Katharina Strobel

Freie Journalistin • Brüssel • Edinburgh

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Zielstrebig in Trippelschritten

Ska Keller will in Brüssel die Welt verändern – ein Besuch bei der Abgeordneten


Von Katharina Strobel


Wenn schon, denn schon. Wenn schon in der Politik, dann mit dem Ziel, die Welt zu verändern. Aus dem Mund von Ska Keller klingt das nicht nur selbstverständlich, sondern auch möglich. Die 31-jährige Europa-Abgeordnete der Grünen will bei der Europawahl im Mai 2014 ein zweites Mal gewählt werden, um in Brüssel und Straßburg den Weg für ein faires Europa zu ebnen und auch die Welt als Ganzes ein bisschen besser zu machen. Zuvor hat die Europäische Grüne Jugend sie unter dem Motto „Ska for Europe“ für die Urwahl nominiert, mit der die Grünen ihren Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten bestimmen.

Ihr erster Satz verrät viel über Ska Keller: „Da sitzt sonst die Praktikantin“, sagt sie, als die Reporterin ihr gegenüber an dem schmalen Schreibtisch Platz nimmt. Die Abgeordnete und die Praktikantin, direkt auf Augenhöhe. Hierarchien passen nicht in die zwei kleinen Zimmer von Keller. Hier arbeiten sie daran, die Welt zu verbessern, egal, welchen Alters, Geschlechts sie sind und welchen Jobtitel sie haben – und das mit möglichst wenig Kompromissen und lieber schneller als langsamer.

Es gab mal eine Zeit, da galt das Europaparlament als Abstellgleis für ausgediente Politiker. Noch in den 90er Jahren nahm kaum einer die Abgeordneten in Brüssel und Straßburg wahr. Spätestens seit dem Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft trat, seit das Europarlament dem Ministerrat in den meisten Politikbereichen gleichgestellt ist und mitentscheidet, zieht es Leute wie Ska Keller in eine der wichtigen Schaltzentralen der EU. „Hier kann man auch als kleine Fraktion etwas bewegen“, sagt Keller.

An diesem Morgen trägt die Brandenburgerin ein blau-grau gestreiftes Baumwollshirt, eins von der Sorte, das Eltern gerne ihren kleinen Kindern anziehen: praktisch, bequem. Dazu eine Jeans und diesen Kurzhaarschnitt, der auch sitzt, wenn man Nächte in Zügen und Bahnhöfen verbringt, was bei der umweltbewussten Grünen nicht selten vorkommt. So bewegt sie sich durchs Europaparlament in Brüssel, flink, zielstrebig, durch Scharen von Anzugträgern und Kostümträgerinnen navigierend. Nebenher eilt die Assistentin und übermittelt schnell noch die letzten Details zum Thema Personenkontrolle an den EU-Außengrenzen, denn dazu spricht Keller an diesem Morgen im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, in dem sie für die Grünen sitzt.

Es kommt vor, dass die Saaldiener die Grüne an die Schulter tippen und ihr zuflüstern, der Platz, auf dem sie sitze, sei für die Abgeordneten reserviert. Dann lächelt sie freundlich und flüstert zurück: „Ich bin eine Abgeordnete“. Für eine Praktikantin gehalten zu werden, stört Keller nicht. Spätestens, wenn sie ihr Mikro anknipst und ihre Ansichten klar und deutlich aus den Lautsprechern dringen, sind alle Zweifel aus dem Weg geräumt. „Italien bittet die EU in der Flüchtlingsfrage um Hilfe. Da ist es nicht akzeptabel, dass es die Hilfe hinten herum im Ministerrat blockiert“ – aus Kellers Worten spricht eine Überzeugung für die Sache und eine Sicherheit, sich für das Richtige stark zu machen.

Das ist bei Ska Keller schon immer so. Zum Beispiel in der Grundschule, als ihre Mitschüler aus ihrem Geburtsnamen Franziska eine „Franzi“ machen. „Aber eine Franzi war ich nicht“, weiß Keller schon damals mit instinktiver Sicherheit, „das schien mir zu verniedlicht. Übrig blieb dann Ska“. Das war‘s. Drei Buchstaben, kurz, markant, eigen. So kommt es dann auch. Sie entwickelt sich zu einer markanten Eigenmarke, einer Mitbürgerin, die einschreitet, wenn sie Unrecht sieht. In ihrer Heimatstadt Guben, zweigeteilt in eine deutsche und eine polnische Hälfte durch den Krieg, gibt es in den 90er Jahren eine verbreitete Fremdenfeindlichkeit, die mit dem Tod des 28-Jährigen Farid Guendoul aus Algerien 1999 seinen schockierenden Höhepunkt erlebt.

„Darauf wollte ich reagieren“, sagt Keller, damals 18 Jahre alt. Sie schreitet zur Tat und gründet den Verein Guben-Gubin e.V. gegen Fremdenfeindlichkeit, zusammen mit anderen jungen Leuten aus Guben und dem polnischen Gubin. Auch das ist ungewöhnlich für Guben, dass jemand seinen Blick nach Osten richtet und die Hand ausstreckt über die Neiße. „In Guben ist das Gefühl verbreitet, der Osten höre hier auf“, beschreibt Keller. Kaum einer spreche polnisch und nur wenige Menschen nutzten die Gelegenheit, das Land über die billigen Läden und Märkte hinaus kennenzulernen.

Die geteilte Welt von Guben hat Ska Keller hinter sich gelassen. Sie sieht sich als europäische Abgeordnete. Sie will für die Menschen in ihrem Wahlkreis genauso gute Politik machen, wie für die Spanier, die Schotten oder die Skandinaven. Ihr Mann ist Finne, sie selbst spricht neben deutsch, englisch, französisch, spanisch, türkisch und katalanisch und hat Kurse in arabisch, hebräisch und polnisch belegt. Sie ist überall da zuhause, wo sie gerade ist. Und sie ist viel unterwegs: in Brüssel, Straßburg, ihrem Wahlkreis, der die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg umfasst und in anderen Teilen Europas und darüber hinaus.

Auf diesen Reisen begegnen ihr Armut und Reichtum, Alte und Junge und das ganze breite Spektrum der europäischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Kulturen, Sprachen, die ganze Vielfalt. Mehr von dieser Vielfalt will Keller im Europarlament sehen. Vor allem junge Leute, die die Reihen ihrer Kollegen, die vom Alter her größtenteils ihre Eltern sein könnten, aufmischen und eine wahreres Abbild der Realitäten schaffen. „Schön und gut, wenn es Jugendparlamente gibt“, sagt Keller, „aber wichtig ist es, dass die Jugend ihre Stimme auch da einbringen kann, wo Gesetze entschieden werden.“

Auch deshalb haben die Jungen Grünen sie in den Urwahlen für den Job des Kommissionspräsidenten nominiert. Mit ihr erhoffen sie sich eine Kandidatin, die sich für ihre Belange einsetzt, allen voran, für das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas. „Die Eurokrise trifft am härtes­ten eine Generation, die die Krise nicht verursacht hat, aber jetzt ihre Folgen ausbaden muss“, sagt Keller. Sie will sich für Investitionen in Jobs mit Perspektive stark machen, im Bereich der Erneuerbaren Energien oder im Bildungswesen, zum Beispiel.

Auch der Flüchtlingspolitik nimmt sie sich an. Überall da, wo Schwächere nicht zu ihren Rechten kommen, erhebt Ska Keller ihre Stimme. Die Welt verändern, nichts weniger. Dafür rackert sie 84 Stunden die Woche, oft länger. Dass sie ihre Ziele erreichen kann, hat sie in der kurzen Zeit, in der sie Abgeordnete ist, bewiesen. „Wir trippeln auf kleinen Schritten“, sagt sie, „aber dabei bewegen wir was.“ Auf ihr Drängen, beispielsweise, gebe es jetzt einen Beauftragten für Menschenrechte bei Frontex, der Agentur zur Sicherung der EU-Grenzen. „Man muss Kompromisse eingehen in der Politik“, so Keller und sie stelle sich bei jeder Abstimmung erneut die Frage: „Kann ich Menschen damit zu einem besseren Leben verhelfen, ohne dass andere einen Nachteil erfahren?“ Könne sie die Frage mit ja beantworten, stimme sie zu, wenn auch oft mit Bauchschmerzen.

Als Franziska Keller im November 1981 auf die Welt kommt, besteht die EU oder EG, wie sie damals heißt, aus zehn Mitgliedsstaaten. Es gibt die DDR und den Eisernen Vorhang. Heute sind 28 Staaten in der EU, Kellers Geburtsland ist von der Landkarte verschwunden. Von Stillstand kann dennoch keine Rede sein. „Es ist alles in Bewegung“, sagt Keller. Zum Beispiel die Entwicklung der EU: Wo liegt die Zukunft Europas? Der Ausgang der Europawahl im Mai 2014 wird auf diese Frage eine entscheidende Antwort geben. Vor diesem Hintergrund kann und wird jeder einzelne Abgeordnete ein Stück weit die Welt verändern.