Ramona, 55, steht an einem Montagnachmittag in der Küche ihres Hauses in einem Dorf am Rande der Schwäbischen Alb und schlägt Sahne. In einer halben Stunde kommt Justin nach Hause. Justin hat eine Behinderung, und seine Familie kann sich derzeit nicht um ihn kümmern, weil die Stiefmutter operiert wurde. Deshalb lebt der Jugendliche seit Weihnachten bei Ramona. Seit er da ist, gibt es fast täglich Kuchen mit Sahne. Die 55-Jährige will den schlaksigen Jungen aufpäppeln, der ihnen über die neue Gasteltern-Initiative der Diakonie Stetten vermittelt wurde.
In den vergangenen 14 Jahren haben Ramona und ihr Mann insgesamt 25 Kinder bei sich aufgenommen, viele davon für mehrere Jahre. Es sind vor allem Kinder, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen wurden, oft sind sie verhaltensauffällig. „An manchen Tagen bin ich abends richtig bedient“, sagt Ramona, deren richtiger Name aus Sicherheitsgründen in der Zeitung nicht genannt wird. Denn bei einigen Kindern dürfen die leiblichen Eltern auf keinen Fall erfahren, wo sie untergebracht sind.
Um 16 Uhr kommt Justin von der Schule nach Hause. Der 17-Jährige lässt sich auf den Stuhl am Tischende plumpsen. Auf den ersten Blick fällt kaum auf, dass der Großgewachsene eine hundertprozentige Behinderung und Pflegegrad drei hat. Lediglich sein breites Grinsen ist für einen jungen Mann in der Pubertät eher unüblich. Es heißt, dass es bei Justins Geburt Probleme gab, kurz sei die Sauerstoffversorgung unterbrochen gewesen. Genaueres weiß Ramona auch nicht. Sprechen kann er jedenfalls nur abgehackt, man muss sich konzentrieren, um ihn zu verstehen – „aber was dann rauskommt, ist so süß und lustig, dass wir uns anfangs vor Lachen regelmäßig fast in die Hose gemacht haben“.
Gesellschaft tut ihm gut
Justin ist fast nie in seinem Zimmer, viel lieber hält er sich dort auf, wo Ramona ist. Er kann sich nur schwer selbst beschäftigen, dafür hilft er gerne im Haushalt mit. Abends, bevor Justin schlafen geht, sitzt die Gastmutter oft noch lange an seinem Bett. Dann singen sie gemeinsam oder spielen mit seinem neuen Kuscheltier, einem Flugsaurier. Außerdem massiert Ramona Justins trockene Hände mit einer Creme und streicht mit Wattestäbchen über seine Ohren. „Ich habe gemerkt, dass er das gerne mag.“
Bislang gibt es nur eine Handvoll Familien, die sich bei der Diakonie Stetten gemeldet haben, dass sie für eine begrenzte Zeit ein Gastkind mit Behinderung aufnehmen würden, sagt Bettina Knödler, die für die Gasteltern-Initiative zuständig ist. Weil die Initiative recht neu ist, würden viele sie noch nicht kennen. Dazu komme, dass auch die Familien, die ein Kind mit Handicap hätten, Vorbehalte hätten, dieses für eine gewisse Zeit abzugeben, um sich zu entlasten: „Manche befürchten, dass andere gar nicht in der Lage sind, ihr Kind zu betreuen. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Kinder in fremden Familien oft selbstständiger werden und anders funktionieren als zu Hause.“
Feierabend haben Ramona und ihr Mann nie, auch spontane Urlaube sind nicht möglich. Zeitweise versorgte die Familie fünf Kinder auf einmal. „Manche Leute sagen, dass sie nicht verstehen, warum wir das alles auf uns nehmen – und das für fremde Kinder.“ Die Pflegemutter sieht es anders: „Man kann diese Kinder mit wenig glücklich machen.“ So würden manche zigmal am Tag den Kühlschrank öffnen, weil sie nicht glauben könnten, dass so viel da sei. Andere würden es genießen, mit der Hündin Lisa spazieren zu gehen und Ausflüge zu unternehmen, weil sie in ihren Originalfamilien einen Großteil der Zeit mit Fernsehen verbrachten. „Dieses Gefühl, dass die Kinder für Kleinigkeiten dankbar sind, kann man mit keinem Geld der Welt erreichen“, sagt Ramona. Sie und ihr Mann haben mit fast allen ehemaligen Pflegekindern noch Kontakt.
Das letzte Wort hat der Richter
Warum ist das Ehepaar zu einer Pflege- und nun auch zu einer Gastfamilie geworden? Als Ramona ihren heutigen Mann heiratete, hatte sie eine Tochter aus erster Ehe. Mit dem zweiten Mann wollte sie ein weiteres Kind. Doch das klappte nicht. „Wir waren mehrfach in der Kinderwunschklinik und haben viel probiert. Damals haben wir viel geweint.“ Dann hörte sie, dass eine Pflegefamilie für einen damals drei Monate alten Jungen gesucht werde. „Es hat keine zwei Wochen gedauert, bis Tim zu uns kam.“ Anfangs wusste das Paar nicht, ob es den Jungen behalten dürfte, es gab drei Gerichtsverhandlungen. „Das war schlimm.“
Heute spricht Ramona von „meinem eigenen Jungen“, wenn es um Tim geht. Er ist das Pflegekind, das am längsten in der Familie ist. Aus dem drei Monate alten Baby ist ein 14-jähriger Pubertierender geworden, der gerne Fußball spielt und über seine Kopfhörer Musik hört, um seinen anderen Pflegebruder, einen Siebenjährigen, nicht beim lautstarken Spielen zuhören zu müssen. Tim hat Techniken gefunden, um seine Ruhe zu finden, schließlich hat er bereits mehr als 20 Kinder kennengelernt – und wieder verabschiedet. Erst ein einziges Mal musste ein Kind vorzeitig gehen. Der Junge war gleich alt wie Tim, verhaltensauffällig und schwänzte die Schule. Die Gefahr, dass Tim sich an dem Jungen ein Beispiel nehmen würde, war den Pflegeeltern zu groß. Sie zogen die Reißleine.
Unterdessen könnte der „Urlaub“ von Justin – so nennen alle den Gastaufenthalt des 17-Jährigen – länger dauern als geplant. Eigentlich sollte er nur die Weihnachtsferien in Ramonas Familie verbringen. Doch sein Vater hat derzeit keine Zeit für ein Kind mit Behinderung, er muss sich um seine kürzlich operierte Frau kümmern. „Justin ist wie ein Lottogewinn“, sagt Ramona und beobachtet schmunzelnd, wie er das dritte Kuchenstück in sich hineinschaufelt. „Er bereichert uns.“ Und Justin selbst? Der sagt immer wieder: „Will länger bleiben.“
Die Geschichte von Mathilda
2018 wurden im gesamten Landkreis Esslingen, zu dem Justins Heimatort zählt, 221 Kinder aus Schutzgründen in Obhut genommen. Mehr als doppelt so viele, nämlich 446, waren es im benachbarten Stuttgart. Diese Statistik zeigt, dass vor allem in Großstädten der Bedarf an Pflegeeltern hoch ist. In Stuttgart sind aktuell 343 Kinder in rund 250 Familien vom Jugendamt untergebracht.
Eines dieser Kinder ist Mathilda, ein zehnjähriges Mädchen mit großen, dunklen Augen, die strahlen, wenn sie sich freut. Und die blitzen, wenn sie wütend ist. Mathilda zeichnet gern, ist kreativ und sportlich. Sie geht in die vierte Klasse. Wie bei so vielen Kindern in diesem Alter steht bei ihr die Entscheidung an: Gymnasium, Gemeinschaftsschule oder Realschule. Doch für Mathilda hat die sogenannte Grundschulempfehlung, die Kinder aus Sicht der Lehrer in tauglich oder untauglich für eine Gymnasiumlaufbahn einteilt, eine weitaus größere Tragweite als für andere Gleichaltrige. „Mathilda hat ein schlechtes Selbstwertgefühl. Sie kommt mit Kritik oder schlechten Noten schwer klar“, sagt ihre Mutter Katherina, die nicht ihre leibliche Mutter ist.
Die Mitte-40-Jährige ist ihre dritte Mama. Als Mathilda ein Jahr alt war, löste das Jugendamt die Kleine aus ihrer Familie heraus. Dort war Streit an der Tagesordnung – mehr erfuhren die Pflegeeltern aus Datenschutzgründen nicht. Mathilda war die Jüngste von drei Kindern, sie wurde in Obhut genommen und bekam einen Vormund. Anschließend lebte sie eine Weile bei einer Familie in Bereitschaftspflege, bis sie zu Katherina, ihrem Mann Markus und dem gemeinsamen Sohn Henry zog, der damals vier Jahre alt war. „Wir hatten uns ein zweites Kind gewünscht, das nicht kam“, erzählt Katherina.
Ein Wirbelwind zieht ein
Weil ihr Mann Markus selbst eine Pflegeschwester hatte, suchten die Eltern Kontakt zum Jugendamt in Stuttgart, informierten sich über die vielfältigen Möglichkeiten einer Pflegschaft und entschieden sich, ein jüngeres Kind als Geschwisterchen für ihren Sohn dauerhaft aufzunehmen. „Ich dachte, ich bekomme ein zartes Pflänzchen, dabei bekamen wir einen Wirbelwind“, erinnert sich Katherina. Der Wirbelwind, so stellte sich schnell heraus, war aber sehr verletzlich, ängstlich – und launisch. Wenn Mathilda unzufrieden war, schrie sie hysterisch, oft stundenlang. Noch heute hat sie Probleme, sich auf neue Bindungen einzulassen.
Damals dauerte es fast zwei Jahre, bis sie bereit war, Pflegepapa Markus und den neuen Bruder Henry genauso nah an sich heranzulassen wie Katherina. Die neue Mama hatte sich bei ihrer Ankunft extra drei Monate von ihrem Job freigenommen, um Mathilda eine sichere Ankunft in der Familie zu ermöglichen.
Mathilda hat es gut, denn sie hat ein sicheres Zuhause in Stuttgart. „Es sind ständig zwischen fünf und zehn Kindern, für die wir passende Familien suchen“, sagt die zuständige Bereichsleiterin beim Jugendamt, Helga Heugel. Als Pflegeeltern infrage kommen Ehepaare, Paare, Alleinstehende und gleichgeschlechtliche Paare. „Die Prüfung ist ein gemeinsamer Prozess“, sagt Heugel. „Wir schließen niemanden aus.“ Aber die Bereichsleiterin gibt auch zu, dass die Prüfung ein anstrengender Prozess ist: Informationsgespräche, Kurse, Interviews, Eignungsprüfung, weitere sechs Seminartage. „Dazu kommt, dass Familien zunehmend zeitlich durchgetaktet und unflexibel geworden sind. Und in Stuttgart ist auch der Wohnraum zunehmend knapp.“
Im Idealfall wachsen Pflegeeltern und Pflegekinder zu einer Einheit zusammen. Doch selbst wenn dieses Ziel erreicht wird, müssen die Pflegeeltern jederzeit damit rechnen, dass die Kinder zu ihren leiblichen Eltern zurückgeführt werden. „Diese Vorstellung zu ertragen fällt vielen schwer“, sagt Heugel. „Die meisten wünschen sich, dass die Kinder bei ihnen groß werden, oft ist das auch so.“ Im Streitfall, wenn sich beispielsweise eine leibliche Mutter von ihren Problemen erholt hat und ihr Kind zurückmöchte, geht der Fall vor das Familiengericht. Ältere Kinder werden dann angehört.
Fehler auf der Festplatte
Mathilda war so ein Fall. Nach einem Jahr klagten ihre leiblichen Eltern auf Rückführung. Bis dahin durften sie das Mädchen einmal pro Monat treffen, auf neutralem Boden, zumeist im Jugendamt. Das Familiengericht entschied zugunsten ihrer Pflegeeltern. Die Treffen mit Mathilda wurden auf einen Rhythmus von sechs Wochen reduziert, dabei ist es geblieben.
Mathilda ist der Kontakt zu allen wichtig, auch zu ihren leiblichen Eltern. „Deshalb kam und kommt für uns keine Adoption infrage“, sagt Katherina. Dennoch fühle es sich für sie so an, als sei Mathilda ihre eigene Tochter.
Das Urvertrauen und die Fähigkeit, sich komplett auf eine Bindung einzulassen, fehlen Mathilda weiterhin: „Sie wird immer Angst haben und mit einem Verlust rechnen – das ist wie ein Fehler auf der Festplatte, der nicht zu reparieren ist.“ Aber Katherina konzentriert sich auf das Positive. Mathilda hat einen guten Kontakt zu ihrem Sohn Henry. Im Austausch mit dem Jugendamt und ihrer Therapeutin arbeitet sie an ihren Problemen. „Ich habe den Ehrgeiz, Mathilda so weit zu bringen, später ein normales Leben zu führen und Beziehungen eingehen zu können“, sagt Katherina. „Ich glaube daran, dass wir das schaffen.“
Finanziell wird Katherina vom Jugendamt mit fast 1100 Euro pro Monat unterstützt, auch eine Erstausstattung bekam sie für das Mädchen. Wegen des Geldes nehme wohl keine Familie ein Pflegekind auf, meint sie: „Umso mehr bewundere ich Familien, die mehrere Pflegekinder und sogar Behinderte aufnehmen. Was für eine Leistung!“ Sie wird in den nächsten Wochen alle Kraft darauf richten, Mathilda auf die schulische Veränderung vorzubereiten. Aber Katherina weiß, nach „einem Tief kommt auch wieder ein Hoch“. Dann ist Mathilda ein Sonnenschein – und ein fast normales Kind.
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