Julian Weber

Freier Journalist, Heidelberg

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Kunst aus der Psychiatrie - Malen, um zu leben

Der Name macht neugierig: In Heidelberg öffnet eine Ausstellung mit dem kuriosen Titel «Das Wunder in der Schuheinlegesohle». Doch die Schau hat einen ernsten Hintergrund.

Heidelberg - Die Wände im alten Hörsaal der Neurologie sind weinrot gestrichen, das Licht ist gedimmt. Was hier in der Sammlung Prinzhorn von Donnerstag (30. April) an ausgestellt wird, ist faszinierend und bedrückend zugleich: Kunstwerke psychisch kranker Menschen. «Die Werke zeigen, wie die Anstaltsinsassen mit Kunst versuchten, ihr aus den Fugen geratenes Leben wieder in den Griff zu bekommen», sagt Thomas Röske, Kunsthistoriker und Leiter der Sammlung Prinzhorn, die zum Universitätsklinikum Heidelberg gehört.

Von November bis April war die Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin zu sehen. «Der Wahnsinn spielt im Surrealismus eine wichtige Rolle. Da der Schwerpunkt unserer Sammlung auf dem Surrealismus liegt, war eine Ausstellung mit Werken der Sammlung Prinzhorn naheliegend», erklärt Kuratorin Kyllikk Zacharias. 24 000 Besucher sahen die Schau in Berlin.

Die Kunstwerke stammen aus der Sammlung des Arztes und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn. Anfang der 1920er Jahre beauftragte ihn die Psychiatrische Klinik Heidelberg, «Irrenkunst» aus Deutschland und Europa zusammenzutragen. Die Ausstellung ist in verschiedene Themen gegliedert, beispielsweise «Erscheinungen und Zaubermächte», «Norm und Abnorm» oder «Unheimliches».

Zu den «Erscheinungen» zählt die Bleistiftzeichnung «Das Wunder in der Schuheinlegesohle», die der Ausstellung ihren Namen gibt. Hier lassen sich ineinanderübergehende Gesichter, Blüten und Vögel erkennen - begrenzt von den Umrissen einer Schuhsohle. Der Zeichner dieser «Sohle» war der Danziger Kaufmann Carl Lange. In einer Vision soll ihm Gott offenbart haben, dass er Christus sei. Fortan verfasste er Pamphlete und schmiedete Attentatspläne.

In einer psychiatrischen Anstalt entdeckte Lange in den Schweißabdrücken seiner Schuheinlegesohlen Szenen und Gesichter, die er zu Papier brachte. Sammlungsleiter Röske ist von den Werken Langes immer wieder beeindruckt: «Es ist erstaunlich, wie er die verschiedenen Motive in seinen Zeichnungen miteinander verwoben hat. Man muss die Bilder sehr genau betrachten, um alle Facetten zu erkennen.»

Karl Genzels Holzskulptur «Weib und Mann» gehört zu den wenigen bildhauerischen Werken der Ausstellung. Auffällig ist das überdimensionale erigierte männliche Glied - Vagina und Brust befinden sich auf dem Rücken der Figur. Genzels Kunst erinnert an deutsche Expressionisten.

Diese Ähnlichkeit missbrauchten die Nationalsozialisten 1938 in ihrer Schandausstellung «Entartete Kunst» dazu, moderne Künstler in die Nähe der «verrückten» Kunst zu rücken und sie für krank zu erklären. Auch das Unheimliche und Grauenhafte zeigt sich in einigen Bildern. Zum Beispiel in der Kohlezeichnung «Teufelsziege» eines anonymen Künstlers. Aus großen, geweiteten Augen blickt den Betrachter eine Gestalt an, die nicht eindeutig einzuordnen ist: Hörner, Ohren, Hals, Kopfform - alles erinnert an eine Ziege. Nur die menschlichen Gesichtszüge passen nicht recht ins Bild. 

Heute zählen die Kunstwerke psychisch kranker Menschen oft zur sogenannten «Outsider Art». Als Hans Prinzhorn mit seiner Sammlung begann, gab es für die Kreativität der Patienten keinerlei Wertschätzung. «Die psychiatrischen Einrichtungen waren reine Verwahranstalten», sagt Röske. «Die Patienten mussten arbeiten, gezeichnet oder gemalt wurde nur aus eigenem Antrieb.» Kunsttherapien wie heutzutage habe es noch nicht gegeben, oft seien die Arbeiten sogar weggeworfen worden.