Das Kottbusser Tor war immer schon ein rauer, schwieriger Ort, aber seit ein paar Monaten hat man den Eindruck, dies hier sei eine Art Krisengebiet. Von einem „Angstraum" ist die Rede, einer „No-Go-Area", in der Leute ausgeraubt und mit Messern bedroht werden. Der gefährlichste Platz Berlins sei das Kottbusser Tor geworden, heißt es. Die Zahlen der Berliner Polizei scheinen diese Einschätzung zu bestätigen. Es gibt einen Anstieg der Kriminalität in der Gegend. Die erfassten Drogendelikte haben sich 2015 mit rund 340 Fällen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, was auch daran liegt, dass bestimmte Delikte bis dahin nicht mitgezählt wurden.
„Der Kotti war ja noch nie ein Ponyhof," sagt Kreuzbergs Bürgermeisterin Monika Herrmann. Die gestiegenen Kriminalitätszahlen hätten auch mit den erhöhten Polizeieinsätzen zu tun, da schlicht mehr erfasst wird, was vorher schon gegeben war. „Trotzdem, die Gewalt hat eine neue Dimension erreicht. Wir haben dort ein Problem." Die Zahl der Körperverletzungen erhöhte sich von 49 Fällen im Jahr 2014 auf 68 im Folgejahr.
Stimmung und ZahlenDas alles klingt bedrohlich und die Frage ist, ob man jetzt überhaupt noch hingehen kann zum Kotti, wie die Berliner diesen Ort zärtlich nennen. Wie ist das Leben für die Menschen, die hier wohnen, die hier ausgehen, die von überall her zu Besuch kommen? Wie ist es tagsüber? Wie ist es, wenn der Platz in der Nacht versinkt?
Das Problem ist, dass man die Stimmung eines Ortes nicht mit Zahlen beschreiben kann. Und jeder hat eine andere Vorstellung von Sicherheit und Bedrohung. Was ist gefährlich? Es gibt da zum Beispiel in den Passagen an der Dresdener Straße ein Geschäft mit orientalischem Gebäck. Die Verkäuferin sagt, sie gehe abends wegen der vielen Dealer nicht mehr aus dem Haus. Sie hat einfach Angst, deshalb will sie auch nicht sagen, wie sie heißt. Seit 40 Jahren wohnt sie in Kreuzberg, seit 13 Jahren hier am Kottbusser Tor. Der Drogenhandel, die Kleinkriminalität, das alles ist nichts Neues für sie. „Früher gab es ja auch die Punker und die Junkies, hin und wieder eine Prügelei", erinnert sich die freundliche, besorgt dreinblickende Frau. Am Kotti war immer schon einiges los, sagt sie, aber es sei jetzt eben viel schlimmer geworden.
Andererseits sind da die junge Akademiker-Mütter, die an diesem Nachmittag am Kottbusser Tor ihre Outdoor-Kinderwagen ruhig vor sich her schieben; da sind die Studenten, die mit ihren Cappuccinos und Laptops in den Cafés sitzen; da sind Kinder, die von der Schule nach Hause laufen.
Vor allem aber ist da diese allgemeine Gelassenheit, diese Entspanntheit, die so wenig zu dem passt, was man sich üblicherweise unter dem Begriff Krisengebiet vorstellt. Es wirkt alles so normal an diesem windstillen, lauten, stinkenden Platz. Selbst die Junkies, die mit leerem Blick in den Ecken sitzen und an ihren Zigarettenstummeln saugen, wirken eher friedlich.
In der Skalitzer Straße, nicht einmal 100 Meter vom Kreisverkehr am Kottbusser Tor entfernt, sind auch eher entwarnende Töne zu hören. Klar sei es mehr geworden mit der Kriminalität, und man wünsche sich von Politik und Polizei, dass sich das ändert, sagt der Besitzer eines dort gelegenen und beim Partyvolk beliebten Dönerimbiss. „Aber wir hören immer nur von den Vorfällen," sagt er. Zwar möchte auch er nicht namentlich erwähnt werden, versichert aber, dass es zumindest entlang der Skalitzer Straße unter der Woche ruhig ist und es an den Wochenenden vor allem Feiernde sind, die hier für Trubel sorgen. „Wenn, dann findet das alles nur vorne an der Adalbertstraße statt," versichert er.
Die Sonne ist weg, die Luft ist feucht und kühl geworden, eine leichte Brise weht über den Platz, und die Betonburgen verschwinden langsam in der Dunkelheit. An der Adalbertstraße steht Ismail Tipi. Er trägt einen dunklen Anzug, eine Krawatte und ein Abzeichen, das ihn als Mitglied der CDU ausweist. Auch Ismail Tipi hat die Berichte über das Kottbusser Tor gelesen. Auch er dachte sich, dass er da mal hin muss, um zu sehen, wie es wirklich ist. Tipi ist Abgeordneter im Hessischen Landtag und gerade auf Berlin-Besuch. Er kannte das Kottbusser Tor bis jetzt nicht, war jedoch von Freunden zu Hause gewarnt worden hierherzukommen. Er hat dann aber ganz anders reagiert: „Ich wollte beweisen, dass man sich in der Hauptstadt überall frei bewegen kann, deswegen bin ich hier und lasse mich fotografieren", sagt er und drückt für das nächste Foto einem beliebigen Passanten demonstrativ sein Handy in die Hand. Tipi sieht Skandalberichte, wie sie gerade über das Kottbusser Tor verbreitet werden, immer skeptisch und er sagt, er sei ja auch, seitdem er hier ist, noch nicht belästigt oder bedroht worden. Daher habe er keine Angst, hier zu sein. „Aber vorhin hielten hier Limousinen, aus denen heraus den Dealern Umschläge gegeben wurden. Das ist schon besorgniserregend", sagt Tipi.
Vielleicht muss man sich wirklich Sorgen um das Kottbusser Tor machen, wenn jetzt schon Abgeordnete aus Hessen anreisen, um die Freiheit in der Hauptstadt zu verteidigen. Die Fotos, die Herrn Tipi in der angeblichen No-Go-Area zeigen, wird er später über Facebook teilen. Es sind seine Beweise dafür, dass es eben doch nicht so schlimm ist.
Die Nacht schreitet voran, am Kottbusser Tor ist es nicht wirklich voller geworden, weil es hier ja immer voll ist. Aber die Leute sind jetzt andere. Mehr Partyleute, mehr Touristen, weniger Anwohner, keine Mütter. Die Jugendlichen vor dem Spätkauf Gökkusagi spielen trinkend an den Handys, daneben sitzt ein Obdachloser, vor dem sich langsam eine Wodkapfütze ausbreitet, weil er wahrscheinlich die Flasche nicht mehr halten konnte. Die Partygänger stolpern von der Skalitzer Straße aus dem „Monarch" kommend an ihm vorbei, um im „Kaffee Kotti" noch was zu trinken. Dort ist es, wie immer an den Wochenenden, brechend voll. Vier Barkeeper müssen die Schlange am Tresen bedienen.
„Wir kannten die Dealer früher. Die haben sich korrekt aufgeführt"Ercan Yasaroglu, der Besitzer des „Kaffee Kotti", ist ein untersetzter Mann um die fünfzig, der ein wenig müde aussieht. Er arbeitet im Kiez auch als eine Art Sozialarbeiter, versucht Dinge in Schwung zu bringen, sein Viertel zu retten. Er sagt, in den letzten anderthalb Jahren habe sich etwas verändert. „Wir kannten die Dealer früher, waren mit ihnen im Gespräch. Die haben sich korrekt aufgeführt, es waren ja auch Kottianer." So nennt Yasaroglu alle, die rund um das Kottbusser Tor wohnen, aufwachsen und arbeiten. Er zeichnet das Bild einer großen Gemeinschaft. Dann seien jedoch neue, organisierte Gruppen gekommen und hätten die ansässige Dealerszene mit Gewalt verdrängt. „Die Kämpfe unter den Dealern waren ja erst nicht unser Problem oder das der Gäste. Aber dann haben die Neuen angefangen, in die Lokale zu gehen."
Vier Türsteher engagiertSchließlich musste Yasaroglu im Januar vier Türsteher engagieren, um die Banden davon abzuhalten, in seinem Laden die Kunden abzuziehen. Seine Kundschaft war immer schon ein bunter Haufen aus Kottianern, Berlinern, Migranten, Touristen und Feierwütigen. Seit Jahren kommen im Kaffee Kotti die unterschiedlichsten Sprachen und Länder zusammen. Von der Galerie seiner Bar aus können Yasaroglus Gäste auf den Platz blicken, auf dem die Dealer ihrer Arbeit nachgehen. Dort ist es gerade ruhig, weil ein Mannschaftswagen der Polizei an der Ecke Reichenberger Straße Position bezogen hat.
Gegen drei Uhr zieht eine Gruppe von Gästen weiter, ohne Anspannung oder Hast. Mit einem Sternburger Bier in der Hand flanieren sie gemütlich allein oder in kleinen Gruppen über den Platz zu ihrem nächsten Ziel, vielleicht die Skalitzer Straße entlang, jene berüchtigte Partymeile, die über den Görlitzer Bahnhof und am Schlesischen Tor vorbei bis zur Warschauer Straße führt. Das sind übrigens alles Orte, die von der Politik als Kriminalitätsschwerpunkte bezeichnet werden, weil dort die organisierten Banden auf lukrative Drogengeschäfte mit den Feiernden und auf deren prall gefüllte Portemonnaies hoffen.
Der Mannschaftswagen der Polizei ist wieder weggefahren. Hassan tritt aus der Deckung. Er ist groß gewachsen, trägt Hiphop-Klamotten. Hassan ist ständig rund um das Kottbusser Tor unterwegs und verkauft seine Ware. Unruhig wandert sein Blick hin und her, während er seine Drogen anpreist. Guter Stoff aus erster Hand, direkt vom Hersteller. Man könnte ja Handynummern austauschen. Der Code: „Sag einfach, ich hab Hunger und ich komm vorbei mit allem, was du willst."
Wer jetzt noch etwas richtiges essen will, der geht zu Kubilay Batmaz, er betreibt seit anderthalb Jahren einen Kiosk in der U-Bahn-Station. Direkt neben seinem Laden gibt es einen Fotoautomaten, der für Drogengeschäfte genutzt wird. „Einer geht rein und deponiert Geld, fünf Minuten später kommt ein anderer und hinterlegt dafür ein Tütchen. Das passiert so zweimal die Stunde." Auch die eine oder andere Prügelei habe er schon mitbekommen. Batmaz wohnt in Frohnau und ist froh darüber, dass sein Kind dort aufwächst.
Kurz nach sechs wird es wieder hell. Dumpfe Bässe wummern in der Skalitzer Straße. Ein Gefühl stellt sich ein von einem Ort im Frühjahr 2016, der nicht schön ist, kriminell, und ja, vielleicht auch etwas gefährlich. Aber das Kottbusser Tor ist offensichtlich auch immer noch offen, tolerant und bunt. Es ist diese Gleichzeitigkeit, die schwer zu fassen ist, weil sie sich eben nicht auf eine Zahl oder einen Zustand reduzieren lässt.
Der Himmel schimmert rot, ein warmes Licht fließt über den Platz, der plötzlich noch nicht mal mehr richtig hässlich zu sein scheint.