Libanon (Freier Autor) Nastassia Frey, 23 Jahre, und Caroline Binkowski, 21 Jahre, studieren beide Politik, Verwaltung und Organisation im fünften Semester an der Universität Potsdam. Am Donnerstag, dem 17. Oktober, landen sie gegen 15 Uhr auf dem Rafiq Hariri Flughafen in Beirut. Sie freuen sich auf den verlängerten Sommer, Wiedersehen mit libanesischen Freunden, gutes arabisches Essen und das berüchtigte Beiruter Nachtleben. Stattdessen beginnt knapp drei Stunden nach ihrer Ankunft die libanesische Revolution.
Caro: Wir sind tatsächlich in den letzten ruhigen Stunden in Beirut angekommen. Von dem was kommt, konnten wir nichts ahnen. Wir waren uns natürlich vorher im Klaren darüber, dass der Libanon keine typische Urlaubsdestination ist, die letzten Jahre war es jedoch sehr friedlich. Wir haben einige libanesische Freunde, außerdem interessieren wir uns beide schon lange für den Nahen Osten.
Nastassia: Am Donnerstagabend haben wir uns gegen 18 Uhr Sim-Karten für unsere Smartphones in einem Handyladen im Zentrum Beiruts gekauft, damit wir auch unterwegs immer erreichbar sind. Währenddessen zog draußen vor dem Laden eine kleine Demonstration von maximal 50 Personen vorbei. Sie riefen arabische Parolen. Wir sprechen leider beide nicht die Sprache und haben uns nichts weiter dabei gedacht.
An jenem Donnerstag verkündete die libanesische Regierung um Premierminister Saad Hariri, eine Steuer auf den Messengerdienst WhatsApp von sechs US-Dollar pro Monat. Das brachte für viele Libanesen das Fass zum Überlaufen. Das kleine Land am östlichen Mittelmeer kämpft seit Jahren mit einer Wirtschaftskrise. Die Staatsverschuldung beträgt 86 Milliarden US-Dollar. Mit einer Schuldenquote von 150 Prozent hat der Libanon eine der höchsten Schuldenquoten weltweit, nicht weit entfernt von der Staatsverschuldung Venezuelas. Die politische Elite wird seit Jahren von Korruption und Vetternwirtschaft dominiert. Auch deshalb entlädt sich am Donnerstagabend erstmals die Wut des libanesischen Volkes auf der Straße. Beginnend mit einem kleinen Protestzug gegen 18 Uhr in "Downton"-Beirut, dem Herzen der Hauptstadt.Caro: Am Abend sind wir dann mit einem libanesischen Freund in die Berge zu einer Geburtstagsfeier gefahren. Mit dem Auto haben wir ungefähr 40 Minuten gebraucht. Gegen 23 Uhr erreichten uns erste Meldungen, dass sich die Nachricht von Protesten in Beirut durch die sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer verbreitet habe. Plötzlich gingen landesweit Menschen auf die Straße, um den Rücktritt der Regierung zu fordern, und das mitten in der Nacht.
Nastassia: Relativ schnell entschieden wir uns zurück nach Beirut zu fahren, weil wir dort unsere Unterkunft hatten. Nach nur zehn Minuten Fahrt trafen wir auf die erste, durch brennende Reifen, blockierte Straße. Wir drehten um und probierten auf einer anderen Route zurück in die Hauptstadt zu fahren. Doch auch diese war blockiert. Nach mehr als fünf Blockaden auf unterschiedlichsten Straßen Richtung Beirut, freundeten wir uns schon langsam mit dem Gedanken an, unsere erste Nacht im Libanon im Auto zu verbringen.
Caro: Trotz der dramatischen Szenerie von brennenden Autoreifen auf den Highways hatten wir zu keinem Zeitpunkt richtig Angst. Schließlich hatten wir unseren libanesischen Freund dabei. Der hatte so etwas zwar auch noch nie erlebt, beruhigte uns aber, dass wir es schon irgendwie nach Beirut schaffen sollten. So war es dann auch. Nach drei Stunden Fahrt, erreichten wir unser Apartment und gingen mit der Hoffnung ins Bett, dass sich bis morgen alles beruhigt haben sollte.
Noch in dieser Nacht gehen Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße. Sie rufen "Thawra", arabisch für "Revolution". Gegen drei Uhr nachts kommt es zu schweren Zusammenstößen zwischen Soldaten und Demonstranten im Zentrum Beiruts, die versuchen das Regierungsviertel zu stürmen. Die Streitkräfte setzen Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die Protestierenden ein.Nastassia: Der Freitag ging dann so weiter, wie die Nacht davor geendet hatte. Die nächtlichen Proteste gingen in den Tag über. Alle Straßen von und nach Beirut waren blockiert. Sogar die Autobahn zum Flughafen, dem einzigen des Landes. Durch die geographische Position des Libanons gäbe es im Notfall auch keinen anderen Ausweg aus dem Land. Die südliche Grenze zu Israel ist geschlossen, an den Norden und Osten grenzt nur Syrien. Im Laufe des Freitags verschärfte auch das Auswärtige Amt seine Reisewarnungen. Da haben wir schon ein mulmiges Gefühl bekommen.
Caro: Wir wollten uns gleichzeitig unseren Urlaub nicht verderben lassen und nicht nur im Apartment vor dem Fernseher hocken. Deswegen sind wir abends in einen anderen Stadtteil gefahren, um dort zu essen und zu trinken. Keine gute Idee, wie sich herausstellte. Auf dem Rückweg mussten wir durch Downtown, den Mittelpunkt der Proteste. Die Straßen waren leer, weil das Militär gerade eingeschritten war, in der Luft lag noch das Tränengas. Wir hatten uns in weiser Voraussicht Schutzmasken in einer Apotheke gekauft. Nichtsdestotrotz brannte es in Augen und Hals. Im Dunklen waren überall Armeeeinheiten, die vor- und wieder zurückrückten. Im Großen und Ganzen eine sehr beängstigende Situation.
Als Reaktion auf die anhaltenden Proteste setzt Premierminister Hariri sich und seiner Regierung an diesem Freitagabend ein 72-stündiges Ultimatum, um Reformen zu beschließen. In der Nacht von Freitag zu Sonnabend eskalieren die Demonstrationen erneut. Im nördlichen Tripoli sterben zwei Menschen durch Schussverletzungen, aus dem ganzen Land werden Hunderte von Verletzten gemeldet.Nastassia: Das Wochenende war dann das komplette Gegenteil von dem, was wir bisher gesehen hatten. Am Sonntag kamen in Beirut bis eine Million Menschen zur abendlichen Demonstration zusammen. Und das bei einer Einwohnerzahl des gesamten Libanon von knapp vier Millionen Menschen. Alles war friedlich, viele Familien picknickten mitten auf der Straße, inklusive Shishas, so wie sich das im Nahen Osten gehört. Überall wurde getanzt, zu Technomusik oder arabischen Beats. Auch wir wurden von einer libanesischen Familie zum traditionellen "Dabke"-Tanz aufgefordert.
Caro: Mich hat vor allem das friedliche Miteinander aller Regionen beeindruckt. Der Libanon ist ein multireligiöser Staat, der einen blutigen Bürgerkrieg durchlebt hat. Bei den Protesten demonstrierten alle gemeinsam: Schiiten, Sunniten, Drusen und Christen.
Im Laufe des Montags läuft das 72-Stunden Ultimatum Hariris aus. Er verkündet weitreichende Reformen, wie etwa die Privatisierung des Energiesektors, die 50-prozentige Kürzung von Bezügen von Regierungsbeamten oder eine höhere Steuer auf Banken. Der Mehrheit der Libanesen geht das nicht weit genug. Für viele ist das Vertrauen in die Politik längst verspielt. Am Montagabend strömen wieder Hunderttausende auf die Straßen des Landes.Nastassia: Die restlichen Tage haben wir dann so wie die vergangenen in Beirut verbracht. Es gab einfach kein Rauskommen aus der Stadt. Eine Fahrt ins nur 40-minütige Byblos hätte uns aufgrund der Blockaden mindestens fünf Stunden gekostet.
Caro: Am Mittwoch wären wir dann nach Berlin zurückgeflogen. Wir haben es pünktlich zum Flughafen geschafft, die Hälfte der Passagiere des Fliegers nach Istanbul steckte aber auf dem gesperrten Flughafenzubringer fest. Deshalb sind wir erst zwei Stunden später losgeflogen und haben unseren Anschlussflug von Istanbul nach Berlin verpasst.
Die Massenproteste im Libanon gehen weiter. Das Land steht still. Unis, Schulen, Banken und die meisten Geschäfte bleiben geschlossen. Niemand weiß wirklich, in welche Richtung sich die Situation entwickelt. Das liegt auch daran, dass die libanesischen Streitkräfte teilweise mit den Demonstranten sympathisieren. Auch die Rolle der in Europa als Terrormiliz eingestuften Hisbollah ist noch nicht geklärt. Sie ist im Libanon Teil des festen, politischen Establishments, äußerte gleichzeitig jedoch Verständnis für die regierungskritischen Proteste.