Julian Dorn

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Schweizer Anti-Aids-Kampagne: Minderjährige wollen Sexvideo verbieten lassen

„Non, je ne regrette rien", singt Edith Piaf mit ihrer sanften Stimme, während ein junges Paar im Auto übereinander herfällt, ein anderes sich stöhnend die Kleider vom Leib reißt und eine Frau durch den Raum stolziert, bekleidet nur mit Dessous, einer Latexmaske und High-Heels. Mit expliziten Bildern wirbt das Schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG) in diesem Video und auf Plakatwänden für seine Anti-Aids-Kampagne „Love Life." Der pikante Film wurde bei Youtube mittlerweile gelöscht. Die Botschaft der Aktion: Die Menschen im Video und auf den Plakaten bereuen nichts, weil sie sich beim Sex immer vor Geschlechtskrankheiten geschützt haben. Hintergrund ist eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung, derzufolge es jeder fünfte Schweizer schon einmal bedauert habe, keinen „Safer Sex" gehabt zu haben.

Ungeschützter Geschlechtsverkehr und seine teils fatalen Folgen sind in der Eidgenossenschaft seit langem ein großes Problem: Derzeit leben rund 25.000 Menschen in der Schweiz, die an Aids bereits erkrankt oder zumindest mit HIV infiziert sind. In den vergangenen zehn Jahren gab es dort zwischen 600 und 800 Neuinfektionen. Damit liegt die Schweiz auf den vorderen Rängen in Europa. Umso wichtiger sei es, über HIV zu informieren und aufzuklären, findet das BAG. Trotzdem wird seine Präventionsarbeit scharf kritisiert. An der Spitze der Gegner steht eine Gruppe Schweizer, die nun sogar vor das höchste Gericht der Schweiz, das Bundesgericht, ziehen und den in ihren Augen obszönen Aufklärungsfilm und die nicht weniger freizügigen Plakate verbieten lassen will.

Wie unter anderem die österreichische Nachrichtenseite „Heute.at" berichtet, sollen die Kläger überwiegend minderjährig sein: 35 vier bis 17 Jahre alte Schweizer und ihre Eltern sind scheinbar überzeugt, dass die drastischen sexuellen Handlungen zwischen homo- und heterosexuellen Paaren verstören könnten. Schwer zu glauben, dass Minderjährige aus eigenem Antrieb wegen eines anzüglichen Clips vor Gericht ziehen. Wahrscheinlicher ist, dass die Heranwachsenden lediglich instrumentalisiert werden. Doch nicht nur die Eltern rücken dabei in den Fokus.

Welche Rolle spielt die christliche Stiftung im Hintergrund?

Denn die Gruppe wird auch von der religiösen Organisation „Zukunft Schweiz" unterstützt. Die erzkonservativ-christliche Stiftung gründete sich, um „gegen die schleichende Einführung der Scharia" vorzugehen, wie es auf ihrer Homepage heißt. Die Mitglieder sprechen sich außerdem für die Stärkung der traditionellen Familie und gegen Abtreibung aus. Da verwundert es nicht, dass ihnen die Aufklärungskampagne des BAG missfällt, die Spaß und Genuss bei verantwortungsvollem Sex betont. Der Leiter der Stiftung, Pfarrer Hansjürg Stückelberger, hatte bereits vor zwei Jahren dazu aufgerufen, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wegen Pornografie anzuzeigen. „Die Szenen waren explizit und offensichtlich darauf ausgelegt, sexuelle Lust zu erregen", schreibt „Zukunft Schweiz" auf ihrer Homepage. „Gleiches gilt für die Plakate der Kampagne, die überall in der Schweiz im öffentlichen Raum zu sehen waren."

Kurze Zeit später, im Sommer 2014, hatte sich die Stiftung mit den Heranwachsenden bei dem verantwortlichen Bundesamt beschwert und gefordert, dass die Kampagne abgesetzt wird. Nachdem die dortigen Verantwortlichen die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen hatten, gingen die Vertreter der Minderjährigen in die nächste Instanz und klagten vor dem Bundesverwaltungsgericht in Sankt Gallen.

Die Klage wurde zunächst als nicht berechtigt abgelehnt

Auch dort verfingen die Argumente der Kläger nicht. Die Richter befanden damals, dass die Beschwerde nicht berechtigt sei, da sie nicht nachweisen konnten, dass sie einen „Sondernachteil" durch das Video erlitten hätten. Sie seien, argumentierte das Bundesverwaltungsgericht, von der Kampagne nicht stärker betroffen als die allgemeine Bevölkerung und könnten daher kein „schutzwürdiges Interesse" geltend machen.

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Die Anwältin der Gruppe gibt sich mit der Entscheidung nicht zufrieden und geht davon aus, dass die Minderjährigen in ihrer Gesamtheit eine klar definierbare Gruppe darstellten. Das „schutzwürdige Interesse" der Heranwachsenden bestehe in einer gesunden Entwicklung, Minderjährige seien daher vor sexualisierten Inhalten noch stärker zu schützen als die Allgemeinheit.

Aufmerksamkeit durch Provokation

Warum setzt das BAG überhaupt auf explizite Sexszenen? Man wolle bewusst provozieren, um Aufmerksamkeit auf die Aidsprävention zu lenken, verteidigte ein Behördenvertreter im Interview mit der Schweizer Zeitung „20 Minuten" die unkonventionelle Kampagne. In einer weiteren Stellungnahme schreibt das BAG: „Wenn Kinder wissen wollen, worum es in der Kampagne geht und Fragen stellen, ist das eine gute Chance für die Erziehungsberechtigten, diese Fragen altersgerecht zu beantworten." Den Pornographie-Vorwurf der Stiftung dementiert das Amt. Die Bilder seien nicht direkt darauf ausgelegt, sexuell zu erregen. Außerdem habe man auf die Darstellung von Geschlechtsteilen verzichtet.

Nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland bauen Aids-Aufklärungskampagnen mittlerweile auf eine provokantere Ansprache. Seit Mitte Mai wirbt eine Aktion auf über 65.000 Plakatflächen mit zum Teil sehr expliziten Cartoons und deutlichen Botschaften wie „Brennt's im Schritt? Ab zum Arzt" oder „Ob rauf oder runter. Benutz Kondome" für Vorsicht beim Sex. So wie „Gib Aids keine Chance" in den achtziger Jahren die Themen HIV, Aids und das Benutzen von Kondomen entstigmatisiert habe, soll die neue Aktion „Liebesleben" nun das Reden über die anderen sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten ebenfalls enttabuisieren, hieß es von den Verantwortlichen. Auch gegen die deutsche Kampagne sammeln die Anhänger der Stiftung „Zukunft Schweiz" inzwischen Unterschriften.

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