Katharina Schuster

Freie Journalistin und Nachrichtenredakteurin

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Tödliches Tabu: Rapperin bricht das Schweigen

Quelle: Brian Otieno/Deutsche Stiftung Weltbevölkerung/obs

Die Schmerzen und das viele Blut kann Fatou nicht vergessen. Ihre kleinen Beine und Arme drücken Frauen aus dem Dorf im Senegal fest in den Boden. In Fatous Gedanken stechen die Schreie der anderen Mädchen, die vor ihr dran waren. Der Blick zur Mutter verrät: Jetzt passiert das gleiche auch ihr.

Meine Mutter kniete neben mir. 'Du musst brav sein. Du darfst nicht schreien, das ist nicht gut für unsere Familie', sagte sie. [...] Natürlich habe ich geschrien. Ich hatte grauenvolle Schmerzen.

Fatou Mandiang Diatta, Überlebende einer Genitalverstümmelung


Verstümmelung gefeiert wie einen Kindergeburtstag

Mehr als 35 Jahre später weiß Fatou Mandiang Diatta, dass sie Überlebende einer Genitalverstümmelung (englisch female genital mutilation, kurz: FGM) ist. In der Regel primitiv ausgeführt mit Scherben, abgewetzten Metallschneiden oder stumpfen Rasiermessern - ohne Betäubung.


Die Mädchen sind meist zwischen null und zwölf Jahre Jahre alt. Einige sterben bei der Prozedur oder später an den Folgen. Kurz- und langfristig haben die Betroffenen unter anderem mit heftigen Schmerzen, starkem Blutverlust, Infektionen, Zysten und Unfruchtbarkeit zu kämpfen.


Damals wurde ihre Verstümmelung wie ein Kindergeburtstag gefeiert, erinnert sich Fatou Mandiang Diatta. Über die Schmerzen zu sprechen, ist auch heute noch ein Tabu.


Mit Rap aufklären im Senegal und in Deutschland

Fatous Schweigen hielt bis ins College. "Als ich erfahren habe, dass zwei Mädchen nach der Prozedur gestorben sind, weil die Beschneiderinnen Angst hatten, sie in ein Krankenhaus zu bringen, wollte ich nicht länger leise sein", erzählt die 41-Jährige, die heute in Berlin lebt.


Mit Hilfe von Musik schreit sie als Rapperin "Sister Fa" ihre Wut und ihren Schmerz heraus. Zu Beginn um ihr eigenes Trauma zu verarbeiten, später vor allem für andere, sagt sie. In ihren "Sarabah"-Liedern rappt sie auch über arrangierte Ehen, patriarchale Strukturen, Aids.

Das sei in der konservativ und religiös geprägten Community rund um Darka im Senegal auf heftige Widerstände gestoßen.


Ich wurde als weiße schwarze Frau beschimpft. Ich wurde attackiert. Es war gefährlich für mich.

Fatou Mandiang Diatta, Aktivistin gegen Genitalverstümmelung


Weltweit 12.000 Mädchen pro Tag in Gefahr

Das Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass weltweit mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen leben, die einer weiblichen Genitalverstümmelung unterzogen wurden. In diesem Jahr seien 4,4 Millionen Mädchen gefährdet. Das entspricht circa 12.000 Mädchen pro Tag.


Auch in Deutschland leben nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes mittlerweile mehr als 100.000 Mädchen und Frauen, deren Genitalien beschnitten wurden. Mehr als 17.000 Mädchen seien derzeit potenziell gefährdet.


Wie das Festhalten an Traditionen Aufklärung erschwert

Die alte Tradition werde über Generationen weitergegeben. Mit der Beschneidung erfüllen die Menschen eine kollektive Erwartung - eine soziale Norm. Die Beschneiderinnen seien der Ansicht, sie täten etwas Gutes, sagt Sister Fa.


Erst mit dem Eingriff werden die Mädchen und ihre Familien akzeptiert, können später heiraten. Die, die sich wehren, werden verstoßen. Und das, obwohl FGM im Senegal seit 1999 verboten ist und unter Strafe steht.


Sister Fa betreibt Aufklärung an Schulen, richtet Konzerte und Fußballturniere aus. In Berlin bietet sie eine Anlaufstelle für Mädchen und Frauen an, informiert - auch über Genitalrekonstruktion.


Junge Menschen erreiche sie einfach, schwer sei es die alten Entscheidungsträger*innen zu überzeugen.


Weibliche Genitalverstümmelung: Gefahr um ein Drittel gesunken

Ein Lichtblick: Das Risiko für ein Mädchen, weibliche Genitalverstümmelung zu erleiden, ist heute um ein Drittel geringer als vor 30 Jahren. Das liegt auch an Projekten wie denen von Fatou Mandiang Diatta alias Sister Fa. Sie wünscht sich, dass FGM als globales Problem verstanden wird.


Sister Fa begleitet Projekte in Deutschland und im Senegal.

Warum ihre eigene Mutter damals zuließ, dass Fatou Schmerzen erleidet? "Meine Mutter hatte keine Wahl", sagt sie - und das sei das Zentrale. Töchter von Überlebenden haben ein deutlich höheres Risiko, dass an ihnen ebenfalls FGM praktiziert wird. Zu stark sei das Festhalten an Traditionen.


Doch der Wandel ist da, berichtet Fatou. Immer mehr Beschneiderinnen rücken von dem blutigen Ritual ab; Brüder setzen sich für ihre Schwestern ein. Um schneller Erfolge zu erzielen, schlägt sie zum Teil auch symbolische Beschneidungen vor, bei denen das Ritual nur angedeutet werde, aber keine Verletzung stattfindet.


Den Kreislauf weltweit irgendwann ganz zu durchbrechen, dafür wird die Neuköllnerin weiterkämpfen, auch für ihre eigenen Kinder.


Katharina Schuster ist Reporterin in der ZDFheute-Redaktion.


Zum Original