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Trauerbegleitung: Die unsichtbaren Mütter der Sternenkinder

Laub im Wind: Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof haben Angehörige verstorbener Kinder spiegelnde Blätter an ein Metallbäumchen gehängt.

Wann beginnt ein Mensch zu leben? Die Seelsorgerin Sybille Neumann stellt die Frage, aber sie erwartet keine Antwort. Es nieselt. Die Regentropfen fallen schwer von den Eichenblättern auf die darunter Stehenden. Rund dreißig Personen hören den Reden bei der Eröffnung des neuen Grabfeldes auf dem Frankfurter Hauptfriedhof zu. Jessica Hefner und Stefanie Schäfer vertreten bei der Eröffnung die Eltern des Vereins Sternenkinder Rhein-Main und lesen die Worte von Müttern vor, die ihr Kind verloren haben.

„Erste Schritte, die nicht gemacht werden, Kleidungsstücke, die nicht getragen werden, mein leerer Bauch, eine leere Wiege, zwei leere Arme. Leere.“

Es sind Worte, die sich schwer auf die Anwesenden legen und sie den Blick senken lassen. Die an ihr Ohr dringenden Rufe eines Kindes, das von seinen Eltern über den Friedhof begleitet wird, klingen wie aus einer anderen Welt. Die Gruppe steht vor zwei tränenförmigen Feldern, die mit verschiedenen Pflanzen bewachsen sind. Es ist das Gemeinschaftsgrabfeld „Ein Hauch von Leben 2“. Dort werden Kinder beerdigt, die vor ihrer Geburt verstorben sind, sogenannte Sternenkinder.

Das Grabfeld gibt diesem Leid ein Gesicht, einen Ort der Trauer und der Erinnerung. Jede dritte Frau erleidet vor der zwölften Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt. Eine Erfahrung, die oft stark belastet – und tabuisiert wird.

„Wir können hinsehen. Wir können annehmen, dass es so ist. Das Kinder sterben, bevor sie geboren werden“, setzt Hefner die Rede fort.

Die Vereinsvorsitzende hat Sternenkinder Rhein Main 2019 gegründet. Der Verein soll den Müttern, ihren Partnern, den Hebammen und Angehörigen helfen: Wohin kann ich mich wenden? Welche Rechte habe ich? Wie kann man Betroffene unterstützen? Die Vierunddreißigjährige hat das Leid, das eigene Kind zu überleben, selbst erfahren. Dreimal. Die Kinder wären jetzt achtzehn, fünf und vier Jahre alt.

„Ich wollte das nicht feiern“

In einem sonnigen Wohnzimmer sitzt Hefner mit einer weiteren betroffenen Mutter an einem Tisch. Hefner begleitet die Frau seit etwa einem Jahr, nach dem Verlust mehrerer Kinder. Durch ihre Plauderei hindurch merkt man ihnen ihre tiefe Verbindung an. Die Frau möchte anonym bleiben. Die Angst, im Arbeitsumfeld auf ihren Verlust angesprochen zu werden, damit nicht umgehen zu können, bewegt sie dazu. Wir nennen sie daher Jana Müller.

Die Einweihung des Grabfeldes habe in ihr zuerst Widerstand ausgelöst. „Ich wollte das nicht feiern“, sagt sie. Sie spricht ruhig und streicht sich gelegentlich die dunklen, leicht grauen Haare aus den Augen. Erst später habe sie erkannt, dass es wichtig sei, ein Ritual zur Einweihung zu haben und diesen Ort mit guten Gefühlen aufzuladen.

Ihr eigenes Kind wurde im ersten Grabfeld des Hauptfriedhofs begraben. Es gibt keine Grabsteine. „Man muss sich selbst merken, wo es liegt“, sagt Müller, deshalb wünsche sie sich feste Grabfelder. Bei der Beerdigung wurden keine Namen verlesen, aus Respekt vor den Eltern, die ihren Kindern keine geben möchten. Es wurden Kuscheltiere, bemalte Steine und Kinderarmbänder auf das Grab abgelegt. Auf ihnen stehen Vornamen und nur ein Datum. Das zweite Grabfeld ist von Pflanzen bedeckt, daneben steht ein kleines Metallbäumchen. An ihm hängen silberne Blätter, die sich im Wind bewegen, mit den Wünschen und Gedanken der Eltern. „Wir geben dich in Gottes Hand“, liest man darauf.

Das Grabfeld sei ein wichtiger Ort der Trauer, sagt Hefner, dabei gehe es auch um Gleichberechtigung. „Wenn man Achtzigjährige beerdigen kann, warum sollte man das eigene Kind nicht beerdigen?“, fragt sie. Dabei sei gerade die Vorstellung, dass das Kind in dem Gemeinschaftsgrab nicht allein liege, für viele Eltern tröstlich.

Aufklärung laufe „nur so mittelgut“

Bei der Einweihung des zweiten Grabfeldes wurden Eltern und der Rat der Religionen hinzugezogen. Es ist für Kinder jeder Konfession gedacht sowie für konfessionslose. Außer von der evangelischen und katholischen Seelsorgerin wurde das Grabfeld auch von einem Mitglied der Bahai-Gemeinde und dem Imam Mohammed Naved Johari eingeweiht.

Die Aufklärung, welche Rechte die Betroffenen haben, laufe „nur so mittelgut“, sagt Hefner. Ihre zuvor einfühlsame Art, über die Verluste zu sprechen, wechselt dabei in einen ernsten und fordernden Ton. Fragen, wie ob man zu Hause entbinden könne und wie lang die Bestattungsfrist sei, würden oft nicht behandelt, sagt sie, dabei sei eine Aufbahrung von 36 Stunden möglich.

Teils werde in seltsamen Situationen gefragt, ob man einen Seelsorger sehen möchte, etwa direkt nachdem man erfahren habe, dass das eigene Kind nicht leben werde, erzählt Hefner. Die Entscheidung sei überfordernd, die Ärzte sollten die Seelsorger „doch bitte einfach vorbeischicken“.

Mit 16 Jahren hat Hefner ihr erstes Kind geboren, es kam zu früh und tot zur Welt. Unterstützung hat sie nicht erhalten, abgesehen von einer Nachuntersuchung.

2017 hat Hefner dann ihren Sohn Jona Immanuel geboren, doch bereits kurz vor dem Einsetzen der Wehen starb er. Bei einer pränatalen Untersuchung war zuvor festgestellt worden, dass er von dem Gendefekt Trisomie 13 betroffen ist und kaum eine Lebenschance hat. Auf ihren eigenen Wunsch hin trug sie das Kind aus und verabschiedete sich zu Hause von ihm. Dabei bekam sie die Unterstützung eines Palliativteams. Trotzdem hat sie vieles selbst organisiert und hatte um die 25 Termine in vier Wochen.

Hebammen meist nicht ausgebildet für emotionale Begleitung

Wenige Monate später gründete sie die Selbsthilfegruppe „Unsere Sternkinder Rhein-Main“, um ihr Netzwerk für andere zu öffnen und zu erweitern. Sie wurde abermals schwanger, doch ihre Tochter Juno hörte in der ersten Nacht nach der Entbindung zu Hause plötzlich auf zu atmen: ein aggressiver bakterieller Infekt. Die Rettungsversuche scheiterten. Ein abermaliger Schicksalsschlag – diesmal konnte die Familie aber auf das selbst geknüpfte Netzwerk zurückgreifen.

Dass man auch auf der gynäkologischen Station entbinden kann, wüssten die meisten gar nicht, erzählt Müller. Sie selbst habe dort ihr verstorbenes Kind geboren, denn sie wollte es nicht im Kreißsaal bekommen, neben all den glücklichen Müttern. Erst bei der Geburt sei eine Ärztin anwesend gewesen, eine Hebamme gab es nicht. Ihre vielen Fragen konnte das Pflegepersonal nicht beantworten. Das war im Mai 2021.

Die meisten Hebammen seien für eine solche Situation nicht ausgebildet und könnten keine emotionale Begleitung anbieten, erzählen die beiden Frauen. Auch Ärzten und Krankenschwestern merkt man die Überforderung an. Dass es Sterbeammen gibt, leider zu wenige, wissen die meisten nicht.

Eine Oberärztin habe auf die Frage, wann sie nach der Geburt wieder arbeiten könne, geantwortet, „theoretisch am nächsten Tag“, sagt Hefner. Das sei schlichtweg falsch, nach einer Geburt brauche man immer ein Wochenbett. Die Klinik schreibe für ein bis zwei Wochen krank, danach müsse man sich an seinen Hausarzt wenden. Frauen, deren Kind vor der 24. Schwangerschaftswoche geboren wird oder unter 500 Gramm wiegt, stehe bislang kein Mutterschutz zu. Sich eine Krankschreibung zu holen, sich die Zeit zu nehmen, um das Erlebte zu verarbeiten, falle den meisten schwer, sagt Hefner. Deshalb macht sie sich für eine Petition stark, die einen Mutterschutz nach Fehlgeburten fordert, rund 32 000 Stimmen gibt es bislang.

Fotos als Existenzbeweis

Um mit der Trauer umzugehen, sei es hilfreich, sich genügend Zeit zu nehmen – da sind sich Müller und Hefner einig. Das beginne schon beim Abschiednehmen. Wer die Möglichkeit nicht nutze, sein Kind genau zu betrachten, bekomme sie nie wieder. Sternenkinder-Fotografien können die Erinnerung wachhalten. Anders als bei Menschen, die länger gelebt haben, gebe es von den Kindern sonst keine Bilder. Die Bilder seien aber auch ein Existenzbeweis, denn ohne Kind, ohne Grab würde man zu einer „unsichtbaren Mutter“, sagt Müller. Die Bilder können am Geburtstag des Kindes herausgeholt werden oder um es Menschen vorzustellen, die neu in das eigene Leben treten. Müller ist dankbar, dass sie viele professionelle Bilder von ihren Kindern hat und bei einigen mit drauf ist. An den Geburtstagen sieht sie sich die Bilder gerne an.

Die Fotografien werden von Stiftungen wie „dein-Sternenkind.eu“ gemacht. Die Krankenschwestern informieren Betroffene über das Angebot, und über eine Alarmierungsapp wird schnellstmöglich ein Fotograf in die Klinik gesendet. Christina Kratz ist seit 2013 für die Stiftung tätig. Das Foto sei eine Erinnerung, erzählt Kratz. Sie spricht selbstbewusst und entwaffnend direkt. Das Foto sei wichtig, um das Geschehene zu begreifen, denn Betroffene verdrängten häufig die Situation, aber die Möglichkeit, Bilder zu machen, komme nicht wieder, sagt sie.

„Wenn ich diese Blase verlasse, treffe ich auf eine Realität, mit der ich nicht zurechtkommen kann“, schreibt eine Mutter.

Christine Kratz versteht sich selbst als erstes Bindeglied zwischen der Trauerblase und der Welt der anderen. Sie komme von außen, als Unbeteiligte, zu den Betroffenen, in die intimsten Momente, sagt sie. Die Reaktionen können dabei ganz verschieden ausfallen: Einige sitzen gemütlich beim Essen, als wäre nichts, andere weinen oder sind wütend. „Alles ist denkbar.“

Kliniken sind mittlerweile verpflichtet Kinder jeden Alters zu beerdigen

Für die Begleitung sind die Fotografen nicht ausgebildet. Psychologen, Sterbeammen und Seelsorger sollen die Betroffenen auffangen. Für das Universitätsklinikum sind unter anderem Sybille Neumann, Pfarrerin und Seelsorgerin, und Marita Cannive-Fresacher, katholische Pastoralreferentin und Seelsorgerin, zuständig.

Sie werden gerufen sobald ersichtlich wird, dass das Kind im Mutterleib oder nach der Geburt versterben wird. Den Betroffenen wird die Seelsorge von den Ärzten und Krankenschwestern angeboten, sagt Neumann. Es liege an den Betroffenen, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Die Seelsorgerinnen haben eine 24-Stunden-Rufbereitschaft und können vom Pflegepersonal, von den Ärzten, der Mutter oder den Angehörigen angefordert werden. Alle Kinder des Klinikums bis zur 24. Schwangerschaftswoche oder unter 500 Gramm werden auf dem Grabfeld „Ein Hauch von Leben 2“ beerdigt, wenn die Eltern keine anderen Wünsche äußern.

Jessica Hefner erzählt, dass die Kliniken mittlerweile verpflichtet sind, die Kinder, unabhängig von deren Alter, zu beerdigen. Früher wurden die Embryos einfach mit den Abfällen von Operationen entsorgt. In ihrer Stimme schwingt Bitterkeit mit. Die Kosten einer Beerdigung in einem eigenen Grab, die mehrere Tausend Euro betragen können, werden im Gegensatz zum Gemeinschaftsgrab nicht übernommen und können die Betroffenen zusätzlich belasten.

Der Umgang mit dem Tod werde immer schwieriger, sagt Cannive-Fresacher. Aufmerksam und ruhig schaut sie durch die Gläser ihrer runden Brille. Früher habe man zum Beispiel die verstorbenen Eltern noch selbst gewaschen und aufgebahrt, das sei heute nicht mehr üblich. Die Rituale gäben Halt. Die Beerdigung eines verstorbenen Kindes, ein Gedenkgottesdienst oder auch ein gemeinsames Vaterunser stärkten den Zusammenhalt, sagt sie. Der Glaube spiele in solchen Fällen eine Rolle, denn die Vorstellung eines Wiedersehens könne Trost und Hoffnung spenden. Gott könne aber auch das Gegenüber werden, dem man seine Wut entgegenbringe, sagt sie.

Alle Kinder kommen ins Paradies

Die Geburt und der Verlust brächten viele dazu, die Frage nach dem Sinn zu stellen. Die Erlebnisse könnten einen neuen Zugang zum Glauben schaffen oder ihn erschüttern, sagt Neumann. „Es gibt Situationen, da habe ich angesichts Gottes viele Fragen.“ In dieser Trauer und Wut lehnten viele die Seelsorge ab, da sie die Lösung nicht in den Bibelpsalmen sehen. Generell ist immer eine psychologische Betreuung möglich oder sogar beides, sagt Neumann.

Dass Kinder aller Religionen auf dem Grabfeld auf dem Hauptfriedhof beerdigt werden, sei kein Problem, sagt der Imam Mohammed Naved Johari, denn alle Kinder kämen ins Paradies. Man könne sie also auch Paradieskinder nennen. Es herrschen im Islam verschiedene Auffassungen, ab wann die menschliche Seele eingegeben wird: Nach 40 Tagen oder nach 120 Tagen, trotzdem respektiere man das Meinungsspektrum. Als Imam versucht Johari, den Betroffenen die verschiedenen Auslegungen darzulegen, doch nur Allah könne ihnen bei ihrer Entscheidung helfen und nur Allah sie bewerten.

„Vielleicht haben einige Menschen mich begleitet, aber nach sechs Monaten bin ich fast alleine“, lauten die Worte einer Mutter.

Viele Angehörige würden sich zurückziehen, sagt Neumann, da sie sich mit der Situation überfordert fühlten. Die Abwehr von Tod und Krankheit sei eine vitale Reaktion, eine Art von Selbstschutz. Sie sollte den Betroffenen aber kommuniziert werden.

Dass die Menschen mit Tod und Trauer überfordert sind, empfindet auch Müller so. Besonders dann, wenn es um frühe Kindstode geht, sagt sie. Man selbst sei handlungsunfähig und brauche Freunde, die wüssten, was man macht und was man nicht macht. Dafür hat der Verein verschiedene Flyer gestaltet mit den wichtigsten Informationen für Betroffene, Angehörige und alle anderen.

Die Broschüren des Vereins liegen bei der Einweihung des Grabfeldes auf dem Hauptfriedhof aus. Helle Hefte auf dunklen Tischen, in ihnen ein Geburtskärtchen. Hefner und Schäfer stehen unter einem kleinem Pavillon auf dem Rasen und lesen die Worte der unsichtbaren Mütter vor.

„Ich bin einsam. Verlassen. Alleine ohne dich, obwohl du gerade noch ein Teil von mir warst.“

Wenige Minuten später gehen alle ihrer Wege, doch die Worte, die Stimmung und das Bild einer in Tränen aufgelösten Mutter bleiben bestehen.

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