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Augenzeuge aus Beirut: "Da war kein Entkommen, die Zerstörung war...

Explosion

Von Inga Hofmann, Julius Geiler & Fatima Abbas

Fr, 07. August 2020 um 10:23 Uhr

Ausland

Um sie herum Verletzte und Tote, ihre Wohnungen und Büros zerstört. Sechs Bewohner Beiruts erzählen von den Folgen der Explosion, von großer Hilfsbereitschaft und von Behördenversagen.

Schwere Explosionen haben Teile der libanesischen Hauptstadt Beirut dem Erdboden gleichgemacht - zurück blieben geschockte Menschen. Sie berichten aber auch von großer Hilfsbereitschaft in der Stadt, viele sind wütend über das offensichtliche Versagen der Behörden, welches das Inferno möglich machte. Mit sechs von ihnen haben wir per Videochat gesprochen.

Vor einigen Tagen habe ich mir ein Airbnb-Apartment in dem Szeneviertel Mar Mikhael gemietet, da ich mich mit Covid-19 infiziert habe und meine Familie, mit der ich zusammenlebe, nicht anstecken wollte. Ich lag am Dienstagabend im Bett, als ich plötzlich merkwürdige Geräusche wahrnahm. Wie ein Flugzeug, das immer näher und näher kommt. Irgendwann war dieses Geräusch nicht mehr auszuhalten, das vermeintliche Flugzeug musste sich direkt vor meinem Haus befinden. Als ich meinen Balkon betrat, um nachzuvollziehen, was es mit diesem ohrenbetäubenden Krach auf sich hatte, höre ich den ersten Knall. Ich erschrak so sehr, dass ich wieder zurück in die Wohnung lief.

"Wir rannten alle barfuß und halb nackt hinunter auf die Straße. Viele bluteten. Die Szene war einfach nur surreal."

Im selben Moment explodiert plötzlich das ganze Apartment und alle fünf Wohnungen auf meiner Etage. Da waren keine Wände mehr, die die Wohnungen voneinander trennten. Alles brach zusammen. Wir rannten alle barfuß und halb nackt hinunter auf die Straße. Viele bluteten. Die Szene war einfach nur surreal. Ich stürmte noch einmal zurück in die Wohnung, um meinen Laptop, mein Handy und mein Portemonnaie zu suchen und lief dann zum Haus meiner Familie. Hunderte Opfer lagen auf den Straßen, die Menschen waren blutüberströmt, teilweise bereits tot.

Gemeinsam mit Freunden, die auch mit Corona infiziert sind, verließ ich Beirut noch in der Nacht. Wir sind in die Berge gefahren. Ich habe ständige Flashbacks und längst nicht alles verarbeitet. Ich bin ehrlich gesagt auch noch nicht bereit dazu, zurück nach Beirut zu fahren und meine Heimatstadt so zerstört zu sehen.

Simona Baloghová (28), Studentin aus der Slowakei

Während der Explosion hielt ich mich in meiner Wohnung in Ashrafieh auf, etwa drei Kilometer entfernt vom Unglücksort. Die Explosion war massiv. Ich saß gerade im Wohnzimmer, als es passierte. Sofort dachte ich, das Gebäude würde zusammenstürzen, also rannte ich auf die Straße. Überall gesplittertes Glas, die meisten Häuser in meinem Umkreis waren komplett zerstört.

"Ich blieb zuhause und schlief ohne Fenster."

In Whatsapp-Gruppen wurden unheimlich viele Gerüchte verbreitet, ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich blieb zuhause und schlief ohne Fenster. Wir haben immer noch keine Elektrizität. Aber die Libanesen und Libanesinnen zeigen wie so oft Solidarität und stellen zum Beispiel ihre eigenen Wohnungen und Häuser zur Verfügung, um obdachlos gewordenen Menschen einen Schlafplatz zu bieten."

Alain Dargham (35), Fernsehreporter

Ich war mit meinem Kameramann auf dem Weg zur Unglücksstelle am Meer. Wir hatten die Nachricht bekommen, dass in der Hafenanlage ein großes Feuer ausgebrochen war und wollten so schnell wie möglich vor Ort sein, um für MTV Lebanon (libanesischer Nachrichtensender, Anm. der Red.) live zu schalten. Wir befanden uns auf dem Highway direkt neben dem Mittelmeer, als es zu der riesigen Explosion kam. Ich dachte zunächst an ein Erdbeben, dann an die Israelis. Der letzte Krieg mit unserem südlichen Nachbarn liegt nicht lange zurück, die Bilder und Szenen vom Israelkrieg 2006 sind in den Köpfen vieler Libanesen noch tief verankert.

"Kurz nach der Explosion habe ich dann einfach nur noch funktioniert. Bis tief in die Nacht habe ich von dem Vorplatz eines völlig überfüllten Krankenhauses berichtet."

Der Knall der Explosion war das lauteste Geräusch, das ich jemals gehört habe. Überall lagen Schutt und zerbrochenes Glas, die ganze Stadt war in Staub und Rauch gehüllt. Im Nachhinein danke ich Gott dafür, dass wir nicht ein paar Minuten früher vom Newsroom des Senders losgefahren sind. Sonst wären wir zu dem Zeitpunkt der gewaltigen Detonation direkt am Hafen gewesen und ich könnte diese Zeilen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr schreiben.

Kurz nach der Explosion habe ich dann einfach nur noch funktioniert. Bis tief in die Nacht habe ich von dem Vorplatz eines völlig überfüllten Krankenhauses berichtet. Irgendwann wurden die eingelieferten Patienten nur noch auf dem Parkplatz behandelt, weil auf den Stationen kein Platz mehr war. Es war wie im Krieg.

Joachim Paul (58), Chef des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung

Glücklicherweise haben wir alle das Büro bis 17.30 Uhr verlassen, also kurz vor der Explosion. Ich selber war zu dem Zeitpunkt in einem Einkaufscenter im Stadtteil Ashrafieh. Dort wurden die Inneneinrichtung und die Scheiben zerstört, und Leute neben mir hatten leichte Verletzungen durch herumfliegende Glassplitter. Zunächst dachte ich an eine explodierte Bombe im Einkaufszentrum. Da ich von einem Anschlag ausgegangen bin, habe ich - aus Angst vor einer weiteren Attacke - versucht, der Gefahrenzone zu entkommen, aber da war kein Entkommen. Die Zerstörung war überall. Ich bin schließlich nach Hause zu meiner Wohnung gelaufen, auch diese wurde komplett zerstört. (...)

"Hinter der Explosion steht vermutlich wie so oft Verwaltungs- und Behördenversagen."

Heute früh begutachtete ich mit einer Kollegin unser Büro, welches ebenfalls stark verwüstet ist. Aber das sind nur physische Schäden. Die Menschen stehen alle unter Schock. (...) Hinter der Explosion steht vermutlich wie so oft Verwaltungs- und Behördenversagen. Solch eine Menge an hoch explosivem Material mitten in Beirut aufzubewahren, ist ein unfassbares Vergehen und ein weiterer Schlag ins Gesicht für die tausenden Libanesen und Libanesinnen, die seit Oktober 2019 gegen die Unfähigkeit ihrer eigenen Machtelite demonstrieren.

Frieda Siering (23), Studentin aus Berlin

Ich saß mit meinen Freunden in einem Café, als einer meiner Kommilitonen auf seinem Laptop die Meldungen über das Feuer im Hafen sah. Wir versammelten uns um seinen Computer, um die Nachrichten zu verfolgen. Auf einmal hörten wir einen Ton, den ich bis jetzt nicht aus meinem Ohr bekomme. Ein verstörendes Geräusch, wie ein Flugzeug, was viel zu niedrig fliegt. Dann kam die Druckwelle. Pures Chaos. Neben mir schmissen sich meine Freunde auf den Boden, überall waren Scherben, Staub lag in der Luft. Ein Mann neben mir hatte eine stark blutende Wunde am Bein. Beim genaueren Hinsehen sah ich, dass sein Bein offen war. Ich trug ein weißes Kleid und hatte nicht mal einen Blutspritzer abbekommen. Neben mir krochen die Menschen aus den Trümmern.

"Ich kann es immer noch nicht in Worte fassen, was mit Beirut an diesem Dienstagabend passiert ist. Die Stadt ist zerstört."

Mein erster Gedanke war, dass das Café bombardiert wurde. Ich konnte es mir nicht anders erklären. Ich war mir sicher, gerade einen Anschlag überlebt zu haben. Als erstes habe ich dann versucht, meine Freunde und Familie zu erreichen. Meine Freunde waren unglaublich besonnen, viele sind sehr strategisch vorgegangen. Sicherlich trug dazu auch der letzte Krieg mit Israel bei.

Ich kann es immer noch nicht in Worte fassen, was mit Beirut an diesem Dienstagabend passiert ist. Die Stadt ist zerstört. Wenn man sich überlegt, dass an vielen Hausfassaden Beiruts immer noch Einschusslöcher vom libanesischen Bürgerkrieg wiederzufinden sind, frage ich mich, wie lange es dauern soll, diese wundervolle Stadt wiederaufzubauen.

David Oryan (28), Regisseur und Autor

Ich war im Auto auf dem Weg zu meinen Großeltern, die in den Bergen hinter Beirut wohnen. Ich sah das Feuer am Hafen, aber dachte mir nicht viel dabei. Natürlich war es ein großes Feuer, aber der Libanon ist Schlimmeres gewöhnt. Die Station des Radios, das ich immer höre, sitzt im Stadtteil Ashrafieh, nicht weit vom Hafen entfernt. Plötzlich hörte ich aus dem Radio einen unglaublich lauten Knall. Die Radiomoderatorin wurde mitten im Satz unterbrochen. Für einige Sekunden war es still. Dann blickte ich in den Himmel und sah den Pilz der Detonation. Wenig später spürte ich die Druckwelle. Ich dachte sofort an eine nukleare Eruption. Mein Leben zog an mir vorbei und ich dachte nur noch an meine Familie, an meine Mutter, meine Großmutter. Ich wollte sie nochmal sehen, bevor ich sterbe.

"Ich habe aufgehört, mir die Sozialen Netzwerke anzugucken. Ich konnte nicht aufhören zu weinen."

Als mir klar wurde, dass ich unverletzt bin, fuhr ich so schnell wie möglich in die Berge, um meiner Familie Bescheid zu geben, dass ich lebe. Abends bin ich zurück nach Beirut gefahren. Seitdem habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Ich kann nicht raus. Ich kann nicht klar denken. Freunde von mir haben ihre Angehörigen verloren, ein Bekannter von mir ist schwer verletzt. Ich sitze den ganzen Tag nur zuhause. Ich habe aufgehört, mir die Sozialen Netzwerke anzugucken. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. In diesem Land zu leben, schmerzt nur noch. Wir sind auf einem Friedhof geboren, welcher sich Libanon nennt. Aber ich möchte hier nicht sterben, ich will nur noch weg.

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