2 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

ERDHÖHLE STATT KLEINBÜRGERTUM

Gustav Nagel ist der Dandy unter den Wanderpredigern: Auf Gemeinschaft hatte er keine Lust. Bekannt wurde er durch selbst gestaltete, phantastische Grotten und zahlreiche Sammelpostkarten mit seinem eigenen Konterfei.


Wenn Karl-Wilhelm Diefen­bach das charis­ma­ti­sche Idol und Gusto Gräser der aufrich­tige, arbeits­same Idea­list war, dann könnte man Gustav Nagel als (wenn auch äußerst belieb­ten) Eigen­bröt­ler unter den Vege­ta­rier-Prophe­ten bezeich­nen: Er hat sich nicht als Künst­ler begrif­fen, sondern machte sein eige­nes Leben zur Bühne – die mitun­ter von Tausen­den faszi­nier­ten Schau­lus­ti­gen umringt wurde. Zwar träumte auch Nagel manch­mal davon, eine Anhän­ger­schaft um sich zu scha­ren, tatsäch­lich schien sein Inter­esse an persön­li­cher Frei­heit – und der seiner Mitmen­schen – aber doch größer zu sein als der Wunsch nach einer Gemein­schaft mit festen Regeln.

Nagel gräbt sich eine Erdhöhle

Gebo­ren wird der Wander­pre­di­ger 1874 als Carl Gustav Adolf Nagel in Werben an der Elbe. Seine Eltern sind Gast­wirte, er selbst ist das achte Kind in der Fami­lie und oft kränk­lich: Rheuma, chro­ni­sche Atem­weg­sent­zün­dun­gen und Aller­gien plagen ihn schon in jungen Jahren. Besse­rung erhofft sich Gustav Nagel wie viele seiner Zeit von der vege­ta­ri­schen Ernäh­rung und von natur­heil­kund­li­chen Anwen­dun­gen, wie sie Pfar­rer Kneipp propa­gierte. Dazu gehört für ihn ziem­lich bald auch das Barfuß­lau­fen über Steine und "feuchte Wiesen", wie er selbst einmal erklärt – Schuhe wird sich Nagel bis zum Schluss nicht wieder anzie­hen.

Als seine Mutter früh verstirbt, verliert er die Unter­stüt­zung seiner Fami­lie: Dem Vater ist der Lebens­stil seines Sohnes suspekt, immer öfter verweist er ihn des Hauses. So ist der Weg aus dem klein­bür­ger­li­chen Fach­werk­häus­chen in die Erdhöhle, die sich Gustav Nagel notge­drun­gen im Freien gräbt, keines­wegs aus ganz freien Stücken gewählt. Er wird aber zur Initi­al­zün­dung für ein Leben nach ganz eige­nen Maßstä­ben: Inspi­riert von den sagen­um­wo­be­nen Prophe­ten Karl-Wilhelm Diefen­bach und Gusto Gräser macht sich Nagel bald selbst auf den Weg, die Berech­ti­gung zum Wander­pre­di­gen stets in der Tasche. Mit seinem langen, vollen Haar, dem Bart und der impo­san­ten Größe kommt er dem opti­schen Vorbild Jesus von allen Predi­gern viel­leicht am nächs­ten. Und er weiß seine Wirkung gut zu nutzen: Post­kar­ten mit seinem eige­nen Porträt finden reißen­den Absatz – zu seinen Hoch­zei­ten soll der Wander­pre­di­ger hier­mit das Zehn­fa­che einer durch­schnitt­li­chen Klein­fa­mi­lie verdient haben. Auf den Karten insze­niert sich Nagel gern als Prophet, mit Wander­stab und einem Banner, das "ich komme zu euch in friden" verkün­det, lesend oder mit einem Apfel in der Hand – Botschaf­ten und Motive, die seiner eige­nen Über­zeu­gung vom natur­ver­bun­de­nen und gottes­fürch­ti­gen Leben entspre­chen, die gleich­zei­tig aber so unver­fäng­lich sind, das sie auch von der großen Masse goutiert werden können.

In großen Städ­ten, die Gustav Nagel auf seiner Reise zu Fuß durch­quert, kommen mitun­ter über 1000 Menschen zusam­men, um den geheim­nis­vol­len Wander­pre­di­ger zu tref­fen. Durch die Post­kar­ten kann er seine Berühmt­heit stei­gern und weitere Reisen finan­zie­ren, auch eine Pilger­fahrt nach Jeru­sa­lem wird so wieder zum Motiv für ein Sammel­bild, das gegen Geld zu haben ist. Das perma­nente Reisen, die Suche nach Unab­hän­gig­keit zieht sich wie ein roter Faden durch die ersten Wander­jahre: Gustav Nagel hält es nirgendwo lange aus, verlässt Diefen­bachs Kommune schon nach weni­gen Tagen (der Despo­tis­mus des charis­ma­ti­schen Prophe­ten ist ihm zuwi­der) und lässt es sich auf dem Monte Veritá bei Gusto Gräser gut gehen, anstatt, wie die ande­ren Bewoh­ner, zu arbei­ten.

EINE PHANTASTISCHE VERSION DER KLEINGARTENHÜTTE

1910 wird Nagel gewis­ser­ma­ßen sess­haft – und kauft ein klei­nes Grund­stück bei Arend­see, das er gemäß eige­ner, verein­fach­ter Ortho­gra­phie kurzum "gustaf-nagel-areal" tauft. Hier baut er neben einem „Brau­se­bad“ zur Gesund­er­hal­tung Pavil­lons, Tempel und Grot­ten, die wie eine phan­tas­ti­sche, spiri­tu­ell aufge­la­dene Version der Klein­gar­ten­hütte daher­kom­men: Bunte Gläser, Heili­gen­fi­gu­ren und Blumen­beete zieren die aus gefun­de­nen und güns­ti­gen Mate­ria­lien zusam­men­ge­bau­ten Werke, die gegen Eintritt besich­tigt werden können. 1920 kommen ein Schwa­nen­haus, Harmo­ni­um­häus­chen und gar ein Boots­steg mit eige­nem Tauf­be­cken hinzu. Auch mit dieser Idee hatte Gustav Nagel schließ­lich Erfolg, zahl­rei­che Besu­cher ström­ten nach Arend­see, um das ebenso skur­rile wie zauber­hafte Anwe­sen zu besich­ti­gen.

Trotz seiner rela­ti­ven finan­zi­el­len Unab­hän­gig­keit – Nagel erweist sich als kluger Verwal­ter seiner Einkünfte und hinter­legt das Geld bei Freun­den und Bekann­ten, um so im Notfall niemals mittel­los zu sein -, ist das Leben für den Wander­pre­di­ger und späte­ren Tempel­grot­ten-Besit­zer keines­wegs einfach: Immer wieder wird Gustav Nagel als nicht zurech­nungs­fä­hig bezeich­net, 1900 zum ersten Mal entmün­digt, immer wieder in die Nerven­heil­an­stalt einge­wie­sen. Nagel lässt Gegen­gut­ach­ten in Auftrag geben, die ihn durch­aus als vernünf­ti­gen, zurech­nungs­fä­hi­gen Menschen charak­te­ri­sie­ren. Tatsäch­lich schei­nen Gustav Nagels Einwei­sun­gen in die Psych­ia­trie heute viel eher Rück­schlüsse auf den dama­li­gen gesell­schaft­li­chen Status quo denn auf seinen tatsäch­li­chen Geis­tes­zu­stand zu. Wobei der Wander­pre­di­ger mit dem sanf­ten Gesicht keines­wegs frei von Fana­tis­mus war: Im unbe­ding­ten Glau­ben an die heilende Kraft der Natur­heil­ver­fah­ren lässt er seine neuge­bo­rene Toch­ter im eiskal­ten See taufen, worauf­hin sie wenige Tage später verstirbt.

Mit dem Rassen­wahn der Natio­nal­so­zia­lis­ten wiederum hat sich Gustav Nagel im Gegen­satz zu manch ande­rem Prophe­ten nie gemein gemacht: Er predigt gegen die Juden­ver­fol­gung und wird 1943 ins KZ Dachau einge­wie­sen, danach in die Nerven­heil­an­stalt verlegt. Nach Kriegs­ende lebt er an der Seite seiner drit­ten Frau Eleo­nore, die ihn bereits vor Kennen­ler­nen auf einer seiner zahl­rei­chen Post­kar­ten bewun­dert hatte, in Arend­see und lädt wieder Pilger und Schau­lus­tige ins gustaf-nagel-areal. Nur wenige Jahre später wird er dann aber­mals in die Psych­ia­trie Ucht­springe einge­wie­sen, nun von der sowje­ti­schen Admi­nis­tra­tion. Hier stirbt Gustav Nagel 1952 an Herz­ver­sa­gen.


Zum Original