Profimusiker und Leistungssportler haben nach Ansicht von Professor Eckart Altenmüller etwas gemeinsam: Sie gehen bis an ihre Grenzen, und oft eben auch darüber hinaus. Altenmüller ist Arzt und Musiker und zugleich einer der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie. In Hannover betreibt der Wissenschaftler an der Hochschule für Musik, Theater und Medien eine Spezialpraxis für Musikerkrankheiten. Dort behandelt Altenmüller täglich Musiker aus ganz Europa.
"Es gibt viele, die sich überfordern, um mit der Konkurrenz Schritt zu halten", stellt Altenmüller als einen zentralen Grund für die besonderen Erkrankungen bei Sportlern fest. Einer repräsentativen Studie der Universität Paderborn zufolge kämpfen mehr als die Hälfte der Orchestermusiker mit gesundheitlichen Problemen, die sie in ihrem Beruf beeinträchtigen. Durch einseitige Belastung leiden sie vor allem unter Rücken- und Schulterschmerzen, aber auch unter Hörstörungen oder Problemen mit dem Nervensystem.
Der Braunschweiger Gittarist Matthias Lindner ist einer von Altenmüllers Patienten. Alle sechs Monate erhält er eine Spritze in den Mittelfinger - mit dem Nervengift Botulinumtoxin. Das nimmt dem Profimusiker den Schmerz und macht seine Hand wieder voll beweglich.
Feinmotorik außer KontrolleFast fünf Jahre lang dachte Lindner, er übe zu wenig und sei den anspruchsvollen Stücken nicht mehr gewachsen, die er als Solist und in Ensembles spielte. "Es war, als wäre meine rechte Hand gehemmt." Als er 2006 in einem Studio saß, um eine CD einzuspielen, verkrampfte sich plötzlich der Mittelfinger und rollte sich unkontrolliert ein. Von da an war das Gitarrespielen für ihn eine Qual.
Musikmediziner Altenmüller diagnostizierte bei Lindner eine "fokale Dystonie", eine neurologische Bewegungsstörung, die nur eine bestimmte Körperregion betrifft. "Der Musiker verkrampft und hat seine Feinmotorik nicht mehr unter Kontrolle", erläutert der Arzt. Er hat sich in seiner Praxis auf die Erforschung und Behandlung dieser unheilbaren Krankheit spezialisiert.
Rund zwei Prozent der Musiker in Deutschland sind davon betroffen. "Es war der Horror", sagt Lindner. Er hatte starke Schmerzen in der Hand, wollte aber gleichzeitig nicht, dass seine Kollegen das Problem bemerkten. "Ich habe die Fingersätze für die rechte Hand umgestellt, sodass ich die Stücke ohne Mittelfinger spielen konnte."
Der psychische Druck ist großFür Musikmediziner Altenmüller ist der psychische Druck, dem sich auch Lindner aussetzte, ein typisches Verhalten von Berufsmusikern. Für sie stehe bei einer Erkrankung nicht nur die Existenzgrundlage auf dem Spiel.
Musiker stünden auch unter dauerhafter Beobachtung des Publikums und hätten einen hohen Perfektionsanspruch. Hinzu kämen Zeitdruck und schwierige Arbeitszeiten, sagt Altenmüller, der das Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hannoveraner Musikhochschule leitet.
Deshalb setzt er sich dafür ein, dass schon Musikstudenten lernen, wie sie mit Lampenfieber umgehen und ihre Gesundheit schützen können. "Wir brauchen heute Hochschulen, die nicht nur die Fertigkeiten am Instrument, sondern alle Bereiche des Lebens trainieren - vor allen den Umgang mit sich und den Kollegen."
Lampenfieber ist ein AusbildungsdefizitDas sieht Auftrittscoach Michael Bohne aus Hannover ähnlich. Er bietet seit Jahren Seminare gegen Lampenfieber an verschiedenen Musikhochschulen an. Bohne ist der Meinung, dass Studenten viel besser auf Extremsituationen wie Aufnahmeprüfungen vorbereitet werden müssen. "Lampenfieber ist keine Erkrankung, sondern ein Ausbildungsdefizit."
Weil Musiker untereinander zu wenig über ihre Ängste sprächen, seien seine Seminarteilnehmer immer wieder überrascht, wie viele ihrer Kollegen auch darunter litten. "Viele halten sich für schlechte Musiker, weil sie vor Auftritten aufgeregt sind."
Beim NDR-Sinfonieorchester in Hamburg hat die Unterstützung von Trainern wie Bohne schon Erfolge gebracht. Seit dort regelmäßig Workshops zu Themen wie Auftrittsängsten angeboten werden, herrsche viel mehr Offenheit unter den Orchestermitgliedern, sagt Orchesterarzt und Bratschist Thomas Oepen. "Es war eine kleine Revolution." Es wurde sogar ein Orchesterrat gegründet, der sich um die Probleme der Gruppe oder einzelner Musiker kümmert.
Matthias Lindner musste lernen, mit seiner Krankheit zu leben. Nach jeder Behandlung bei Altenmüller kann der Gitarrist seine Hand zwar zunächst für ein paar Tage kaum bewegen. Sie erschlafft, sodass er sich kaum noch das eigene Hemd zuknöpfen kann. Danach aber kann er fast problemlos Gitarre spielen - bis die Wirkung nach rund einem halben Jahr wieder nachlässt.