Smaragdgrün, kaugummipink, knallorange und hellgelb strahlen die Fassaden der Häuser, mit denen der Bolivianer Freddy Mamani einen neuen Architekturstil begründete: "Neoandinisch" heißt diese Strömung aus der bolivianischen Stadt El Alto nun akademisch. Die Farben lassen die Ponchos und Trachten der Aymara aufleben - ein indigenes Volk, dem auch Mamani angehört. Seine Formsprache erinnert an Schmetterlinge, Schlangen und Kondore, Tiere des Andenraums und der Mythologie der Aymara. Spiegelverziert und asymmetrisch sind die Gebäude obendrein.
Bevor Mamani gegen 2005 anfing, die grau-braun-ockerfarbenen Häuserfelder El Altos bunt aufzulockern, war die zweitgrößte Stadt Boliviens höchstens bekannt für ihre Lage: fast 4000 Meter über dem Meer. Architektonisch stand sie im Schatten der inoffiziellen Hauptstadt La Paz.
Mamanis Bauten haben ihm Wohlstand beschert und seiner Stadt Aufmerksamkeit. Sie sind aber auch ein Gegenentwurf zu dem sonst in der Region weit verbreiteten spanischen Kolonialstil. Sie sind ein Beispiel für Architekturen, die mehr geprägt sind von lokalen Besonderheiten als von der Bauweise weißer "Star-Architekten".
"Es ist sehr viel vielschichtiger, als so eine vorgebliche Zweiteilung zwischen Afrika und dem Westen nahelegt."
Der Bildband "Beyond The West: New Global Architecture" stellt neben Mamanis zahlreiche weitere Bauwerke vor, die sich abheben von dem, was der Westen gewohnt ist. Ganz einfach, weil in Asien, Afrika und Südamerika anders gebaut werden muss: Bevölkerungswachstum, Hitze und Überflutungen - im Globalen Süden ist das alles extremer. Einheimische Erfahrungsschätze spielen daher eine größere Rolle als in anderen Teilen der Welt gefeierte Architekturstile. Auch das Budget ist meist kleiner.
Es ist interessant zu sehen, wie die Architekten und Planer diesen Herausforderungen begegnen. Zum Beispiel durch den Einsatz vor Ort leicht verfügbarer Baustoffe. Das hat wenig mit "Buy local"-Sinnsprüchen, aber viel mit Pragmatismus zu tun.
Das Buch widmet sich auch der Arbeit des Architekten Diébédo Francis Kéré: Als ältester Sohn eines Dorfvorstehers in Burkina Faso durfte er einst nach Berlin gehen zum Studieren. Inzwischen hat er selbst einen Lehrauftrag an der TU München. Er hat am Coachella-Festival mitgebaut und an Christoph Schlingensiefs Operndorf, und er ist bekannt dafür, seine Materialien radikal an den Baugrund anzupassen. Die Ziegelsteine für seine Schulen und andere öffentlichen Gebäude in Burkina Faso lässt er aus der Erde vor Ort brennen. Das spart Geld und schützt die Häuser besser vor der Witterung.
Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier
Kéré hält allerdings wenig vom im Buchtitel anklingenden Dualismus: "Es ist sehr viel vielschichtiger, als so eine vorgebliche Zweiteilung zwischen Afrika und dem Westen nahelegt." Bauwerke bestehen für ihn aus den theoretischen und praktischen Erfahrungen jedes Einzelnen sowie des gesamten Projektteams. "Wir bringen alle immer Erfahrung und Wissen mit", sagt er. Dieser Erkenntnisreichtum kulminiere schließlich in einem Bauwerk.
Aufschlussreich sind neben den Fallbeispielen auch die Überblickkapitel, die Architekturgeschichte zum Beispiel in Südafrika oder Brasilien exemplarisch aufbereiten. Koloniale und vorkoloniale Vergangenheit, Einflüsse von Moderne und Postmoderne sowie verschiedene Systemwechsel prägen die Architekturen der jeweiligen Länder. Schnell zeigt sich, dass es so etwas wie die Stunde null kaum geben kann - auch architektonisch nicht.
Anmerkung: Diébédo Francis Kéré lehrt inzwischen an der TU München, nicht mehr an der TU Berlin. Wir haben die Stelle angepasst.