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Musicals in Hamburg: Ohr zur Welt

29. August 2021 · Hamburgs Tourismus lebt von Musicals. Kleine Theater und Kommerzbühnen teilen sich den Kuchen. Doch Corona brachte alles zum Erliegen. Nun wacht eine ganze Szene langsam auf.

Z weiter Akt. Die Hexen von Oz treffen aufeinander. Sie streiten, schreien sich an. Es geht um verletzte Gefühle, um Politik - und rubinrote Schuhe. Zauberstab und Besen werden gezückt, die Situation eskaliert. Aus Freundinnen sind Gegnerinnen geworden. Just in dem Moment, als sie angreifen, kann sich Jeannine Michèle Wacker nicht an die Choreografie erinnern. „Was war es denn, was war es denn", ruft sie und lacht. Die Szene wird nicht unterbrochen, es braucht nur ein paar Sekunden und der eingeübte Kampf geht weiter.

An einem Montagnachmittag, Mitte August, ist der zweite Probentag für die Darsteller des Musicals „Wicked" im vollen Gange. Zweimal in der Woche steht für alle ein PCR-Test an. Wer das Gebäude betreten möchte, bekommt zuerst eine Einführung in das neunseitige Hygienekonzept. Aus offenen Fenstern dringt Musik nach draußen. Die deutsche Musicalhauptstadt gibt wieder Töne von sich. Hamburg bereitet sich auf das Comeback seiner größten Musiktheater-Bühnen vor. Auf allen Stockwerken der Neuen Flora wird gesungen, getanzt und gespielt. In wenigen Tagen, am 5. September, feiert die Neuauflage des Musicals „Wicked" im Stage Theater Neue Flora in Hamburg Premiere. Hauptdarstellerin Jeannine Michèle Wacker wird dann für ein Jahr sechsmal in der Woche als „Glinda" auf der Bühne stehen. „Eine absolute Traumrolle, ich liebe es einfach, wie vielseitig und wie vielschichtig sie ist", sagt Wacker.

Die Schweizerin probte im Sommer 2020 gerade für „Cats" in Chemnitz, als sie von ihrem Engagement erfuhr. Drei Runden mit Auditions hatte Wacker bis dahin überstanden. An den entscheidenden Anruf kann sie sich gut erinnern. „Ich habe ihn in einer Pause bekommen und richtig filmreif losgekreischt. Der ganze Cast ist halb auf mich drauf gesprungen und hat sich mit mir gefreut", erzählt sie einen Tag vor den Proben in einem Altonaer Café.

„Eine absolute Traumrolle, ich liebe es einfach, wie vielseitig und wie vielschichtig sie ist."

Mit sechzehn Jahren stand Wacker zum ersten Mal in einer Hauptrolle auf der Walenseebühne in Walenstadt im Kanton St. Gallen. Die Kulisse bilden dort rundherum Berge und der smaragdgrüne See. Fast fragt man sich, wie es auch anders hätte sein können: Wacker spielte in der Musicalversion von Johanna Spyris Kinderbuchklassiker die Heidi. „Eine Schweizerin als Heidi, so klischeehaft, wie es nur geht", scherzt sie. Ihr großer Kindheitstraum, als Musicaldarstellerin zu arbeiten, habe sich mit der Rolle nur noch verfestigt.

Wie sehr sie als Jugendliche an diesem Wunsch festhielt, daran kann sich Wacker noch gut erinnern: „Ich war wahnsinnig ehrgeizig. Ich habe mir schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren Pläne mit meinen Zielen für die nächsten zehn Jahre gemacht, weil ich unbedingt meinen Traum verfolgen wollte." Am Konservatorium in Zürich legte sie ihre Matura ab. Die damals Neunzehnjährige bewarb sich bei der American Musical and Dramatic Academy in New York und wurde genommen. Der Anfang ihrer Karriere war gemacht.

Rückblickend muss Wacker heute lachen, wenn sie daran denkt, wie sie aus ihrem Kinderzimmer in ein Studentenwohnheim auf einem fremden Kontinent gezogen ist. „Es war mir nicht ganz bewusst, wie groß dieser Schritt sein wird. Natürlich hatte ich das Gefühl, ich bin erwachsen und weiß alles. In dieser Stadt drei Jahre zu leben, das hat mir viel Selbstvertrauen gegeben, mich wahnsinnig inspiriert und beeindruckt." Vor allem habe sie aber auch eine gewisse Demut gelernt, weil sich in New York so viele Talente auf einer so kleinen Fläche tummelten.

Die Zweiundreißigjährige antwortet sehr konzentriert, manchmal nachdenklich und meistens von einer Geste untermalt. Auf New York folgten erst einmal viele Absagen, das sei ganz normal, sagt Wacker. Sie nahm einen Nebenjob bei Nespresso an, schrieb sich für Philosophie an der Uni Zürich ein - und bekam schon kurz darauf die Hauptrolle in der deutschen Inszenierung von „We Will Rock You". Weitere große Engagements wie bei „Kinky Boots" in Hamburg oder in kleineren Städten wie Bielefeld folgten.

Beim Interview strahlt Wacker das Selbstbewusstsein und die Ruhe von jemandem aus, der es gewöhnt ist, sich großen Aufgaben zu stellen und wirkt gleichzeitig doch zurückhaltend. In der Rolle der aufgedrehten, etwas oberflächlichen Glinda kann man sie sich erst nicht vorstellen. Umso interessanter ist am Probentag ihr Wandel. Sobald „Action!" zu hören ist, setzt Wacker die Arroganz ein, die ihre Rolle an den Tag legt. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, ebenso ihre Stimmlage. Im Streit der Hexen geht sie aus sich heraus, wird laut und wirft sich förmlich in die Choreografie.

Betreiber der Neuen Flora ist die Produktionsfirma Stage Entertainment, die zur gleichnamigen niederländischen Muttergesellschaft gehört. Seit 2018 ist Stage zu hundert Prozent im Besitz des amerikanischen Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmens Advance Publications. Nach eigenen Angaben setzte Stage 2019 in Deutschland rund dreihundertzehn Millionen Euro um, zumeist mit für den hiesigen Markt adaptierten Broadway- oder West-End-Stücken oder Eigenproduktionen wie zum Beispiel „Sister Act". Für Hamburg ist das gleichbedeutend mit vier- bis sechshunderttausend Übernachtungen. Kassenschlager ist immer noch der König der Löwen im Theater am Hafen, den seit 2001 gut stolze dreizehn Millionen Menschen gesehen haben.

Doch in der Pandemie war zu spüren, was fehlte. Wenn sich ab September die Hexen nicht mehr im Proberaum, sondern auf der Bühne beharken, wird es eineinhalb Jahre her sein, dass ein deutsches Stage Entertainment Theater in Betrieb gewesen ist. Mit dem Beginn des ersten Lockdowns am 13. März 2020 schlossen alle neun ihre Pforten. Durch die Pandemie häufte das Unternehmen einen Schuldenberg an, da durch die geschlossenen Theater keinerlei Einnahmen erzielt werden konnten. Schauspieler, Licht- und Tontechniker, Musiker, alle tausendfünfhundert Mitarbeiter, die Stage in Deutschland angestellt hatte, gingen in Kurzarbeit. Rund dreihundert der Angestellten in der Verwaltung sind mittlerweile entlassen worden. In Hamburg betrifft das einhundert Menschen. Im Frühjahr begannen bei Wicked die Kostümproben und der Bau des Bühnenbilds, ab Juni waren die Mitarbeiter und Schauspieler wieder in Kurzarbeit.

Das Kontrastprogramm wird nur drei S-Bahn-Haltestellen weiter geboten. Einige Wochen bevor Wacker im vierten Stock der Neuen Flora ihren Zauberstab zückt, holt Corny Littmann in der Garderobe des Schmidt Theater sein Bühnen-Make-up hervor. Eine halbe Stunde noch, dann steht der Neunundsechzigjährige als Moderator der „Schmidtparade" auf der Bühne. Mit dem Schmidt Theater, dem Tivoli und dem Schmidtchen führt der gebürtige Münsteraner drei Theater auf dem Kiez, dazu ist er an mehreren Bars und Kneipen beteiligt. Eröffnet wurde das Schmidt am 8. August 1988 am Spielbudenplatz auf der Reeperbahn.

Knapp dreihundert Meter entfernt befindet sich mit dem Operettenhaus eine weitere Spielstätte von Stage Entertainment, in der ab Herbst wieder Tina! laufen soll. Bisher sind die Eingangstüren noch verrammelt. Ein verblasstes Poster zeigt die Stücke, die im vergangenen Jahr vom Lockdown betroffen waren, darüber die optimistische Aufschrift: „Bald wieder live!" Ein paar Meter weiter können Touristen einen Corona-Schnelltest machen. Auf der anderen Seite des Spielbudenplatzes, ungefähr auf Höhe von Littmanns Theatern, stehen Fußballfans vor dem FC-St.-Pauli-Shop Schlange.

Vor dem Schmidt Theater hat die hauseigene Bar Sessel, Stühle und Tische aufgebaut. Die Hausbar ist gut besucht. Neben Getränken gibt es hier auch Kuchen. Ende Juli ist der Innenbetrieb von Bars in Hamburg wegen der Corona-Regeln noch nicht erlaubt. Drinnen hängen Schwarz-Weiß-Bilder vergangener Auftritte an der Wand. Die Garderobe des Schmidt Theaters ist nicht besonders groß. Littmann teilt ihn sich mit zweien anderen Darstellern, die ihn freundlich begrüßen. Er ist keine große Erscheinung. Im Theater bewegt er sich mit der Vertrautheit von jemandem, der sich zu Hause fühlt. Die Reeperbahn ist seit rund vierzig Jahren seine Heimat, die Theaterbühne noch länger.

Diese laute, bunte Welt ist auf den ersten Blick ist nicht so leicht mit Littmann in Verbindung zu bringen. Er wirkt beinahe zurückhaltend, ist ausgesprochen höflich und spricht oft so leise, dass man genau hinhören muss, was er sagt. Immer wieder blitzt sein feiner, ironischer Humor hervor. Namensschilder in der Garderobe zeigen an, wem welche Schminkutensilien gehören. Von Lampenfieber ist nichts zu spüren. In seiner unaufgeregten Art strahlt Littmann viel Gelassenheit aus. Das Gespräch zwischen den drei Darstellern dreht sich um Gewichtsschwankungen im Lockdown und um die Frage, wie sich heute am besten ein Fußballwitz unterbringen lässt.

Ein Bekannter von Littmann sitzt im Publikum, der erklärtermaßen HSV-Fan ist. „Darf der hier denn ins Haus?", fragt einer der beiden anderen Männer scherzhaft, während er eine weitere Schicht Make-up aufträgt. Als ehemaliger Präsident des FC St. Pauli juckt es Littmann sichtlich in den Fingern, den ungeliebten Lokalrivalen mit einem Spruch aufs Korn zu nehmen. Für den Moment lacht er aber nur gutmütig. Die Vorstellung ist ausverkauft. Im Publikum sitzt nicht nur der HSV-Fan, sondern auch Littmanns Mutter und sein Lebenspartner.

Szenenwechsel in der Neuen Flora. Der große Abschied der Hexen ist dran. Wacker trägt über ihrer pinken Sportleggins schon den üppigen Rock, der zu ihrem Kostüm gehört, und darunter farblich passende Pumps. Im Interview tags zuvor hat die Darstellerin erzählt, in den vergangenen anderthalb Jahren so wenig auf der Bühne gestanden zu haben wie seit ihrem 16. Lebensjahr nicht mehr. Auch sie ist lange in Kurzarbeit gewesen und sich währenddessen auf die Aufnahme eigener Songs konzentriert. Im Kulturbetrieb mussten sich die Künstler nach Alternativen umsehen, wenn sie eine Beschäftigung suchten. Neben ihrer eigenen Karriere hat Jeannine Michèle Wacker 2020 außerdem noch eine Gesangslehrer-Ausbildung abgeschlossen und viel Unterricht über die Webcam gegeben.

Während die anderen Darsteller in den Nebenraum gehen, aus dem alsbald Gesang zu hören ist, unterhält sich Jeannine Michèle Wacker mit der zweiten Hauptrolle. Die beiden Frauen verstehen sich gut, die Chemie stimmt. Um sie herum lassen Requisiten in den Regalen erahnen, wie das Stück aussehen wird. Quietschbunte Cocktailgläser, Schulhefte, manches in mehrfacher Ausführung. An der Wand hängt eine Bildergalerie mit computergenerierten Modellen des Bühnenbilds für jede Szene. Mal hat der Balkon des Buckingham Palastes, auf dem die sich die Königsfamilie bei offiziellen Anlässen zeigt, Pate gestanden, mal ein Musikvideo von Beyoncé.

„Du musst vorsichtiger sein mit ihr. Du weißt nicht, wie sie jetzt drauf ist, was passiert ist", sagt die künstlerische Leiterin zu Wacker. Die hört aufmerksam zu und hakt nach. „Bei ‚Elphi, Elphi' habe ich für mich drunter gelegt, dass es mir wahnsinnig leidtut", sagt sie und spielt auf eine Textstelle an, in der die beiden Hexen aufwühlende Nachrichten erhalten. Ihre Gesprächspartnerin nickt, gibt noch einen Tipp, wie Glindas Gefühlswelt in Wackers Gestik besser zum Ausdruck kommen kann, dann setzt das Klavier ein. Nochmal von vorne, dieses Mal mit dem Übergang zum Lied „Wie ich bin". Im Englischen lautet der Titel „For Good". Lieder und gesprochener Text von internationalen Stücken wie Wicked werden auf Deutsch übersetzt, wenn Stage Entertainment sie hierzulande inszeniert.

Insbesondere massentaugliche Musicals wie König der Löwen, deren Geschichte auch in Deutschland bekannt sind, ziehen Millionen von Besuchern an. Eine Umfrage der Hamburg Tourismus aus dem Jahr 2019 zur Ermittlung kulturtouristischer Gästepotentiale hat ergeben, dass Hamburg vor allem mit der Hafenwelt, der Elbphilharmonie und dem Musicalangebot verbunden wird. Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor also, der aber manchmal auch die kulturelle Identität des Kulturstandorts herausfordert.

„Was hier entsteht, wurde für diese Häuser produziert und getextet und ist einzigartig."

Das Schmidt Theater und das Schmidts Tivoli existieren jeweils schon länger als die 1998 gegründete Stage Entertainment. Ihr Kassenschlager ist die „Heiße Ecke", ein Stück, das sich mit einem ehemaligen Kultimbiss auf der Reeperbahn beschäftigt und seit 2003 aufgeführt wird. Fast drei Millionen Besucher haben es mittlerweile gesehen. Die räumliche Nähe zum Stage Operettenhaus sieht Littmann gelassen. „Ich nehme das nur zur Kenntnis. Wir haben den Schwerpunkt deutschsprachiges Musiktheater. Was hier entsteht, wurde für diese Häuser produziert und getextet und ist einzigartig."

Im Gegensatz zu den Theatern der Stage Entertainment hatte von den Schmidt-Theatern zumindest das Schmidts Tivoli 2020 zeitweilig geöffnet. Als sich abzeichnete, dass im Juli ein geschränkter Spielbetrieb möglich sein würde, entwickelte das Kreativteam des Schmidts innerhalb weniger Wochen ein coronakonformes Stück namens „Paradiso". Damit sich die Besucher wegen der vorgeschriebenen halben Auslastung der Sitzreihen nicht verloren vorkamen, ist eine Art paradiesischer Garten erschaffen worden mitsamt Pflanzen und einem Krokodil im Eingangsbereich. Auch nach vielen Jahren in der lokalen Theaterszene gilt manchmal noch Do-It-Yourself: Littmann selbst hat die Baumärkte in der Umgebung abgeklappert, um die Dekoration für das Tivoli zusammenzubekommen.

Dass es sich bei der halben Besetzung des Zuschauerraums für die Betreiber überhaupt rechnete, liegt auch an den Kulturhilfen des Bunds und des Hamburger Senats. Die Schmidt-Theater sind als private Spielstätten förderungsberechtigt, Stage Entertainment dagegen nur in Maßen, da der Rechtssitz des Unternehmens in den Niederlanden ist. Trotz des Einnahmenverlustes musste in den Schmidt Theatern deshalb niemand entlassen werden.

Paradiso stieß auf gute Resonanz, alle Vorstellungen waren ausverkauft. Immerhin hätten sie mehr als die Abendkosten einnehmen können, sagt Geschäftsführerin Tessa Aust im Januar am Telefon. Nachdem 2019 das erfolgreichste Jahr in der Geschichte der drei Theater mit 22 Millionen Euro Umsatz und mehr als vierhundertvierzigtausend Besuchern gewesen sei, hätten auch sie unter dem Verlust aller Einnahmen im Frühjahr 2020 sehr gelitten. Ein zweite coronakonformes Stück namens „Schmidts Ritz", bei dem sich der Zuschauerraum in ein Lokal der zwanziger Jahre verwandelte, konnte im Herbst nur zwei Wochen lang laufen.

Der nächste Lockdown ließ die Hoffnungen platzen, dass sich der Spielbetrieb normalisiert. Für Littmann, der seit dem Ende der Siebziger auf dem Kiez lebt und im gleichen Haus wohnt wie Dragqueen Oliva Jones, war die Leere der Reeperbahn in den Lockdown-Wochen des vergangenen Jahres manchmal schwer zu verdauen. „Es gab eine Zeit, da habe ich die Reeperbahn erlebt wie nie zuvor in fast vierzig Jahren. Kein Mensch auf der Straße. Eigentlich unvorstellbar", sagt er. Alles, was das Viertel ausmache, habe plötzlich nicht mehr existiert.

An diesem Donnerstag Ende Juli ist der Zuschauerraum des Schmidt Theaters voll besetzt. Während sich Littmann noch in seiner Garderobe umzieht, werden die Gäste bedient. Die Schmidt-Spielstätten sind Verzehrtheater, auch in Corona-Zeiten. An jeden Tisch passen zwei bis vier Besucher, vom Pärchen nebenan getrennt durch eine Plexiglasscheibe. Wer sich durch den Raum bewegt, muss eine Maske tragen. Am Platz darf sie wegbleiben. Auf der Bühne erklärt eine Mitarbeiterin das Hygiene-Konzept. Im Saal wird es dunkel. Die Titelmusik der „Sendung mit der Maus" erklingt.

„Es gab eine Zeit, da habe ich die Reeperbahn erlebt wie nie zuvor in fast vierzig Jahren. Kein Mensch auf der Straße. Eigentlich unvorstellbar."

Im Probenraum der Neuen Flora drei Wochen später umarmen sich die Hexen für einen Moment. „Du warst die einzige Freundin, die ich je hatte", sagt die zweite Hauptfigur Elphaba. „Du warst die Einzige, die zählt", antwortet Jeannine Michèle Wacker als Glinda. Das folgende Lied „Wie ich bin" ist eins der emotionalsten im Stück. Beide Darstellerinnen haben Tränen in den Augen, als der letzte Ton verklungen ist. Die künstlerische Leiterin ist zufrieden. Zehn Minuten Pause.

Morgen geht es noch einmal an den zweiten Akt. Ende der Woche wird wieder in Kostümen geprobt. Die Zeit drängt. In zwei Tagen ist auch der britische Regisseur Lindsay Posner wieder dabei. Wackers Garderobe ist nur wenige Meter vom Backstage-Bereich der Bühne entfernt. Zwei Fotos mit ihrem Lebenspartner hängen an der Pinnwand, ein kleines Basilikumpflänzchen steht in der Ecke. Auf dem Schminktisch liegt das Drehbuch. Nach achtzehn Monaten ist es auf einmal so wie zuvor. Musical ist zurück auf den Bühnen.

Den Druck, der durch die Bekanntheit der Show entstehe, nehme sie durchaus wahr, sagt Wacker. „Ich will dem auch gerecht werden. Ich merke trotzdem, es ist eine Herausforderung, mir selbst zu sagen, ich bleibe bei mir, ich mache alles so gut, wie ich es kann. Besser kann ich es eh nicht." Endlich wieder auf der Bühne zu stehen, gemeinsam ein kreatives Projekt zu erschaffen, das habe ihr sehr gefehlt.

Die emsige Geschäftigkeit, um die Premiere vorzubereiten, haben die Darsteller der Schmidtparade lange hinter sich. Ihre Energie, mit der sie Schlagerhits aus den Siebzigern und Achtzigern zum Besten geben, wirkt ansteckend. Die meisten Zuschauer dürften vom Alter her die Lieder ihrer Jugend wiedererkennen. Selbst das Pärchen in der letzten Reihe, das den Großteil der Show über mit verschränkten Armen dasitzt und keine Miene verzieht, wippt am Ende mit den Füßen.

Littmann bringt als launiger, etwas knurriger Moderator in Schlaghosen die Besucher zum Lachen. Auf der Bühne ist von seiner Zurückhaltung keine Spur mehr zu sehen. Seine Witze sind bissig, aber sie kommen an. Seinen Seitenhieb gegen den HSV bringt Littmann auch noch unter. Der Applaus will zum Schluss gar nicht enden, die Darsteller verbeugen sich mehrfach. Und sollte die Pandemie nicht wieder dazwischenkommen, wird es Jeannine Michèle Wacker ab September in der Neuen Flora wohl auch so gehen. (Mehr auf der Webseite)

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