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Extreme Arbeitsplätze: 170 Meter in der Höhe und 17 Meter in der Tiefe

7. Dezember 2020 · Atemberaubende Ausblicke und bedrückende Enge: Unsere Autorin Julia Fietz und Fotograf Lando Hass haben den höchsten und den tiefsten Arbeitsplatz der Stadt Frankfurt ausfindig gemacht. Und erstaunliche Parallelen gefunden.

V ier Helmlampen malen gespenstische Kreise an die Betonwände des Kanalrohrs. Es ist warm im Tunnel, die Luft ist dünn. Knapp 1,40 Meter misst seine Profilhöhe, man kann nur gebückt hindurchgehen. Schon nach wenigen Metern ist der Boden von Schlamm bedeckt. Spinnen flüchten vor dem Licht. Andrej deutet auf ein besonders großes Exemplar: „Unsere täglichen Begleiter". Er grinst und lässt das Tier auf seinen Handschuh klettern. Sein Kollege Karl geht voraus.

Begehungen wie diese gehören zum Alltag der beiden Mitarbeiter der Stadtentwässerung. Das Frankfurter Kanalnetz ist knapp 1600 Kilometer lang. Die ältesten Teile stammen aus den Jahren um 1870. „Die wichtigste Infrastruktur der Stadt", sagt Christian, Meister und einer der Teamleiter der Stadtentwässerung. Wie Andrej und Karl möchte er nicht, dass sein Nachname in der Zeitung steht - auch wenn alle drei das Selbstvertrauen von Menschen ausstrahlen, die es gewohnt sind, anzupacken. Andrej und Karl kennen sich schon ewig, ständig ziehen sie sich gegenseitig auf. „Er ist mein Bruder, meine Arbeitsehefrau", sagt Andrej und lacht. Alles, was er wisse, habe er von Karl gelernt, und dafür sei er sehr dankbar.

„Das Kanalnetz ist die wichtigste Infrastruktur der Stadt."

CHRISTIAN, Teamleiter der Stadtentwässerung

Nur wenige Meter von der ersten Station entfernt wollen die beiden zeigen, wie niedrig die Profilhöhe eines begehbaren Kanalrohrs sein kann. An ihren Gürteln hängt eine silberne Dose, die ein wenig an Lunchboxen aus der Kindergartenzeit erinnert. Übersteigen die Gasmengen untertage die Grenzwerte, gibt ein Messgerät ein akustisches Signal und die Arbeiter sofort wieder an die Oberfläche. Dann zählt jede Minute und die silberne Dose kann wertvolle Zeit zur Flucht verschaffen: In ihr befinden sich nämlich eine Nasenklammer und ein Beißstück mit einer Chemikalie, die für zehn Minuten die ausgeatmete Luft regeneriert.

An der Oberfläche ist ein Teil der Straße abgesperrt. Einige Autos fahren langsamer, die meisten Fahrer aber steigen nicht vom Gaspedal, trotzt der Warnkegel. Das gefährlichste an ihrem Job sei der Verkehr, sagt Christian. Ansonsten komme es stets auf die Absicherung an. Ein Kollege müsse immer oben bleiben. Zum einen sichere er die anderen beim Ab- und Aufstieg, zum anderen behalte er mögliche Wetterveränderungen im Blick.

Karl zieht sich eine FFP3-Maske über Mund und Nase. Weil er das Messgerät für die Gasentwicklung trägt, macht er wieder den Anfang. Die wenig vertrauenserweckend aussehenden Steigeisen in der Kanalwand hat er schnell bewältigt. Das gerade einmal 90 Zentimeter hohe Kanalrohr liegt nicht weit unter der Erde. Zu viert ist die Bewegungsfreiheit im Schacht sehr eingeschränkt. In arg gekrümmter Haltung demonstriert Karl, wie schwierig es ist, sich in dem Rohr umzudrehen. Der Schweiß läuft ihm die Schläfen herunter. Plötzlich piepst das Messgerät. Andrej und Karl bleiben ruhig - und machen sich sofort auf den Weg nach draußen.

An der Oberfläche angekommen zieht Karl sich den Helm vom Kopf - ganz entspannt. Panik oder Platzangst habe er in den zwanzig Jahren, die er schon dabei ist, nie gehabt, sagt der Fünfzigjährige und macht sich mit den Kollegen dann auch den Weg nach Höchst, zu einem in die Tiefe gebaute Regenüberlaufbecken mit einem Volumen von fast 1050 Kubikmetern, den sogenannten Dortmundbrunnen. Hier steht eine Sicht- und Bauzustandskontrolle an. Eine Leiter führt siebzehn Meter steil nach unten.

Der Boden ist mit so viel Wasser bedeckt, dass es Karl ein paar Minuten später bis zum Bauch reichen wird. Aber erst kommt der Abstieg: Mehrfach gesichert, so dass er im Notfall gehalten und nach oben gezogen werden kann, klettert Karl nach unten. Langsam, Meter für Meter. Die Stimmen werden leiser und hallen in dem Becken nach. Die Kälte des Wassers ist schon wenige Meter vor seiner Oberfläche spürbar. Mit jeder Sprosse wird der Abstieg anstrengender. Karl zuckt nicht mal mit der Wimper. Leitern wie diese hat er schon unzählige Male bewältigt - das ist für ihn reine Routine.

M it der gleichen Routine zeigt Thomas Walke, Geschäftsführer der MKF Fassaden- und Gebäudereinigung, ein paar Tage später zusammen mit seinem Sohn Jannik und zwei Angestellten, was es heißt, den höchsten Arbeitsplatz der Stadt zu haben - auf dem Dach des Taunusturms in 170 Meter Höhe. Vom Bürgersteig aus fällt es schwer, die ganze Größe des Hochhauses in der Innenstadt zu erfassen. Das Sonnenlicht spiegelt sich in den Fenstern, die Wolken ziehen so schnell vorüber, dass einem schwindelig wird, wenn man zu lang nach oben sieht. Die Männer sperren großzügig einen Teil des Bürgersteigs ab und stellen Warnschilder auf. Dann schultern sie ihre Utensilien und machen sich auf den Weg nach oben. Viel gesprochen wird dabei nicht, es ist noch früh am Morgen.

Insgesamt betreut die MKF zehn Hochhäuser in Frankfurt, unter anderem auch den Commerzbankturm, den höchsten von allen. Mit dem Aufzug fahren die Männer im Taunusturm bis in den 39. Stock, die letzten Treppen müssen sie laufen. Die sogenannte Befahranlage steht in Parkposition in einer Art Einbuchtung auf flachen Dach des Wolkenkratzers. Sie muss zunächst aufgepumpt werden, oder besser: ein schlauchbootartiger Puffer, der die Gondel umgibt und vor einem harten Zusammenprall mit der Fassade schützt. Außerdem verhindert er, dass die Gondel die Scheiben zerkratzt, während sie an der Fassade heruntergleitet.

„Das A und O ist die Arbeitssicherheit."

Die Männer ziehen die Reißverschlüsse ihrer Jacken höher, der Wind pfeift ihnen um die Ohren. Eine Gittertreppe führt die letzten Meter hoch auf das Dach. Thomas Walke steht schon oben und telefoniert, der Empfang war kurzzeitig weg. Um sich für solche Fälle zusätzlich abzusichern, seien die Fassadenreiniger in der Gondel immer mit einem Walkie-Talkie ausgestattet, erklärt er später. Dann bricht die Sonne hinter den Wolken hervor, der Anblick ist spektakulär. Commerzbankturm, Omniturm und Maintower erscheinen auf einmal ganz nah, der Römerberg sieht aus wie ein Miniaturmodell. Hunderte von Kilometern weit reicht der Blick über das Land und offenbart nebenbei auch, wie grün die Bankenmetropole eigentlich ist.

Ein Satz, den Thomas Walke nicht müde wird zu betonen, lautet: „Das A und O ist die Arbeitssicherheit." In der Gondel dürfen sich nur jeweils zwei Fassadenreiniger aufhalten, beide sind mehrfach gesichert mit Sicherheitsgurten und Karabinern. Walke zeigt auf eine gelbe Schlaufe. Hier befestigen sie ihre Abzieher, damit diese, glitschig vom Wasser und Reinigungsmittel, nicht aus der Hand rutschen. Die Teile liegen schwer in der Hand, ihr Gewicht lässt erahnen, welchen Schaden sie anrichten würden, wenn sie aus dieser Höhe hinab fielen und womöglich einen Passanten träfen.

Langsam bewegt sich die Gondel über eine Kranvorrichtung nach oben. Jannik Walke steht in ihr und steuert. In einem Halbkreis schwebt die Gondel über das Dach und dann frei über den Häuserschluchten. Dort dreht sie sich einmal um 90 Grad. Durch die Gitterstäbe ihres Bodens kann man bis auf die Straße sehen, es ruckelt und pfeift. Eine Hausecke später hat sie die gewünschte Fensterfront erreicht. Für das Fenster braucht Jannik Walke nur ein paar Minuten. Unaufgeregt und routiniert reinigt er die Scheibe. Die Höhe macht ihm nichts aus. Wie bei Karl und Andrej von der Stadtentwässerung hat Angst in seinem Job keinen Platz. Nur konzentriertes Selbstvertrauen. (Mehr auf der Webseite)

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