Der Eiserne Vorhang machte seinem Namen vielfach Ehre, aber alles konnte er dann doch nicht abschirmen: „Bemerkenswerter Weise war Design in der UdSSR zu jener Zeit das zweite Loch im Eisernen Vorhang, “ erklärt Dmitry Azrikan. „Das erste war Jazz.“ Und so, wie die sowjetische Jugend in ihren Cafés zur dekadenten Westmusik tanzte, war Azirkans Arbeitgeber VNIITE einer der Orte, an denen der Look für das Lebensgefühl der Sowjetunion mitgeprägt wurde. Während Alltagsprodukte schnell in den Verkauf kamen, blieben Objekte wie das allererste Sowjet-Schneemobil in feuerroter Lackierung oder das hyper-futuristische Smart-Home-System namens „Sphinx“ allerdings nur Prototypen.
Entdecken kann man die und andere Arbeiten nun in „Designed in the USSR 1950-1989“, einer umfassenden Zusammenstellung von Sowjet-Design aus der Sammlung des erst 2012 eröffneten Moscow Design Museum. Azrikan, der 1934 geborene Industriedesigner, ist einer von zwei Dutzend Industrie-, Grafik- und Produktdesignern, die am Ende des Buchs zumindest kurz erstmalig einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt werden: Als Dienstleister für den kommunistischen Staat tauchten sie dort kaum mit ihrem Namen auf, der Begriff „Design“ war aus dem Wortschatz gestrichen.
Auch sonst, meint der Londoner Kurator und Co-Autor Justin McGuirk im Buch-Vorwort, bot das sowjetische System, zentralistisch und bürokratisch bis ins Mark, nicht unbedingt den besten Nährboden für eine reiche visuelle Kultur. Aber entsteht Kreativität nicht sowieso aus Mangel? Dieses Best-of sowjetischer Gestaltungskunst aus fast vier Jahrzehnten scheint das nahezulegen: Mit minimaler Ausstattung und anfangs auch noch minimalem Know-How („wie blinde Menschen im Dunkeln“, beschreibt Grafikdesignerin Valeri Akopov) kreierten die Sowjet-Designfabriken quasi die gesamte Corporate Identity eines Mega-Staates.
Es sind vor allem diese sichtbaren Zeichen, die ab 1989 mit dem Systemwechsel aus dem öffentlichen Leben verschwanden: „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden all diese Dinge schnell weggeschmissen, niemand wollte sie mehr haben, weil sie alle gleich aussahen, “ erklärt Alexandra Sankova, die heutige Direktorin des Moscow Design Museum. Irgendwann wurden all die vielen Kleinigkeiten, die vormals massenhaft vorhanden waren, zur Rarität.
Sankova und ihre Mitstreiter wollten das visuelle Erbe der Sowjetunion nicht nur vor dem Vergessen bewahren, sondern auch erstmalig strukturiert aufarbeiten – ein Unterfangen, an dem anfangs auch die öffentliche Hand wenig Interesse zeigte. Was als privates Projekt eines jungen Teams begann, das im Bus von Ort zu Ort zog, hat sich zu einer sorgfältig archivierten und dokumentierten Sammlung entwickelt. Die trifft offenbar den Nerv einer Zeit: Zur ersten Ausstellung im Jahr 2012 strömten insgesamt ganze 160.000 Besucher.
Im Buch kann man nun eindrücklich nachschlagen, was dort vor sechs Jahren für staunende oder verzückte Gesichter sorgte: Kinderspielzeug und Gesichtspuderdosen, grotesk geformte E-Gitarren, die berühmten Volga GAZ-Autos oder Mischa, der Bär – eines der wohl bis heute wenigen unvergessenen Olympia-Maskottchen. Milch in Glasflaschen oder im, extravagant, Tetraeder-förmigen Milchkarton mit blau-roter Grafik im Stile des russischen Konstruktivismus. Überhaupt war auch das sowjetische Design eine vielfältige Angelegenheit. Aussehen und Funktion wandelten sich, manches existierte friedlich parallel: So wie auch die kyrillische Schrift in beide Richtungen funktionierte, einmal in beeindruckenden Klotz-Lettern wie auf den Polet-Zigarettenpackungen, die bis in die 1990er Jahre im Umlauf waren, einmal als romantische Schreibschrift auf den Sehnsucht verströmenden Etiketten georgischer Weine.
Dass dabei einiges gar nicht so weit entfernt von westlichen Designklassiker liegt, ist übrigens kein Zufall: Wenn den Parteibonzen etwas auf ihrer Auslandsreise gefiel, dann nahmen sie ein Exemplar mit nach Hause und lieferten es einfach in den zuständigen Produktmanufakturen ab. Ein Fall von Reverse Engineering, die umgekehrte Konstruktion und Gestaltung, dürfte beispielsweise auch der Schreibtischventilator VN10 UP4 sein, der in minimalistischem Beige-Gelb verdächtig an den HL1 von Braun erinnert – in der Sowjetunion allerdings ganze 17 Jahre später auf den Markt kam.
Sorgfältig recherchierte Details wie dieses und ein aufgeräumtes Layout unterstreichen: „Designed in the USSR“ ist nicht bloß ein weiterer Ostalgie-Aufschlag, sondern eine klug zusammengestellte Huldigung an eine gestalterische Kultur einschließlich ihrer Schöpfer, die von Einkaufsnetzen und Olympia-Bären bis zum seiner Zeit weit voraus gedachten Anruf-Sammeltaxi sehr viel mehr zu bieten hatte als die gängigen Sowjet-Klischees.
Aus der ambivalenten Situation, die jene Produkte erst ermöglichte, machen die Buchautoren indes kein Geheimnis: Gestaltet werden sollte, wie es dem Staat gefiel; bescheidener Luxus und High-Tech waren den Eliten vorbehalten. Den begrenzten Mitteln wiederum kann Alexandra Sankova heute doch einiges abgewinnen: Langlebigkeit, Multifunktionalität und Nachhaltigkeit seien typische Aushängeschilder des sowjetischen Designs gewesen. Die praktischen Recycling-Milchflaschen mit den Deckeln aus Alufolie stehen längst wieder in den Läden, und auch die Awoschka, eine ultra-praktische Einkaufstasche aus Netzstoff, erlebt ein Revival: Immerhin hätte man damit noch problemlos die extravaganten, Tetraeder-förmigen Milchkartons transportieren können, wie es im Buch heißt.
[Leicht gekürzte Version auf Spiegel Online.]
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