Der Name Knigge steht heute synonym für Benimmregelen (zu Unrecht, hatte Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge (1752 - 1796) ursprünglich ein soziologisch ausgerichtetes Werk im Sinne der Aufklärung vor Augen). Fast 220 Jahre nach Erscheinen von Knigges „Über den Umgang mit Menschen" räumt der Autor Kai Oppel (Foto) auf mit typischen Knigge-Mythen. In seinem Buch „Die Knigge-Kur" (Beck-Verlag) erklärt Oppel, warum Benimmregeln etwa durch die Digitalisierung, Beschleunigung oder Mobilisierung zu gefährlichen Karrierekatalysatoren werden. pubiz.de bringt einen Auszug aus dem Buch.
Obwohl das Thema Benimm seit Jahren boome, seien viele Menschen so weit von Knigge entfernt wie nie zuvor. „Knigge ist in den vergangenen Jahrzehnten zurechtgestutzt worden zu einem Werkzeug im persönlichen Selbstoptimierungsbaukasten", so Oppel. „Wenn Adolph Freiherr Knigge einen Blick auf die heutige Gesellschaft und Arbeitswelt werfen könnte, wäre für ihn auf den ersten Blick wahrscheinlich vieles in Ordnung. Auf den zweiten Blick jedoch wäre er schockiert. Hinter der Fassade der manierlichen Arbeitswelt bröckelt es gewaltig", schreibt Oppel. Knigge sei zu einem „Motor der Unmündigkeit" geworden. „Wer Knigge auf Benimmregeln kürzt, wird zum modernen Businesskasper, der marionettengleich an unsichtbaren Fäden hängt - ferngesteuert von Modediktaten, Terminen, Smartphones, Daten und vor allem den Erwartungen der anderen."
Verantwortlich für die Misere sind laut Oppel mehrere Strömungen, darunter die allgemeine Beschleunigung und Mobilität sowie die Ökonomisierung, die längst das Denken und Handeln über den Arbeitsplatz hinaus bestimme.
Die Handy-Knigge-Kur - Steuern Sie die ErreichbarkeitDer Segen des Handys ist zugleich sein Fluch. Es kann überall hin mitgenommen werden: Toilette, Konferenzen, Straßenbahn, Mittagessen, Meetings, Bett. Wenn Geschäftsleute in Besprechungen angerufen werden, sind sie häufig gleich doppelt unfreundlich. Während es in stark beziehungsorientierten Ländern wie Indien durchaus üblich ist, dass ein Meeting für ein Telefonat unterbrochen wird, empfinden deutsche Geschäftspartner ein solches Verhalten als unhöflich. Es wirkt, als ob das Meeting keine Priorität hat und wegen jeder Beliebigkeit unterbrochen werden könne. „In der Forschung konnte gezeigt werden, dass Menschen im Umfeld die Kommunikation als weniger exklusiv und weniger tiefgründig empfinden, wenn sie durch Handys gestört wird", sagt Kommunikationsforscher Vorderer. Oftmals werden viele Menschen eifersüchtig gegenüber Handys.
Doch nicht nur die Anwesenden werden vor den Kopf gestoßen. Der Anrufer bekommt in neun von zehn Fällen vorwurfsvoll zu hören:
„Ich bin gerade in einem Meeting und habe keine Zeit." Dabei ist er der Letzte, der weiß, wo er den anderen gerade erreicht.
Die Lösung: Wichtige Anrufe vor dem Meeting ankündigen. Falls Sie während eines Meetings einen Anruf erwarten, sollten Sie es Ihren Gesprächspartnern zu Beginn mitteilen und das Handy auf Vibrationsalarm stellen. Falls der Anruf kommt, entschuldigen Sie sich und treten kurz vor die Tür. So bleibt den Meetingteilnehmern eine kurze Pause. Und Sie können fünf Minuten ungestört und freundlich telefonieren.
Wer keine Anrufe erwartet, sollte das Handy ausschalten oder besser noch, der sollte das ausgeschaltete Handy in seiner Aktentasche lassen.
Handyfreie Zonen einführen „An Örtern, wo man sich zur Freude versammelt, beim Tanze, in Schauspielen, rede mit niemand von häuslichen Geschäften, noch weniger von verdrießlichen Dingen. Man geht dahin, um sich zu erholen, um auszuruhen, um kleine und große Sorgen abzuschütteln, und es ist also unbescheiden, jemand mit Gewalt wieder mitten in sein täglich Joch hineinschieben zu wollen." (Knigge)Leider werden durch das Handy immer öfter Themen in ein Umfeld transportiert, in dem sie nichts zu suchen haben. Andere Gäste suchen in einem Restaurant Erholung und möchten nicht von einem Telefonat an die Arbeit erinnert werden. Zudem lassen sich Geschäftsthemen, die Aufmerksamkeit erfordern, selten an einem geselligen Ort besprechen. Die Umgebung verringert die Aufmerksamkeit, die eigentlich für den Anruf nötig wäre. Und da Sie keine Notizen machen können, muss das Telefonat ohnehin noch einmal nachgeholt werden. Schalten Sie daher das Handy aus, wenn Sie oder andere Zerstreuung suchen.
Die einzige Möglichkeit, das Problem zu minimieren, ist die Erreichbarkeit einzudämmen. Für den Handybesitzer bedeutet dies:
- Überlegen Sie zunächst, wie Sie jeden Tag beginnen wollen. Immer mehr Menschen lassen sich bereits vom Handy wecken. Das Erste, was sie morgens in die Hand nehmen, ist dasselbe, was sie am Abend als Letztes aus der Hand gelegt haben. Kein gutes Omen. Besser: Legen Sie sich einen Wecker zu.
- Kein Smartphone an vorher definierten Orten: Ob im Wohnzimmer zu Hause, im Meetingraum im Büro oder im Auto: Jeder sollte selbst Orte benennen, an denen das Smartphone ausgeschaltet wird. Unter dem Stichwort „Boundary Management" wird immer öfter versucht, wieder Grenzen einzuziehen, die etwa durch mobile Geräte aufgeweicht worden sind.
- Definieren Sie Uhrzeiten, zu denen Sie erreicht werden können. Sie werden sehen: Viele Menschen rufen Sie einfach zu jeder Tages-und Nachtzeit an, weil Sie es zulassen. Wer jedoch eindeutig kommuniziert, dass er dies nicht möchte, wird mehrheitlich nicht mehr gestört werden. Es liegt an uns, dies anderen Menschen mitzuteilen.
Den Rahmen der Erreichbarkeit abstecken
Für ein Handytelefonat braucht es mindestens zwei Personen. Auch Anrufer können dazu beitragen, die Erreichbarkeit zu minimieren. Für sie bedeutet dies:
- Überlegen Sie, zu welcher Uhrzeit geschäftliche Telefongespräche stattfinden sollen und können. Respektieren Sie die Freizeit von Kollegen.
- Lässt sich das Telefonat vermeiden? Überprüfen Sie, ob überhaupt ein Telefonat notwendig ist.
- Wenn ein Telefonat notwendig ist: Überlegen Sie genau, was sie sagen.
Damit das Handygespräch nicht schon vor Beginn Stress verursacht, sollten Sie einen harmlosen Klingelton wählen. Die neuesten Charts gehören ins Privatradio und nicht auf Ihr Handy. Wählen Sie stattdessen einen klassischen Klingelton und entscheiden Sie sich zudem für eine Lautstärke, die Ihrem Umfeld nicht zur Qual wird.
Sind Sie handysüchtig?
Wie bereits erwähnt, stand bei Knigge ursprünglich die Mündigkeit im Mittelpunkt. Aktuellen Zahlen zufolge sind mittlerweile rund ein Prozent aller Deutschen internetsüchtig. Wie sieht es bei Ihnen aus? Folgende Verhaltensweisen sind bedenkliche Hinweise auf eine Abhängigkeit beziehungsweise einen Kontrollverlust.
- Hat sich die Handynutzung bei Ihnen in den vergangenen Jahren schrittweise erhöht? Werden Sie von anderen Menschen darauf angesprochen, dass Sie einmal Ihr Handy weglegen sollten?
- Virtuell statt real: Kommunizieren Sie häufig über soziale Netzwerke, aber im echten Leben fällt es Ihnen schwer?
- Wie lange brauchen Sie, um festzustellen, dass Sie kein Handy dabeihaben? Merken Sie bereits nach drei Minuten, dass Ihr Handy fehlt? Halten Sie aus, einen Tag auf Ihr Handy zu verzichten?
- Zeigen Sie auch körperlich Entzugssymptome? Werden Sie unruhig oder merken Sie, wie Ihr Herzschlag steigt, wenn Ihr Handy nicht da ist und Sie es suchen?
- Wie oft nehmen Sie am Tag Ihr Handy in die Hand? Schauen Sie mehr als 50 Mal auf Ihr Mobiltelefon?
- Haben Sie stärkere Akkus oder mobile Stromspender dabei, falls Ihr Handy schlappmacht?
Wenn Sie mehr als zweimal mit Ja geantwortet haben, gehören Sie praktisch zu jener Sorte Menschen, die ohne Smartphone nicht mehr kann. Versuchen Sie wie oben beschrieben, Ihre eigene Nutzung stärker zu reglementieren. Um soziale Kompetenzen wieder zu stärken, kann eine verhaltenstherapeutische Gruppentherapie hilfreich sein.
Eine andere Möglichkeit ist eine Ersatzdroge: Eignen Sie sich Verhaltensweisen an, die den Blick auf das Smartphone ablösen, aber einen ähnlich belohnenden Charakter wie das Internetverhalten haben. Wenn Sie den Reflex verspüren, Zeit mit dem Handy zu verbringen - geben Sie dem Reflex nicht nach. Zwingen Sie sich stattdessen, einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Wenn Sie öfter wegen der Uhrzeit auf das Handy schauen und bei der Gelegenheit mit Telefonieren oder Mails-Checken beginnen - kaufen Sie sich eine Uhr. Zudem kann es helfen, die Klingeltöne und Vibrationen des Handys auszuschalten oder das Handy so umzudrehen, dass Sie nicht sehen, wenn es blinkt oder sich anschaltet. Auf diese Weise werden Sie nicht immer in Alarmbereitschaft versetzt.
Ein weiterer Trick ist, sich bei den Apps zu beschränken. Überlegen Sie, welche Apps Sie besonders häufig nutzen. Und deinstallieren Sie gegebenenfalls Apps für soziale Netzwerke wie Xing oder Twitter. Wer sich auf wenige Dienste beschränkt, also etwa nur in drei statt fünf ausgewählten sozialen Netzwerken aktiv ist, muss automatisch weniger Statusmeldungen lesen.
Tipps für einen knigge-konformen Umgang mit dem Handy- Schalten Sie das Handy bei wichtigen Gesprächen aus.
- Sagen Sie Anrufern nie, wobei sie Sie gerade stören.
- Konfrontieren Sie Anrufer, die Sie am Wochenende oder nach 21 Uhr auf dem Handy anrufen, nicht mit deren mangelndem Anstand. Sie müssen selbst entscheiden, ob Sie für Telefonate zu dieser Zeit erreichbar sein wollen.
- Falls Sie selbst telefonieren, sollten Sie andere nie nach 22 Uhr oder vor 9 Uhr anrufen.
- Beachten Sie bei Kontakten mit ausländischen Geschäftspartnern stets die Zeitdifferenz.
- Handys gehören weder in Gürteltaschen noch auf den Konferenztisch. Zur Aufbewahrung eignet sich die die Handoder Aktentasche. Abgesehen davon, dass ein Handy die Hose ausbeult oder in der Sakkotasche den Anzug schlecht sitzen lässt, ist das permanente Tragen am Körper sicher nicht gesund.
- Falls Sie viel im Ausland unterwegs sind, sollten Sie die Voicebox erst in Deutsch besprechen und dann in einer angebrachten anderen Sprache. Bei der Ansage sollte ein kurzer Gruß („Guten Tag") nicht fehlen. Nennen Sie anschließend Ihren Namen.
- Lesen Sie während eines Meetings keine E-Mails auf Ihrem Handy. Das ist unhöflich. Missverstanden werden kann auch, falls Sie das Handy nutzen, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen. Meetingmitglieder könnten denken, Sie seien genervt oder in Zeitnot.
- Wählen Sie einen seriösen Klingelton in einer normalen Lautstärke.
- Gewöhnen Sie sich gar nicht erst an, bei bestimmten Rufnummern nicht ans Handy zu gehen. Der Anrufer könnte Sie später mit unterdrückter Nummer anrufen - dann sitzen Sie in der Falle, falls Sie abnehmen.
- Sollten Sie keine Zeit für ein Telefonat haben, bieten Sie einen Rückruf an. Werfen Sie jedoch keinen Anrufer aus der Leitung. Das ist unhöflich.
- Lassen Sie nie Unbeteiligte am Telefonat teilhaben. Dadurch verbieten sich Telefonate in kleinen Räumen. Sprechen Sie in Zügen mit leiser Stimme.
- Diskutieren Sie in der Öffentlichkeit niemals Privates.
- Laufen Sie während eines Telefonats gerne hin und her. Hetzen Sie aber während des Telefonierens nicht von einem Ort an den anderen. Ihr Gesprächspartner hört Ihren Atem, zudem können Sie sich nicht auf das Gespräch konzentrieren.
- Rauchen, essen oder trinken Sie nicht während des Handygesprächs.
- Gehen Sie nicht an Ihr Handy, wenn Sie gerade ein Gespräch auf dem Festnetz führen. Lassen Sie es klingeln und rufen Sie in aller Ruhe zurück.
Kai Oppel: „Knigge-Kur"
254 Seiten, C.H. Beck, ISBN: 978-3406681141, 19,80 Euro
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