In Venezuela steht es um die Pressefreiheit so schlecht wie in kaum einem anderen Land Lateinamerikas. Journalisten, die sich nicht der Staatspropaganda unterwerfen, laufen Gefahr, verleumdet, verprügelt oder verhaftet zu werden. Daniel Lara hat vieles davon erlebt – ihm blieb nichts anderes übrig als die Flucht.
Als der Journalist Daniel Lara am 1. Oktober 2014 spätnachmittags auf die Straße trat, traf ihn mit einem Schlag die ganze Brutalität des Regimes von Nicolás Maduro. Gerade hatte er noch im Studio gesessen und seine Sendung aufgezeichnet. Gegen 17 Uhr verließ er den Backsteinbau von Radio Caracas Radio (RCR), um den Bus nach Hause zu nehmen. Als er wenig später an einer Bordsteinkante im Zentrum von Caracas wieder zu Bewusstsein kam, tropfte Blut auf sein grau-gelb kariertes Hemd. Jemand hatte ihn bewusstlos geprügelt. Am nächsten Tag veröffentlichte Lara ein Foto von sich im Internet: glasiger Blick, blutverschmierter Bart, neben der Schläfe eine klaffende Wunde. „Ich kündige an, ich werde nicht schweigen“, schrieb er dazu. Es war das zweite Jahr unter Präsident Nicolás Maduro. Drei weitere Jahre hielt Daniel Lara noch durch. Dann floh er aus Venezuela.
JOURNALISTEN VERLASSEN DAS LAND
Daniel Lara steht für viele Journalisten in Venezuela, die das tägliche Drama der leeren Supermarktregale oder die brutale Gewalt gegen Demonstranten dokumentieren, und dadurch selbst zur Zielscheibe werden. In einem Land, in dem Gewalt zum letzten Mittel der Macht geworden ist, stören Kritiker. Sie stören ein Regime, das Organisationen wie Transparency International zu den korruptesten der Erde zählen, das sich in die eigenen Taschen wirtschaftet, während Millionen von Venezolanern hungern. „Immer mehr Journalisten, die dem Regime kritisch gegenüberstehen, haben bereits das Land verlassen, um der Repression zu entkommen“, sagt Politikwissenschaftler Andrés Cañezales von der katholischen Universität Andrés Bello in Caracas, der auch als Berichterstatter für Reporter ohne Grenzen tätig ist. Es gibt zwar keine verlässlichen Zahlen, aber Schätzungen gehen davon aus, dass rund 1.000 bis 2.000 Journalisten in den vergangenen Jahren Venezuela den Rücken gekehrt haben. Sie leben heute in Bogotá, Lima, Madrid, Rom, Paris oder Leipzig. Einige berichten weiter über die Ereignisse in ihrer Heimat, andere haben ihren Beruf aufgegeben. Für die Flucht aus Venezuela gibt es viele Gründe: „Die meisten Journalisten können ihren Lebensunterhalt nicht mehr allein durch ihre Arbeit verdienen“, sagt Andrés Cañezales während des Telefoninterviews. Viele Venezolaner verdienen aufgrund der Wirtschaftskrise im Monat umgerechnet weniger als einen US-Dollar. Davon lässt sich auf einem Markt gerade einmal ein Säckchen Zwiebeln kaufen. Hinzu kommt der Kampf, den Nicolás Maduro seit Jahren gegen die „bourgeoisen Medien“ führt, wie er fast alle nennt, die nicht linientreu sind.
DER LANGSAME TOD DER MEDIEN
Schon sein Vorgänger im Präsidentenamt, Hugo Chávez, war kein Freund der freien Presse. Im Jahr 2004 verabschiedete er ein Gesetz, das den Medien bis heute Vorgaben macht, was sie zu berichten haben, und was nicht. Aus Sicht der Chavisten steht diese Regelung im Zeichen der sozialen Verantwortung, Menschenrechtler nennen es ein „Knebelgesetz“. 2007 ließ Chávez trotz nationaler und internationaler Proteste den einst populärsten und letzten oppositionellen Fernsehkanal Venezuelas, Radio Caracas Television (RCTV), schließen. Reporter ohne Grenzen kritisierte den Schritt als „politischen Schachzug“ ohnegleichen. Mindestens 200 Medien sind so seit 2004 von der Bildfläche verschwunden. Sender verloren ihre Lizenzen, Zeitungen bekamen kein Papier mehr, weil das Monopol dafür beim Staat liegt. Die Nichtregierungsorganisation Instituto Prensa y Sociedad (IPYS) in Venezuela, die sich für Pressefreiheit einsetzt, geht davon aus, dass mittlerweile mehr als fünf Millionen Venezolaner in „Informationswüsten“ leben, in Regionen, in denen es keine oder nur noch ein bis zwei, selbstverständlich staatstreue Medien gibt. Auch der Journalist Daniel Lara hat diesen ungleichen Kampf über die Jahre zu spüren bekommen. Sein Sender Radio Caracas Radio (RCR) gehört demselben Medienunternehmen an wie einst RCTV. Weil Daniel Lara die Korruption, die politisch motivierten Verhaftungen und die Folter im Land anprangerte, gab es immer wieder Aufrufe, ihn als Moderator aus dem Programm zu streichen. Sie nannten ihn einen „Verleumder“, einen „Terroristen“ und einen „Staatsfeind.“
Dabei kamen die Drohungen von mehreren Seiten: von der sozialistischen Regierung einerseits, aber auch von Teilen der Opposition, der Lara zwar selbst viele Jahre angehört hatte, der er aber später vorwarf, mit dem Regime zu konspirieren. DER ANGRIFF Aus den Drohungen wurde am 1. Oktober 2014 Realität. Zeugen haben gesehen, wie zwei Männer auf einem Motorrad auf Daniel Lara zufuhren. Einer hielt einen Baseballschläger aus Aluminium in der Hand. Er sprang ab und prügelte damit auf Daniel Laras Kopf ein. Der knallte mit dem Gesicht auf den Gehsteig und blieb dort ohnmächtig liegen. Die Täter flüchteten. „Aufgrund der Art und Weise, wie sich alles abspielte, der Ort, die Zeit, kann das unmöglich ein Zufall gewesen sein“, erzählt Daniel Lara, 40, der seit mehr als drei Jahren in Leipzig im politischen Exil lebt. Er trägt Jogginghose und sein dichter Vollbart überdeckt die Narbe über seiner Oberlippe. Trotz einer Anzeige unternahm die venezolanische Polizei damals nichts. „In dem Moment habe ich gemerkt, wie schutzlos ich bin. Es war der Moment, in dem ich über Selbstzensur nachgedacht habe“, sagt er. In Venezuela ist das Normalität. Täter werden in solchen Fällen fast nie ermittelt und schon gar nicht zur Rechenschaft gezogen. Einer Schätzung der Nichtregierungsorganisation InSight Crime zufolge, die sich der Erforschung des organisierten Verbrechens in Lateinamerika und der Karibik widmet, bleiben bis zu 98 Prozent aller Delikte und Menschenrechtsverletzungen in Venezuela straffrei. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) beklagte erst kürzlich, die Regierung in Venezuela setze Justiz und Sicherheitskräfte als Waffen gegen das eigene Volk ein. Es herrsche „totale Straflosigkeit“. Daniel Lara arbeitete trotzdem weiter, doch die Angst wurde sein ständiger Begleiter. „Man muss sich immer schneller bewegen als die Diktatur, man muss Risiken eingehen, mutig sein. Die meisten Journalisten halten das nicht lange durch“, sagt er. „WIR ALLE HABEN ANGST, VIEL ANGST“ Mehr als 8.500 Kilometer von Leipzig entfernt sitzt Juan, 31, in Caracas. Er gehört zu einer neuen Generation junger Journalisten, die weiter kritisch berichtet.
Seinen echten Namen will er nicht gedruckt sehen, aus Angst vor der eigenen Regierung. Seit die Sozialisten im Dezember 2020 die Kontrolle über das Parlament zurückerobern konnten, würde seine Redaktion überwacht wie nie zuvor. „Wir alle haben Angst, viel Angst“, erklärt er am Telefon. Seine Informanten, seine Kollegen und er selbst. Ständig setzen sie sich Gefahren aus: jedes Mal, wenn sie die Schlangen von Venezolanern fotografieren, die über Stunden für einen Kanister Benzin anstehen, jedes Mal, wenn sie von den Protesten berichten, bei denen Sicherheitskräfte und paramilitärische Gruppen die Demonstranten niederprügeln. Manchmal zwingen Polizisten Journalisten, ihre Audiomitschnitte, Fotos oder Filme zu löschen, manchmal nehmen sie ihnen einfach das Equipment ab. Wer sich wehrt, riskiert Prügel und Verhaftung. Das Instituto de Prensa y Sociedad Venezuela (IPYS) zählt allein zwischen Juli und Dezember des vergangenen Jahres 54 Journalisten, die eingeschüchtert oder körperlich angegriffen wurden. Die Attacken reichen von Schlägen und Entführungen bis zu Tötungsversuchen. Zwei Journalisten wurden im Jahr 2020 erschossen – einer der beiden von venezolanischen Spezialeinheiten, die das Studio stürmten. Die Journalistenorganisation Colegio Nacional de Periodistas (CNP) registrierte im Jahr 2020 zudem 61 Verhaftungen von Journalisten ohne ersichtlichen Anlass – manchmal kommen Pressevertreter nach Stunden frei, manchmal erst nach Tagen oder Wochen. Andere sitzen für Monate ein. „Diese Aggression gegen Journalisten und Medien ist nicht zufällig, sie ist Teil einer staatlichen Politik, die darauf abzielt, zu zensieren, einzuschüchtern und Meinung zu kriminalisieren“, erklärt Edgar Cardenas, der Generalsekretär des CNP, in einem Telefoninterview. „Journalisten werden beschuldigt, Terroristen zu sein, die zum Hass aufstacheln. Und die Polizei ist zu den Henkern der journalistischen Arbeit geworden“, sagt er. Experten gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte aller Attacken gegen Pressevertreter von Polizisten, Teilen der Nationalgarde, anderen Spezialeinheiten oder dem Geheimdienst ausgeht. Vor Jahren hat die Polizei auch Juan einmal abgeholt, als er gerade eine Sendung aufnahm. „Sie setzten mich in den Streifenwagen, fuhren mit mir durch die Gegend und schlugen mich mit den Griffen ihrer Pistole.“ Sie drohten ihm damit, ihn an der nächsten Straßenecke umzubringen. Juan sagt: „Mehr Angst als vor dem Gefängnis oder dem Tod habe ich davor, gefoltert zu werden.“
Edgar Cardenas bestätigt, dass folterähnliche Methoden eingesetzt würden, um kritische Journalisten einzuschüchtern und mundtot zu machen: „Kollegen berichten immer wieder über Nahrungsentzug, Gefangenschaft, Schläge, Beleidigungen und psychische Misshandlungen.“ Auch die Vereinten Nationen werfen dem venezolanischen Staat vor, Menschrechtsverletzungen zu begehen. Venezuelas Außenminister Jorge Alberto Arreaza wies die Vorwürfe zurück. Er erklärte, der UN-Menschrechtsbericht strotze vor „Falschdarstellungen“ und die Vereinten Nationen seien von Washington gesteuert. Juan will trotz allem weitermachen. Jetzt in der schweren Krise brauche es einen kritischen Journalismus, um das Land von den Fesseln der Diktatur zu befreien. Über die Jahre hätten er und seine Kollegen gelernt, mit der Angst zu leben. Zu Demonstrationen gehen sie nicht mehr allein, um Gefahren besser im Blick zu behalten. Texte erscheinen oft nur noch anonymisiert, um die Autoren zu schützen. Wie lange das noch gut geht, weiß er nicht: „Ich habe meine Papiere immer parat, denn es kann jederzeit sein, dass ich plötzlich das Land verlassen muss.“
PROZESSE GEGEN MEDIEN
Vor mehr als drei Jahren wurde Daniel Lara der Druck zu groß. 2017 war das Jahr der bisher schwersten Proteste in Venezuela. Allein zwischen April und August starben dabei mindestens 129 Personen. Die neu einberufene verfassungsgebende Versammlung, mit der Maduro versuchte, das von der Opposition dominierte Parlament zu umgehen, verabschiedete im selben Jahr ein „Gesetz gegen den Hass“ (Ley Constitucional contra el Odio) Es verspricht, „Frieden, Vielfalt und Toleranz“ zu fördern und „Sprache zu kriminalisieren, die Hass, Gewalt und Diskriminierung“ verbreitet. Edgar Cardenas vom Colegio Nacional de Periodistas sieht das anders: „Es versucht, Meinung zu kriminalisieren. Jede Meinung, die sich gegen die Regierung auslegen lässt, kann sanktioniert werden.“ Im schlimmsten Fall drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis. Die venezolanische Regierung hat das Gesetz seit 2018 laut IPYS bereits gegen 153 Personen angewendet. Am 20. Oktober 2017 eröffnete das Ministerium für Kommunikation einen Prozess gegen Daniel Laras Radiosender. Er habe „Hass und Intoleranz aus politischen Gründen“ verbreitet. Lara selbst wurde in der Anklageschrift insgesamt 21 mal mit Ausschnitten aus seiner Sendung zitiert – mit Sätzen wie: Die Regierung lasse „politische Gefangene im Gefängnis sterben“, die Verhafteten würden ihr als „Geiseln“ dienen, um die Opposition zu erpressen. Das Regime nannte er einen „Narco-Staat“, in dem politische Institutionen in den illegalen Drogenhandel verstrickt seien. Anklage kam die Angst, dass das neue „Gesetz gegen den Hass“ auch ihn treffen könnte: „Ich fühlte mich nirgends mehr sicher, nicht im Sender, nicht zu Hause bei meinen Eltern. Ich dachte, sie würden einen Prozess gegen mich eröffnen oder mich einsperren.“ Als Daniel Lara im Oktober 2017 sein Haus im Küstenstädtchen Maiquetía verließ, realisierte er, dass ein weißer Geländewagen, wie die Militärs ihn fahren, ohne Nummernschild auf ihn zurollte. Der Fahrer drückte aufs Gas, Daniel Lara lief. „Passanten schrien, sie wollen dich töten, sie wollen dich überfahren!“, erzählt er heute. Im Anschluss tauchte Daniel Lara in verschiedenen Hotels in Caracas unter. In sein Haus, in dem er mit seinen Eltern lebte, kehrte er nur noch einmal zurück, um seine Sachen zu holen. Als er eine Woche später zu einem Kurs für Journalisten nach Israel aufbrach, sagte er seinen Eltern nicht, dass er nicht mehr zurückkehren würde. Von Israel aus floh er nach Deutschland.
DAS EXIL
In Deutschland fühle er sich frei, erzählt er. Doch für diese Freiheit musste er viel zurücklassen. Er blickt nach oben in den fast wolkenlosen Himmel über Leipzig, dann kneift er die Augen zusammen: „Klar, es gibt Momente, in denen man denkt, wahrscheinlich rufen sie mich eines Tages an und sagen mir, dass meine Eltern gestorben sind – ohne, dass ich sie noch einmal sehen konnte.“ Zurück kann er nicht. In seiner Heimat geht die Hetze gegen ihn weiter, noch immer erhält er Drohungen. Er sei langsam müde, immer über die Politik in Venezuela zu sprechen, immer dieselben Dinge zu kritisieren. Doch damit aufhören kann er auch nicht.
Am Abend sitzt er wie jeden Freitag in seinem kleinen Schlafzimmer in einer ostdeutschen Reihenhaussiedlung, 8.735 Kilometer von Caracas entfernt. In der einen Ecke sein schmales Bett, in der Mitte des Raums sein ovaler Schreibtisch. Wie jeden Freitag knippst er die Studioscheinwerfer an, schenkt sich ein Glas Rioja ein, setzt sich in seinen Bürostuhl und rückt das Mikrofon zurecht. Ein kurzer Jingle, dann geht er für Radio Caracas Radio auf Sendung.
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