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"Wenn ich als angehende Rabbinerin nicht über Queerness im Judentum spreche, macht es niemand"

Helene Shani Braun schreibt Geschichte. Als eine der ersten Frauen in Deutschland wird sie das religiöse Amt der Rabbinerin bekleiden - und das auch noch als bisher jüngste. "Die Vorstellung, dass alles, was ich gerade mache, historisch ist, finde ich komisch", sagt die 23-Jährige.


"Junge Menschen laufen den jüdischen Gemeinden nicht gerade die Türen ein."


Historisch - auf den ersten Blick passt dieses Wort tatsächlich nicht zu Braun. Sie hat ein Nasenpiercing, trägt die Haare kurz geschnitten und teilt auf ihrem Instagram-Profil ein Leben, das eher an Influencerin als an Geistliche erinnert: Der Feed ist eine bunte Mischung aus Tora-Rollen, Queer-Pride-Flaggen und Schnappschüssen von den Straßen Berlins. Auch das macht die Studentin zur Ikone für eine neue jüdische Generation. Eine Generation, in der junge, queere Frauen Rabbiner werden können - oder sogar müssen.

"Junge Menschen laufen den jüdischen Gemeinden nicht gerade die Türen ein", sagt Braun. "Das liegt unter anderem daran, dass Themen, die junge Menschen beschäftigen, dort oft nicht besprochen werden."


Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg

Seit 2018 lässt sich Braun am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zur Rabbinerin ausbilden, gerade ist sie im fünften Semester. Das Rabbinatsstudium gliedert sich in zwei Teile: Die Studierenden belegen den Studiengang Jüdische Theologie an der Universität Potsdam, für den sich jeder einschreiben kann. Und sie absolvieren eine praktische Ausbildung am Kolleg; dort lernen sie alles, was sie für die Arbeit als Rabbinerinnen und Rabbiner brauchen.


Wenn nicht eine Pandemie das öffentliche Leben in Deutschland lahmlegen würde, wenn Gottesdienste nicht stark eingeschränkt und Universitäten nicht geschlossen wären, dann würde Braun also gerade drei Tage die Woche in Hörsälen der Uni Potsdam Vorlesungen lauschen und in der Bibliothek des Kollegs Bücher wälzen. Mit ihrem blau-weißen Gebetsschal, dem Tallit, über Schultern und Kopf gelegt, würde sie in der Synagoge Gebete sprechen oder den Gottesdienst selbst leiten.


In Brauns Jahrgang studieren sieben angehende Rabbiner, vier Männer und drei Frauen, Braun ist mit Abstand die Jüngste. Dass sie das Kolleg überhaupt besuchen und später als Rabbinerin die Tora lehren darf, ist noch nicht lange und noch nicht überall eine Selbstverständlichkeit.

Die erste Frau weltweit, die Rabbinerin wurde, war die Berlinerin Regina Jonas, die 1935 ordiniert wurde. Nach der fast völligen Zerstörung jüdischen Lebens im Holocaust wurde erst 2010 wieder eine Frau in Deutschland zur Rabbinerin geweiht: die Ukrainerin Alina Treiger, ausgebildet am liberalen Abraham Geiger Kolleg. Seit seiner Gründung im Jahr 1999 wurden dort sieben Frauen zu Rabbinerinnen ausgebildet. Auch am konservativen Zacharias Frankel College, das 2013 gegründet wurde und ebenfalls zur Universität Potsdam gehört, werden vereinzelt Frauen als Rabbinerin ordiniert. In orthodoxen und ultraorthodoxen Gemeinden in Deutschland gibt es dagegen keine weiblichen Rabbiner. In den USA etwa ist das anders; dort ist generell viel verbreiteter, dass Frauen Rabbinerinnen sind.


Eine Konferenz in Boston

US-amerikanische Rabbinerinnen waren es auch, die in Braun den Wunsch weckten, selbst Rabbinerin zu werden.

"Ich bin religiös aufgewachsen", erzählt sie, "wir haben zu Hause alle Feiertage begangen und regelmäßig die Gemeinde besucht." Besonders spannend habe sie die Predigten des Rabbiners gefunden, der selbst noch in der Ausbildung war. "Wenn er vom Abraham Geiger Kolleg erzählte, hörte sich das für mich total cool an - wie Hogwarts für jüdische Studis!"

2017 nahm Braun an einer Konferenz in Boston Teil, bei der sich liberale Jüdinnen aus der ganzen Welt trafen. "Am Abend saß ich mit einer guten Freundin im Hotelzimmer und wir kotzten uns darüber aus, dass in allen hohen Ämtern immer nur Männer sitzen", erzählt sie. "Das war der Moment, in dem ich mir zum ersten Mal dachte: Daran muss ich selbst etwas ändern."

Bei der Tagung seien auch einige junge Rabbinerinnen aus den USA gewesen, denen sie ihre Fragen über das Leben als Rabbinerin gestellt habe. "Sie sagten mir: ›Wenn niemand in Deutschland etwas tut, passiert auch nichts‹ - und ermutigten mich, den hierzulande noch eher unüblichen Weg zur weiblichen Rabbinerin zu gehen."


Keine Schnapsidee, sondern ein Auftrag

Zurück in Deutschland sprach Braun mit Familie und Freunden, suchte Kontakt zum Abraham Geiger Kolleg - und bewarb sich. Sie musste ein Motivationsschreiben einreichen, Empfehlungsschreiben von Rabbinern organisieren, Bewerbungsgespräche führen und viel Überzeugungsarbeit leisten. "Ich musste wirklich kämpfen, weil ich die jüngste Person war, die sich jemals dort beworben hat", sagt Braun. Um am Kolleg angenommen zu werden, muss man mindestens 21 Jahre alt sein - Helene hatte dieses Mindestalter damals gerade erst erreicht. "Es gab aufgrund meines Alters Bedenken, ob das nur eine Schnapsidee sei und ich nach kurzer Zeit wieder aufhören würde. Aber ich konnte sie überzeugen."

Dass sie jetzt als Frau und als jüngste Person am Kolleg studiert, ist für Braun bei Weitem keine Schnapsidee, sondern ein Auftrag: Sie will junge Menschen für jüdisches Leben begeistern und die Themen, die ihnen wichtig sind, in die Gemeinden tragen. Nicht zuletzt, weil jüdische Gemeinden ohne jugendlichen Zulauf irgendwann aussterben könnten.


Schon jetzt versucht Braun, eine Ansprechpartnerin zu sein für junge Menschen, die ihr Jüdischsein gerade entdecken. In ihren Instagram-Posts fängt sie deshalb oft ganz von vorn an, erklärt Bräuche des jüdischen Lebens wie etwa die Bedeutung von Sabbatkerzen. Sie wolle eine niedrige Einstiegsschwelle bieten für Menschen, deren Familien jüdische Traditionen nicht leben, sagt Braun.

Einst war das auch in ihrer eigenen Familie der Fall. Brauns Großmutter ist eine Überlebende der Schoa. Nach dem Nationalsozialismus übte ihre Familie die jüdischen Traditionen nicht mehr aus. Dieses Muster sei typisch für deutsch-jüdische Familien, sagt sie. Viele Jüdinnen der zweiten Generation hätten kaum noch Zugang zur jüdischen Tradition gehabt, obwohl diese unterschwellig präsent gewesen sei. Häufig sei es die dritte Generation, die sich den Wurzeln erneut intensiv zuwende.


Platz für Fragen schaffen

Sich den Wurzeln zuwenden, für Braun bedeutet das auch: etwas verändern. Sie selbst habe in ihrer Jugend keinen Ansprechpartner gehabt, als sie das Gefühl hatte, sich auch zu Mädchen hingezogen zu fühlen, sagt sie. "Ich komme aus einer liberalen Gemeinde und auch für meine Familie wäre das bestimmt kein Problem gewesen. Aber ich kam gar nicht auf die Idee, meine Fragen an die Gemeinde zu adressieren." Die Frage etwa, warum die Tora Homosexualität verbiete. Und ob sie sich trotzdem mit dem Glauben vereinbaren lasse. Fragen, für die in einer modernen Gemeinde Platz sein müsse, um ihren Mitgliedern gerecht zu werden.


"Da nehme ich mir lieber die Zeit, als dass queere Jugendliche mit ihren Fragen alleingelassen werden."

Diesen Platz will Braun schaffen - indem sie ihren eigenen Glauben und ihre eigene Queerness öffentlich verbindet. "Wenn ich als angehende Rabbinerin nicht über Queerness im Judentum spreche, macht es niemand. Da nehme ich mir lieber die Zeit, als dass queere Jugendliche mit ihren Fragen alleingelassen werden", sagt sie. Schon jetzt ist Braun Teil der 2018 gegründeten Initiative "Keshet Deutschland", einer wichtigen Anlaufstelle für queere jüdische Jugendliche. "Unser Ziel ist aber nicht, dass in Deutschland jüdische LGBT-Gemeinden entstehen, sondern dass Queerness ein selbstverständlicher Teil in den schon existierenden Gemeinden wird."


Helene Shani Braun wird wahrscheinlich die jüngste Frau in Deutschland sein, die Rabbinerin wird. In hundert Jahren wird sie einmal als historische Persönlichkeit gesehen werden. Bis dahin, das ist ihr Ziel, soll es normal werden, dass junge Frauen Rabbinerinnen werden. Dass queere Menschen eine Heimat in jüdischen Gemeinden finden. Und dass jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr nur mit Kippa tragenden Männern assoziiert wird.

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