„Besen hoch", brüllt Nina Heise. Sofort stürzen die Spieler der beiden Teams aufeinander zu, die Plastikstäbe fest zwischen die Beine geklemmt. Weiße Schaumstoffbälle fliegen durch die Luft, Körper krachen gegeneinander, die Spieler hetzen dem „Quaffle" hinterher, dem gelb-blau gestreiften Volleyball. Ein Spieler springt hoch, fängt ihn und rennt auf einen Torring der gegnerischen Mannschaft zu, einen Hula-Hoop-Reifen auf metallenem Gestell. Kurz bevor er zum Wurf ansetzt, trifft ihn einer der „Treiber" mit einem Schaumstoffball im Gesicht. Vor Schreck lässt er erst das Plastikrohr und dann den „Quaffle" fallen. Der Volleyball rollt über die Grünfläche, sofort schnappt ihn sich ein „Jäger" des Gegners. Unter Gegröle beginnt der Sturm auf die Torringe des Konkurrenten.
Dies ist kein Improvisationstheater, sondern das Training des Frankfurter Quidditch-Teams. Die Sportart stammt aus den Romanen der britischen Autorin Joanne K. Rowling. Damit vertreiben sich der angehende Magier Harry Potter und seine Mitschüler auf dem Zauberinternat Hogwarts die Zeit. Dort sitzen die Spieler auf einem fliegenden Besen, auf dem Rasen im Günthersburgpark im Frankfurter Nordend haben sich Nina Heise und die 15 weiteren Teilnehmer Plastikrohre zwischen die Beine geklemmt. Entweder muss der Spieler den Stab mit einer Hand umklammern, sodass er nur die andere zum Werfen und Fangen frei hat, oder er hält den Stab mit den Oberschenkeln fest und kann sich nur eingeschränkt fortbewegen.
Aus jugendlichem Jux wurde eine weltweit verbreitete SportartDer fiktive Sport wird nun auch in der Welt der Muggel, wie Nicht-Zauberer im Harry-Potter-Kosmos heißen, immer populärer. Im Herbst 2005 beschlossen zwei amerikanische Studenten am Middleburry College in Vermont, Quidditch zum Leben zu erwecken. Die Spieler warfen sich Handtücher als Umhänge über die Schultern, Mülltonnen wurden zu Torringen, als Besen mussten Wischmopp und Stehlampe herhalten. Aus dem Jux ist eine weit verbreitete Sportart in den Vereinigten Staaten geworden. Quidditch-Teams gibt es an mehr als 400 Colleges und 300 High Schools. Die Organisation wird immer professioneller; die International Quidditch Association (IQA), der Dachverband, hat schon ein Regelwerk herausgegeben, das satte 200 Seiten stark ist.
Dabei orientiert sich die IQA am fiktiven Vorbild. Wie in den Romanen stehen sich auf einem ovalen Feld zwei gemischte Mannschaften mit jeweils sieben Spielern gegenüber. Jedes Teammitglied hat eine feste Aufgabe. Die „Jäger" versuchen, den „Quaffle" durch die drei Torringe des gegnerischen Teams zu werfen, für einen Treffer gibt es zehn Punkte. Der „Hüter", der Torwart, muss das verhindern. „Treiber" werfen drei Schaumstoffbälle, die „Bludgers", auf die Gegner. Getroffene müssen kurz aussetzen. Das Team mit den meisten Punkten gewinnt. Und auch für den „goldenen Schnatz" wurde eine Lösung gefunden. In den Romanen ist es ein nussgroßer goldener Ball mit sirrenden Flügeln, den zwei „Sucher" fangen müssen. Fängt einer den „Schnatz", erhält sein Team 150 Punkte, und das Spiel ist aus. Im realen Quidditch wurde aus dem goldenen Ball ein in Gold gekleideter neutraler Spieler, dem eine Socke aus der Hose hängt, in der sich ein Tennisball befindet. Wird ihm der Tennisball abgenommen, ist er gefangen.
Über 300 Spieler deutschlandweit, Tendenz steigendÜberall wächst das Interesse an dem Spiel. Bei der Weltmeisterschaft, die an diesem Samstag in Frankfurt beginnt, sind 25 Nationen vertreten. Auch in Deutschland wird der Sport beliebter: Seit 2015 gibt es einen Quidditch-Sportverband, dem mittlerweile fast 20 Teams mit 300 Mitgliedern angehören, und es werden immer mehr.
Die Besten qualifizieren sich für das deutsche Nationalteam, das an diesem Abend im Günthersburgpark zusammengekommen ist. Mit dabei: Spieler anderer Nationalmannschaften, unter ihnen Kanadier, Koreaner, Niederländer und Amerikaner in selbstgemachten Trikots. Einige Spieler haben ihre T-Shirts an diesem brütend heißen Tag schon ausgezogen.
Nina Heise lässt sich erschöpft auf den Rasen fallen, nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche und wischt sich Schweißperlen aus dem Gesicht. „Ja, Quidditch ist anstrengend", sagt sie. „Da wir nicht fliegen können, müssen wir eben laufen. Wer im Spiel stehen bleibt, macht etwas falsch." Sich richtig zu verausgaben mache aber auch den Reiz aus, sagt die 23 Jahre alte Englisch- und BWL-Studentin.
Heise, die auch Kapitänin des Nationalteams und Präsidentin des Deutschen Quidditch-Sportverbands ist, hat das Frankfurter Team gegründet. Bei einem Auslandsaufenthalt im englischen Southampton entdeckte sie das bizarre Bewegungsspiel. Nach ihrer Rückkehr warb sie über Facebook und Aushänge Mitspieler und gründete die „Mainticores".
Plötzlich ist wieder Gegröle vom Rasen zu hören, ein Spieler hat einen anderen zu Boden gerissen. Jetzt wälzen sich beide auf der Wiese. Nina Heise grinst. „Quidditch ist ein Vollkontaktsport, eine Mischung aus Völkerball und Handball - und vor allem Rugby." Daher geht es beim realen Quidditch auch oft rabiater zu als in den Romanen. Bei Wettbewerben darf getackelt werden. Häufige Bilanz: gebrochene Schlüsselbeine, Gehirnerschütterungen und Prellungen. „Der Sport ist definitiv nichts für Zartbesaitete."
Aber für Harry-Potter-Fans? „Sicher", antwortet Heise, „aber wir haben auch viele Mitglieder, die mit Harry Potter überhaupt nichts anfangen können." Mit diesem Vorurteil werde sie regelmäßig konfrontiert. Viele glaubten, man sei eine Gruppe von „Fantasy-Freaks", die sich treffen, um Szenen aus Harry Potter nachzustellen. „Dabei haben wir viele Leistungssportler im Team, die einfach mal etwas Neues ausprobieren wollen."
So wie Patricia Heise. Die 19 Jahre alte Abiturientin mit koreanischen Wurzeln spielte jahrelang Fußball, ist Leichtathletin und Eiskunstläuferin. Vor einem Jahr wurde sie auf Nina Heises Aushang aufmerksam und ging zum Training: „Ich war sofort begeistert." So sehr, dass sie während eines Auslandsjahres in Südkorea an der Universität von Seoul kurzerhand ein Quidditch-Team gründete. Seit kurzem ist Patricia Heise wieder in Frankfurt und hat vier koreanische Teammitglieder mitgebracht. Sie vertreten zum ersten Mal Südkorea bei der anstehenden WM. Für Heise ist Quidditch fast zur alleinigen Sportart geworden. „Es beansprucht den Körper, aber auch den Kopf, das habe ich noch bei keiner anderen Sportart erlebt. Bei den ganzen Bällen auf dem Feld ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten." Außerdem müsse man seine Spielzüge planen, strategisches Denken werde gefordert und gefördert: „Wer will da schon fliegen?" Von ihren Freunden wurde sie anfangs für ihren Wechsel zum Quidditch belächelt. „Jetzt wissen sie aber, dass der Sport ernst zu nehmen und anspruchsvoll ist und einem viel abverlangt."
Erstaunen am Spielfeldrand sind die Spieler inzwischen gewohnt. Nebenan haben Senioren ihre Partie Pétanque unterbrochen und schauen interessiert zu den Spielern herüber, die sich rasend schnell mit den Plastikrohren über die Grünfläche bewegen. Endspurt, denn langsam geht das letzte Training vor der Weltmeisterschaft zu Ende. Auf welchem Rang wird Deutschland am Wochenende landen? „Ich hoffe auf den Einzug ins Viertelfinale", sagt Nina Heise. Favorit sind aber die Vereinigten Staaten. So oder so: Der Wettbewerb werde dazu beitragen, Quidditch in Deutschland noch bekannter zu machen. „Irgendwann wird Quidditch in einer Reihe mit Rugby, Fußball und Handball stehen." Als nächstes will man den Sport olympisch werden lassen.