständig auf künstliches Pektin verzichten, muss das Obst sehr lange kochen. Dabei verlieren die Früchte zuerst die Form, dann die Farbe und schliesslich auch ihren Geschmack. Blanka Milfaitová setzt deshalb lieber etwas Pektin zu. Wer ihre Marmeladen öffnet, den springen dafür die Früchte regelrecht an: Sie schmecken noch reiner, noch klarer, als würde man sie direkt vom Feld pflücken.
Aus der Küche führt eine Tür hinüber ins Café, die während der Öffnungszeiten stets geschlossen ist. Jetzt ist sie offen, an einem der Tische sitzt Pavel. Da, wo die Ärmel seines T-Shirts enden, wölbt sich ein riesiges Tattoo auf dem Bizeps, auf dem Kopf trägt Pavel eine Baseballkappe. Blanka Milfaitová ist die Nette, sie lächelt und sagt nicht viel. Pavel gibt den Harten, den, der den Laden am Laufen hält. Am Computer antwortet er auf die Mails und erledigt die Buchführung. Ab und zu steht er auf von seinem Kaffeehausstuhl und baut sich in der Küche auf. Dann schimpft er mit Miroslav, der mehr auf die hölzerne Arbeitsplatte klopft als auf die Schnitzel, er raunzt Hana an, ob sie denn eigentlich nur reden oder auch arbeiten wolle, und Eva, die schon längst die Apfelschalen hinausgetragen haben sollte auf den Komposthaufen, dann geht er wieder zurück an seinen Platz im Café.
Sobald es zwölf ist, sind ein paar Tische zusammengestellt und gedeckt. Miroslav bringt die Schnitzel, eins ist ihm angebrannt, und den Kartoffelsalat, und alle nehmen Platz wie in einer grossen Familie, an der Stirnseite sitzt Eliska und schaut ungeduldig auf die Töpfe, während Pavel zu einer kleinen Tischrede ausholt, in der er Miroslav, den Neuen, in der Runde willkommen heisst. Blanka Milfaitová sitzt neben ihrer Tochter und erzählt, wie schwierig es sei, Mitarbeiter zu finden. «Der Neid», sagt sie dann, «ist eine furchtbare tschechische Eigenschaft.» Arm ist die Gegend im Böhmerwald, viele Familien haben gerade das Lebensnotwendige, und sie bietet jedem 1000 Kronen pro Tag, der bei ihr mit anpackt, umgerechnet 40 Euro, ein guter Lohn für diese Gegend. Je mehr aber über sie in der Zeitung gestanden habe, desto weniger finde sie Helfer. «Wozu soll ich arbeiten?», haben Nachbarn sie gefragt. «Nur, damit du reich wirst?» Stattdessen klopfe alle paar Wochen jemand von einer Behörde an ihrer Türe, um die Küche zu inspizieren, weil wieder einmal anonyme Beschwerden eingegangen seien: Lebensmittelkontrolle, Hygiene, Gewerbeaufsicht, Finanzamt. Niemand, sagt Blanka Milfaitová, habe jemals etwas gefunden, aber sie koste es jedes Mal mindestens einen Arbeitstag. «Kennen Sie diese Geschichte, die man sich bei uns über den Neid erzählt?», fragt sie dann. Sie geht so: Ein Tscheche beschimpft Gott: «Du bist ungerecht! Mein Nachbar hat eine Ziege, die ihm Milch und Käse gibt. Ich aber habe nichts.» Darauf Gott: «Okay. Willst du auch eine Ziege haben?» Der Mann: «Lieber nicht, das ist mir viel zu viel Arbeit. Aber ich will, dass seine Ziege stirbt.»

Der Grund dafür, dass Blanka Milfaitová doch Mitstreiterinnen gefunden hat, liegt in ihrem Buch. Geschichte einer echten Leidenschaft, heisst es und ist ein Wälzer von mehr als 300 Seiten. Vom Titel herunter strahlt Blanka Milfaitová, wieder balanciert sie Marmeladen auf ihrer Handfläche, diesmal vier Gläser übereinander gestapelt. Eine Reisebeschreibung mit Rezepten von der Marmeladenkönigin ist der Untertitel, und im Innern schreibt Milfaitová über ihren Weg von der frustrierten Büroangestellten zur Chefin. «34 Jahre lang hatte ich das Gefühl, dass das, was um mich herum passiert, das Leben ist. Grau und eintönig, eine monotone Welle nach der nächsten», schreibt sie darin, und ihr Ton bleibt über weite Strecken so pathetisch. «Es gibt in der sich ändernden Welt drei Gruppen von Menschen: Die einen merken nicht mal, dass sich die Welt ändert, die zweite merkt es zwar, aber findet darin nicht ihren Platz. Und die dritte, kleinste Gruppe besteht aus jenen, die die Änderungen gestalten. Mir wurde klar: Wenn ich nicht sofort aus der ersten in die dritte Gruppe springe, verkümmere ich, kühle aus und weiss in ein paar Jahren nicht einmal mehr um die vertane Chance.» Angereichert sind diese Einsichten mit grossformatigen Fotos von der Expedition: Blanka joggt über eine hügelige Strasse durch die Wüste. Blanka steht an der Küste und schaut gegen den Horizont. Der Camping­lastwagen mit ihrem riesigen Foto parkiert in der Einsamkeit, im Hintergrund schneebedeckte Gipfel. Blanka im Abendkleid bei der Übergabe der Auszeichnung als «Unternehmerin des Jahres». Blanka auf der Orangen-Plantage, überflutet von mediterranem Licht. Blanka beim Kochen der «grössten Marmelade der Welt», womit sie den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde schafft, sie wiegt mitsamt eigens gefertigtem Einmachglas 150 Kilo. Die Mischung aus Fotos, Selbstfindungstrip und Marmeladenrezepten verkauft sich so gut, dass das Buch zu einem der meistverkauften Titel Tschechiens wird und Blanka Milfaitová damit en passant wieder eine Auszeichnung einbringt, diesmal von ihrem Verlag. Viel wichtiger ist aber, dass es ihre Helferinnen anspricht: Viele erkennen sich wieder in der Schilderung vom monotonen Leben in einem gleichförmigen Job, und viele wollen zumindest ein paar Wochen mit anpacken bei der Frau, die den Weg aus der Mühle gefunden hat. Vielleicht finden sie auch selbst beim Schälen von Äpfeln und dem Filetieren von Orangen einen neuen Sinn.
Wie magnetisch das Buch wirkt, lässt sich gute 300 Kilometer nordöstlich vom Böhmerwald beobachten. Mokré heisst der tschechische Ort, der nur aus einer Handvoll Häusern besteht, einem Rathaus und einer Bücherei. In ihr läuft die Bibliothekarin unruhig durch die Regalreihen, sie hat Blanka Milfaitová zu einer Lesung eingeladen. In einer Dreiviertelstunde geht es los, aber gerade kam der Anruf, dass die Marmeladenkönigin im Stau stehe, gute 100 Kilometer ist sie noch entfernt. Die Bibliothekarin reibt sich nervös die Hände, alles ist schon vorbereitet: Fünf Bücher, jedes einzeln in Klarsichtfolie eingeschlagen, liegen vor ihr auf dem Tisch, damit Blanka Milfaitová sie dann signiere. «Eigentlich», sagt die Bibliothekarin, und ihre Stimme klingt verzweifelt, «wollte sie doch schon vor einer Stunde hier sein. Ich hätte so viele Fragen an sie!» Der Besuch der Autorin ist im Gemeindeleben von Mokré einer der Höhepunkte des Jahres, und deshalb scheint eine Viertelstunde vor dem geplanten Beginn das ganze Dorf auf den Beinen zu sein: Alle streben der Bibliothek zu, manche haben Kuchen gebacken, um die Besucherin damit zu begrüssen. Zu dreissigst sitzen sie in den Reihen und schauen den leeren Tisch an, an dem hoffentlich bald die Autorin Platz nehmen wird; alte Damen sind dabei und junge Frauen, kaum älter als Blanka Milfaitová selbst, und sie alle erzählen sich von der Chuzpe dieser Frau, die einfach ihr altes Leben hinter sich gelassen und nur auf ihr Herz gehört habe. In den Augen der Zuhörerinnen wird Blanka Milfaitová zu einer Heldin in einem Groschenroman, und als sie dann schliesslich doch noch kommt, die Heldin, wird sie mit Applaus begrüsst und mit bewundernden Blicken. Pavel ist wieder dabei, ihr Freund; er übernimmt den grössten Teil des Redens, während Blanka Milfaitová neben ihm sitzt und ein wenig schüchtern in die Runde blickt. Er erzählt kleine Geschichten von der Marmeladen-Expedition, die meisten hat er schon ein paar Dutzend Mal erzählt auf der Lesereise zum Bestsellerbuch, und als er dann die Damen im Publikum auffordert, ihre Fragen zu stellen, kommen auch alle diese Fragen, die jedes Mal gestellt werden. Ob sie Geliermittel verwende, wollen die Hausfrauen wissen, welche Marmelade ihr selbst am besten schmecke, ob sie die Gläser sterilisiere. Die vierte Frage ist jene, die Blanka Milfaitová stets ins Schwimmen bringt: Gute Früchte auswählen könne jeder, fragt die Dame, der Zucker schmecke auch überall nach Zucker – was also mache ihre Marmeladen so besonders? Warum sind gerade sie die besten der Welt? Warum rufen sie die Juroren bei Blindverkostungen so treffsicher als Sieger aus? Blanka Milfaitová holt zu der gewundenen Antwort aus, die sie in solchen Fällen gibt: Sie wisse es selbst nicht, vielleicht liege es an der Begeisterung, mit der sie bei der Sache sei, aber jedenfalls stecke weder ein Geheimrezept dahinter noch besondere Kniffe.
Bevor sie ausgeredet hat, schaltet sich ein Mann ein, der einzige bei der Veranstaltung, er sitzt in der ersten Reihe und ist längst schon im Rentenalter. «Was für eine dumme Frage», brummt er und schaut die Dame böse an, die sie zu stellen gewagt hat. «Das kennen wir doch alle selbst: Zwei Jungs lernen als Kinder Geige. Der eine landet später bei den Philharmonikern, der andere spielt sein Leben lang in der Dorfkneipe. Genau so ist es auch bei den Marmeladen – der eine kann’s, der andere eben nicht.»
Mehr, sagt er dann, brauche man dazu nicht zu erklären.