Silvia Krüger bindet sich ihre blaue Schürze mit den weiß-blau gestreiften Taschen um, nimmt das schwere Vorhängeschloss von der Tür der Gartenhütte und öffnet sie. „Silvias Imbiss-Oase" prangt in großen Lettern auf einem Schild über dem Eingang. „Mein Reich", sagt die kleine rundliche Frau mit den blonden Haaren, die sich um ihr volles Gesicht kräuseln, und deutet mit einer ausladenden Handbewegung auf den komplett ausgestatteten Innenraum: Elektroherd, Waffeleisen, Waschbecken, Kühlschrank mit Softdrinks. Auf den Regalen stehen die Konservenbüchsen ordentlich aufgereiht. Stolz zeigt Silvia ihre Angebotsliste: Bockwurst, Suppen, Frikadellen, belegte Brötchen, Pommes frites, Waffeln. „Alles für 1,30 Euro bis vier Euro, ganz günstig also", sagt sie und strahlt.
Silvia Krüger ist 37 Jahre alt, ihre Augen liegen leicht schräg, ihr Lächeln ist breiter als bei anderen Menschen. Die junge Frau hat Trisomie 21, das Downsyndrom, einen genetischen Defekt, bei dem das Chromosom 21 dreifach vorliegt, und der zu körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen führt.
Seit nunmehr neun Jahren betreibt Silvia Krüger auf sechs Quadratmetern ihren eigenen Imbiss im Vorgarten des Elternhauses in Rüsselsheim. Unter dem Vordach stehen sechs Bistrotische, dekoriert mit gelben Tulpen, auf dem Boden ist grüner Filz ausgelegt. Nebenan im Garten tragen die Aprikosenbäume schon rosafarbene Blüten. Adeline Krüger, Silvias Mutter, wischt mit einem Staubtuch noch rasch über die schwarzen Polster der Barhocker.
Wenn Silvia Krüger nicht hinter ihrem Verkaufstresen auf Kundschaft wartet, dann schaut sie Krimis und die Spiele ihres Lieblingsvereins Bayern München. Sie schminkt sich, lackiert sich die Nägel und tanzt gern. Sie spielte Saxophon in einem Ensemble, fünf Jahre lang Trompete in einem Jugendorchester und erhielt viele Jahre Klarinetten- und Klavierunterricht. Im Bankdrücken und Kraftdreikampf wurde sie achtfache Deutsche Meisterin - als einzige Behinderte.
Eine normale Kindheit für SilviaSilvia Krügers Gendefekt zeigte sich nicht gleich bei der Geburt. Erst der Kinderarzt wurde stutzig, als sie zehn Tage alt war. Zu ihrer Mutter soll er gesagt haben: „Wissen Sie, was mit dem Kind los ist? Das Kind ist ein Idiot." Das habe sich angefühlt, sagt Adeline Krüger heute, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. „Ich habe tagelang geweint." Silvias Mutter wollte, dass ihre Tochter so normal wie möglich aufwächst. Das Wort „behindert" gab es bei den Krügers nicht. Adeline Krüger setzte durch, dass ihre Tochter eine allgemeine Grundschule mit Betreuungslehrer besuchte. Danach ging Silvia auf eine Waldorfschule. Ihr großer Traum nach der Schulzeit? „Ein Job im Büro", sagt Silvia Krüger.
Doch für eine kaufmännische Ausbildung brauchte die junge Frau das positive Gutachten eines Psychologen. „Als der Silvia sah", sagt Adeline Krüger, „meinte er zu mir: ,Sagen Sie mal, warum haben Sie denn vorher keine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen?'" Der Befund des Psychologen: „Nicht vermittelbar." Mit Hilfe der Agentur für Arbeit konnte Silvia den Lehrgang dann doch besuchen. Es folgte ein Praktikum in einem Schulamt - mit sehr gutem Zeugnis. Und doch hieß es am Ende der Probezeit: Man könne leider keine geistig Behinderten einstellen. Silvia Krüger fing danach bei einer Recycling-Firma an, entfernte Folie von Plexiglas-Scheiben. Nach dreieinhalb Jahren stellte der Zulieferer die Produktion um und schickte die Scheiben fortan ohne Folie. Sie war plötzlich wieder arbeitslos - und blieb es.