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Endlich entschleunigen

Endlich entschleunigen

Waldwellness − Was ist das denn? Südtirol gibt überzeugende Antworten, hat Karin Willen recherchiert.

Grandiose Bergschönheiten unter und über der Bewaldungsgrenze, klare Seen, sattgrüne Almen, Gourmet-Berghütten und mediterrane Städte: Es ist nicht so, als hätte Martin Kiem gedacht, „Da geht doch noch was!“ Aber genau das ist herausgekommen. Der Südtiroler Psychologe und Wellbeing Coach hat das japanische Shinrin Yoku in Italiens nördlichste Provinz gebracht. Er ist jetzt der erste Waldtherapie-Führer in den Alpen.
Shinrin Yoku heißt „in der Waldluft baden“ und ist seit 1982 in Japan und Südkorea eine anerkannte medizinische Prävention und Rehabilitation. Nass wird man dabei nicht, auch wenn Kiem den Weg im Miramonti-Wald über Meran zu einem Weiher einschlägt. Vor dem Waldsee biegt er ab auf eine moosweiche Anhöhe.
Waldbaden ist eigentlich nicht mehr als mit allen fünf Sinnen bewusst im Wald zu sein und beim Atmen in den Bauch vielleicht ein wenig länger aus- als einzuatmen. „Ich verbinde nur die Theorie des Westens mit der Praxis des Ostens, denn im Westen musst du oft den Cortex überzeugen, damit das Herz sich öffnen kann“, sagt der Südtiroler, der die Achtsamkeit in buddhistischen Klöstern gelernt hat.
Also erzählt er auch von den Forschungsergebnissen der Psychoneuroimmunologie, oder dass das Ökosystem Wald über 2.000 bioaktive Stoffe, absondert, die über die Atemluft und die Haut nicht nur das menschliche Immunsystem boosten, sondern auch die Nerven beruhigen und eine tiefe Erholung auslösen können: „Die Terpene und das Geosmin des Waldbodens riechen wir, wenn wir atmen“.
Während Kiem das sagt, schickt die Sonne glänzende Lichtstrahlen durch die Bäume, und der Wind zieht sachte durch Nadeln und Blätter. Die mächtigen Fichten und Lärchen spiegeln sich mystisch im dunklen See. Ein paar Schritte weiter bahnen Ameisen emsig ihre Wege. In der Ferne hämmert ein Specht an seinem neuen Zuhause – und stört die tiefe Ruhe dennoch nicht.
Beobachten, was sich bewegt, hören, was sich entäußert, tasten, wie es sich anfühlt, sich erinnern, welche Erfahrungen wir mit dem Wald gespeichert haben, und uns mit einem Baum berührend verbinden, der uns den Sauerstoff spendet, während wir ihm den Kohlendioxid zurückgeben: Mit unseren fünf Sinnen erfahren, dass wir Teil des Systems sind, das sich Natur nennt. Das ist der Sinn von Waldbaden. Man könnt auch sagen: Kiems Waldbaden erdet einfach. Mit dem Resultat herzerfrischender innerer Ruhe.
Zum Schluss des Sinnesparcours im Wald ist das Schmecken dran: Auf einer kleinen Lichtung serviert der weitgereiste Wellbeing-Coach Tee in japanischen Schalen. Aus Tannen- und Fichtentriebspitzen und dem, was die Saison gerade hergibt, im Herbst zum Beispiel Erika.
Man braucht keinen Luis Trenker oder Reinhold Messner, um zu sehen, dass Südtirol ein bisschen mehr mit der Natur lebt als andere. Auch Kiem ist nur einer von vielen. Kaum ein ambitionierter Koch zwischen Brenner und Salurn, der nicht Wildkräuter verarbeitet, und manche tauchen wie Norbert Niederkofler in St. Kassian ganz tief in die Region ab und definieren mit Birkenfond und anderen Zubereitungen aus Wald und Tradition die alpine Küche neu − ohne auf René Redzepi zu schielen.
So verarbeitet Heinrich Schneider im Terra im Auener Hof Dining Home im Sarntal auch Rinde, Moose und Flechten und hat damit jetzt zu Niedermeier und drei anderen in Südtirols Liga der zwei Michelinsterne aufgeschlossen. Doch auch drunter kommt der Wald auf die Teller. Im Panorama Restaurant des Hotel Miramonti gibt es beispielsweise Tannenzapfen als Eis und aromagebender Servierunterlage eines Hirschburgers.
Weil Miramonti-Hotelier Klaus Alber weiß, dass der gestresste Städter den Kontakt zur Erholungsressource Wald nicht von allein findet, hat er Martin Kiem verpflichtet und geht auch selber einmal die Woche mit den Gästen in den Wald. Das Boutique Hotel ist auf 1.230 Meter solidem Fels gebaut, hinten geht es hinauf in den schützenden Wald, von den Fenstern, der Waldsauna, dem Freiluftwhirlpool, dem Sole-Infinity-Pool über dem Felshang und von der Terrasse öffnen sich der Vinschgau und das Etschal in voller Schönheit.
Auch an anderen Stellen ist die aktuelle Hoteliersgeneration dabei, Südtirols Lebensart zu verfeinern. Natürlich mit natürlichen Baustoffen. So hat der Stararchitekt Matteo Thun mit erfahrenen Zimmerern in Lana das schicke Vigilius Mountain Resort ins Funkloch des Bergwaldes gebaut. Das lichtdurchflutete Holzanwesen ist nur mit der Seilbahn zu erreichen.
Noch dichtere Walderfahrung vermittelt das Bergdorf Hotel San Luis. Das luxuriöse Hideway gruppiert Chalets und Baumhäuser auf dem 1.400 Meter hohen Haflinger Plateau aus unbehandelten und ohne Nägel verbauten Thoma-Holz um einen 6.000 Quadratmeter großen See, in dem sich die Gipfel der Texelgruppe spiegeln. Dafür mussten mitten im Wald gerade mal sieben Bäume weichen. Schiefer- und Altholzböden, Lehmputz und Leinen bestimmen ansonsten die Materialauswahl. Schon der Weg dorthin über einen unbefestigten, privaten Waldweg entschleunigt ungemein. Wenn dann noch die Bussarde pfeifen oder im Sommer die Rehkitze schreien und man im Wald die Spuren von Hase, Fuchs und Dachs entdeckt, ist das Waldtherapie à la San Luis.
„Unsere Gäste wollen keine Programme, sondern individuell in einem Haus mit Hotelservice zur Ruhe kommen“, sagt Hotelier Alexander Meister, der mit seiner Schwester auch das traditionsbewusste Hotel Irma in Meran betreibt. Küchenchef Arturo Spicocchi versorgt die Hotelgäste saisonal und regional, unter anderem mit rund hundert verschiedenen alten und teilweise in Vergessenheit geratenen Gemüse-, Obst- und Kräutersorten. Ökologisch angebaut, natürlich. Sie kommen vom Züchter Harald Gasser aus dem Eisacktal, der vorwiegend Gourmetadressen beliefert, allen voran Niederkoflers Gourmetstube St. Hubertus.
Aber auch sonst geht Waldwellness in Südtirol mit bodenständiger Regionalität einher. In Meransen geht die Hotelchefin und Kräuterpädagogin des Hotels Gitschberg, Barbara Peintner, morgens mit den Gästen Atemwandern in den angrenzenden Wald. Der Spa des Klimahotels entspannt mit sanften alpinen Kräuterblütenuhrmassagen oder Massagen mit kieselsäurehaltigem Silberquarzit, bevor es zum Nachspüren in den duftenden Heu-Ruheraum geht. Und aus der Küche geht kein Gericht ohne subtil ausgesuchtes Wildkrauttopping ins Restaurant mit beeindruckendem Dolomitenpanorama.
Weiter unten auf dem 800 Meter hohen Apfelplateau Natz Schabs führt der Fitnesstrainer des Seehofs Nature Retreat die Gäste barfuß von der Wiese durch den angrenzenden Wald und Seerand, vorbei an Apfelplantagen und Schilfrohrpfaden. Wer will, kann von der Sauna direkt in den Wald oder aber später mit einem Picknickkorb unter Bäumen rasten und dabei die wohltuenden Terpene einatmen.
Wege ohne gesunde Waldluft sind in Südtirol ohnehin eher rar. Und irgendwann führt jede Höhenstrecke durch die großartige Bergwelt zu einer urigen Hütte. Da lag es wohl nahe, so manche Wanderung über Felsen, durch Wald und Wiesen als Gourmettour zu gestalten. Mittlerweile empfiehlt der aktuelle Gault Millau sieben rustikale Hütten um Bozen, Brixen und Meran, die den frischen Speck und den aromatischen Bergkäse und etliche Knödelvariationen − in der Jora Hütte im Hochpustertal auch Vegetarisches und Bockshörndlravioli − auf den blankgescheuerten Holztisch bringen. Die Zutaten haben garantiert keinen weiten Weg hinter sich.
Man braucht kein organisiertes Waldbaden, um von den bioaktiven Stoffen des Waldes zu profitieren, gibt auch Waldtherapie-Führer Kiem seinen Gästen mit auf den Weg: Und dazu zwei Tipps: „Von April bis August, morgens und nach einem Regen ist die Waldluft am terpenreichsten. Und: Zwei bis dreimal für vier Stunden in den Wald, und das Immunsystem ist bestens in der Lage, einen Monat lang reichlich schützende Killerzellen zu produzieren“.
FOTO: Weitblick - Kleiner Sole-Infinitypool des Miramonti Boutiquehotels am Berghang und Waldpfad direkt hinter dem Hotel Foto: Michael Siegel

ADRESSBÜCHLEIN
Waldbaden www.frontierwellbeing.eu
Waldretreat www.sanluis-hotel.com/de
Waldwellness www.gitschberg.it
Gourmetrestaurant Terra www.terra.place/de, St. Hubertus www.rosalpina.it/de/michelin-restaurant-italien.htm
Gourmethütte www.jora.it