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Weg, bevor der Winter kommt

Sie fliehen vor einer Zukunft ohne Perspektive und vor den syrischen Flüchtlingen: junge Libanesen verlassen zu Tausenden ihr Land

An fast jeder Straßenecke stehen Soldaten, den Finger am Abzug des Sturmgewehrs, während sie ins Innere der vorbeifahrenden Autos spähen. Aaref sitzt in einem Taxi auf dem Beifahrersitz, nippt Kaffee aus einem Plastikbecher und zieht dann kräftig an seiner Zigarette. Am weiß-roten Kontrollhäuschen der Armee lehnt er sich nach vorne, sodass ihn der Soldat gut sieht, und grüßt: „Möge Gott dich stärken, Ahmad!" Soldat Ahmad zwinkert Aaref zu und fragt: „Kifak?" - „Wie geht's?" Nachdem sie die üblichen Floskeln ausgetauscht haben, geht die Fahrt weiter.

Der Fahrer biegt in die nächste Häuserschlucht des Viertels Bab al-Tabbaneh in der libanesischen Hafenstadt Tripoli ein - aufgerissene Fassaden links und rechts, die das Innere der Gebäude nach Außen kehren: zerstörte Bade-, Schlaf- und Wohnzimmer, nackt und schutzlos. Je tiefer das Taxi in die enge Straße eindringt, umso mehr scheint es, als könnten die Häusergerippe jeden Moment über einem zusammenbrechen. „Ich will hier weg. Es gibt im Libanon keine Chancen für mich", sagt Aaref. „Ich habe Angst, dass ich in Tripoli zugrunde gehe." In ein paar Tagen wird der 25-Jährige deshalb seine Heimat verlassen. Mit Freunden will er im Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland fahren und dann zu Fuß weiter. Sein Ziel ist Deutschland.


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