Juli Katz

Journalistin, Lektorin, MV

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Artikel

Auf die Straße!

Seit September gibt es eine neue Recherchegruppe bei KATAPULT. Sie heißt Investigativprojekt Meck-Vorp und berichtet vor allem für die Regionalzeitung KATAPULT MV über die sogenannten Energiedemonstrationen in Mecklenburg-Vorpommern. Bei den Protesten geht es unter anderem um gestiegene Energiekosten, die Öffnung der Ostseepipeline Nord Stream 2 und eine Beendigung der Sanktionen gegen Russland. Die KATAPULT-Redakteur:innen waren bei einem Autokorso in Neubrandenburg, an dem mehr als 2.000 Handwerker, Unternehmer und deren Unterstützer teilnahmen. Sie haben in Lubmin zugesehen, wie ukrainische Aktivistinnen ausgebuht wurden. Und sie sprachen in Wolgast mit einem Heizungsinstallateur, der unzufrieden damit ist, dass die Medien ihn und die Teilnehmenden in die rechte Ecke stellen. Manchmal wehen auf den Veranstaltungen russische, manchmal vorpommersche, manchmal deutsche und manchmal auch Wirmerflaggen.

Florian Finkbeiner vom Göttinger Institut für Demokratieforschung bewertet das Publikum, das an den Energiedemos teilnimmt, als sehr uneinheitlich: Manche der Teilnehmenden kommen aus dem esoterischen Umfeld, manche haben einen anthroposophischen Hintergrund, manche sind bürgerlich, manche linksalternativ und andere rechtsradikal. Die Zusammensetzung hängt laut Finkbeiner auch stark davon ab, wo die Demos stattfinden. Sicherheitsbehörden vermuten ihm zufolge allerdings, dass für die Vernetzung und Organisation vor allem Rechtsradikale verantwortlich sind. Doch auch wenn auf den Energiedemos Zeichen wie bestimmte Flaggen, einschlägige Tätowierungen und Aussagen zu finden sind, die sich eindeutig dem rechten Spektrum zuordnen lassen, steht eine sozialwissenschaftliche Analyse der aktuellen Demos noch aus.

Bekannt ist allerdings schon jetzt, dass es personelle Überschneidungen zwischen Energie- und den sogenannten Corona-Demos gibt. Letztere begleiteten die Bundesrepublik seit dem Pandemie-Ausbruch. Teilweise positionierten sich die Menschen auf der Straße friedlich gegen die Einschränkung von Grundrechten. Auf der anderen Seite dokumentierten Polizeien und Medien aber auch gewaltvolle Zusammenstöße sowie einen versuchten Sturm des Reichstagsgebäudes. Es entstanden Initiativen wie der sogenannte "Demokratische Widerstand" und "Querdenken", die sich kritisch gegen Regierungsmaßnahmen positionierten und zeitweise großen Zulauf verzeichneten. Teilweise mobilisieren die Organisatoren von damals auch heute wieder. Ein Beispiel ist der Greifswalder Martin Klein, Mitglied der Querdenkenpartei Die Basis. Der hatte bei Corona-Demos unter anderem den Rücktritt der Regierung, die Abwicklung der öffentlich-rechtlichen Medien und die "Wiederherstellung von unabhängigen Gerichten" gefordert - "Nürnberg 2.0" nannte er das. Jetzt lädt er rechtsextreme Politiker wie Andreas Kalbitz auf die Bühne, um gegen die Energiepolitik zu mobilisieren.

Aber warum klappt das alles? Warum marschieren etwa in MV damals wie heute mehrere Hundert Menschen mit? Warum hatten die Corona-Demos bundesweit derart großen Zulauf? Eine Auswertung von Umfragedaten zeigt, dass der Corona-Protest in Deutschland die Bevölkerung stabil mobilisieren kann, also breite Zustimmung und Unterstützung erfährt. Dieses Potenzial liegt nicht nur in radikal rechten Randgruppen, sondern größtenteils in der politischen Mitte. Diese fühlt sich von etablierten Parteien oft nicht mehr repräsentiert und steht der staatlichen Politik insgesamt eher misstrauisch gegenüber. Aktuell machen sich das vor allem rechte Parteien und Bewegungen zunutze. Das Ziel: ihre Ideologien in der gesellschaftlichen Mitte zu stärken. Prominente wie der Antisemit und Rechtsextremist Attila Hildmann oder der Reichsbürger-Ideologe Xavier Naidoo dienen dabei als Verstärker, die mit großer Reichweite Verschwörungserzählungen in den Sozialen Medien wirkungsvoll verbreiten.

Um Widerstand und Unmut auszudrücken, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Demonstrieren ist eine Form des Protests. Aber was genau ist Protest überhaupt? Zunächst heißt Protest "erstmal nichts anderes, als dass man gegen eine abzusehende Entscheidung, Handlungskonsequenz oder dergleichen eingestellt ist und dies auch in irgendeiner Form kommuniziert". Laut Historiker Philipp Gassert vom Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim macht Protest zudem immer auf "Defizite der gesellschaftlichen Debatte" aufmerksam. Der Forscher hat Protestbewegungen seit 1945 in Deutschland untersucht, darunter den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, die sogenannten Studentenproteste der Sechzigerjahre, Stuttgart 21 und Pegida. Gassert kommt zu dem Ergebnis, dass Protest nur in der Breite wirksam ist, wenn die Leute tatsächlich auf die Straße gehen, also demonstrieren.

Genau dort setzen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger mit ihrem Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus an. Das Soziolog:innenduo hat dafür mit AfD-Anhänger:innen und Leuten aus der Querdenken-Szene gesprochen. Sie wollten besser verstehen, wer da auf die Straße geht und wieso. Ausgehend von ihren Gesprächen haben die beiden den Begriff des "libertären Autoritarismus" eingeführt, der individuellen Freiheitsdrang und eine autoritäre Gesinnung miteinander verbinden soll. Weil sich die Menschen entgegen dem Freiheitsversprechen der Moderne zunehmend machtlos fühlen und in einer komplexer werdenden Welt immer überforderter, hat ihr Misstrauen gegenüber Staat, Politik und Medien eine neue Stufe erreicht. Solche Kritiker:innen fordern heute aber nicht mehr eine starke Führerfigur. Im Gegenteil: Sie erheben sich selbst zur Autorität, fordern mehr individuelle Freiheiten und kündigen gesellschaftliche Solidarität auf.

Das wirft die Frage auf: Was bedeutet Freiheit heute eigentlich? Als einst die Arbeiter- oder die Frauenbewegung Freiheit forderten, ging es ihnen um gleiche Bürgerrechte. Dieses Ziel wurde erreicht, zumindest in Deutschland. Das heißt aber nicht, dass alle Menschen komplett frei sind. Um die Selbst- und Mitbestimmung zu sichern, gibt es ein Regelsystem, innerhalb dessen sich die Individuen einer Gesellschaft bewegen. Beispielsweise legt der Staat Verkehrsregeln oder einen bestimmten Steuersatz fest. Die breite Masse hat diese Regeln und Vorschriften im Normalfall in ihren Alltag integriert. Als übermäßige Einschränkung der persönlichen Freiheit werden sie nicht wahrgenommen.

Das hat sich mit der Pandemie verändert. Nun beeinflusst der Staat maßgeblich, wie sich das Alltagsleben des oder der Einzelnen gestaltet, unter welchen Bedingungen man Weihnachten innerhalb der Familie verbringt und ob man nur noch mit Maske in den Supermarkt darf. Diese neuen Vorschriften haben ein Gefühl erzeugt, bevormundet zu werden. Hiergegen, so Nachtwey und Amlinger, positionieren sich die Leute nun: "Freiheit ist in dieser Perspektive kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein persönlicher Besitzstand." Die individuelle Freiheit wird antisolidarisch und auf eine aggressive Art eingefordert. Damit vertreten die Protestler:innen selbst Autorität, so das Soziolog:innenteam. Sie richten sich gegen alle Einschränkungen und Forderungen, die von außen an sie herangetragen werden. Die einzige Instanz, die ihnen den Weg weisen darf, sind sie selbst.

Sie richten sich gegen alle Einschränkungen und Forderungen, die von außen an sie herangetragen werden. Die einzige Instanz, die ihnen den Weg weisen darf, sind sie selbst.

Corona-Maßnahmen, steigende Energiepreise, schlechte Regierungsentscheidungen, Sanktionen gegen Russland - das ist eine Mischung ganz unterschiedlicher Themen. Und doch gehen die Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Weltanschauungen dagegen gemeinsam auf die Straße. "Normative Unordnung" nennen Nachtwey, Nadine Frei und Robert Schäfer das. Ihrer Forschung zufolge hätten klassische Kategorien von "links" und "rechts" keine besondere Bedeutung für die Menschen, die hier demonstrieren. Es sei schwierig, von außen Überschneidungen auszumachen. Tatsächlich marschierten auf den Querdenken-Demos kauzige Hippies neben strammen Rechtsextremen, ein Holocaustleugner trug in Berlin eine Regenbogenflagge herum und in München verteilten Neonazis das Grundgesetz. Nur eines haben sie gemeinsam: Sie sind dagegen.

Um mehr über die Organisator:innen der Corona-Demos in Deutschland und der Schweiz herauszufinden, haben Nachtwey, Frei und Schäfer 1.152 Fragebögen von Mitgliedern von Telegram-Gruppen, ethnografische Beobachtungen, qualitative Interviews und Dokumentanalysen ausgewertet. Ihren Ergebnissen nach sind die Corona-Kritiker:innen größtenteils gebildete Menschen aus der Mittelschicht - knapp ein Drittel hat einen Studienabschluss - und durchschnittlich 47 Jahre alt.

Bei der letzten Bundestagswahl haben die Befragten zu 18 Prozent die Linke, zu 23 Prozent die Grünen und zu 15 Prozent die AfD gewählt. Ethnografische Beobachtungen von Kundgebungen im Oktober 2020 in Konstanz und im November 2020 in Leipzig bestätigen das Bild. Das Nichttragen eines Mund-Nasen-Schutzes wird zum Symbol des Widerstandes, Thema der Kundgebungen ist die eigene Ohnmacht, gegen die es sich zu emanzipieren gelte. Widerstand leisten die Demonstrant:innen ihren eigenen Aussagen zufolge gegen "Angstmacherei", totale Überwachung, die offiziellen Informationen über das Corona-Virus und für volle Selbstbestimmung. Das deckt sich mit Nachtweys und Amlingers These: Die Menschen fordern nicht mehr Staat, sondern weniger.

Also: Nein, bei den Corona-Demos marschierten nicht nur Rechte mit. Bei den Energiedemos ist es ähnlich. Die Menschen protestieren gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit - zumindest was sie selbst angeht. Geglaubt wird denjenigen, die sich selbst als "alternativ" darstellen. Manchmal betrifft das alternative Heilmethoden, manchmal sogenannte alternative Medien. Dazu gehört auch ein Youtube-Kanal, der jüngst die Berichterstattung von KATAPULT und anderen regionalen Medien zu einer Energiedemo in Lubmin analysierte. Der Ersteller behauptet, die KATAPULT-Redakteure seien Teil einer inszenierten Störung, die ukrainische Aktivistinnen gemeinsam mit den "Mainstreammedien" organisiert hätten. Unterstellt wird eine Verschwörung von Staat und Medien gegen die Demonstranten. Mindestens 80 Kommentare hat das Video, die meisten bedanken sich bei dem Youtuber für die gute Recherche, obwohl sie inhaltlich komplett aus der Luft gegriffen ist. Wieso solche haltlosen Behauptungen trotzdem verfangen, wissen Nachtwey, Frei und Schäfer: Kritik am System verleiht neuerdings Glaubwürdigkeit. Dabei geht es weniger um eine inhaltliche Kritik als um die Behauptung, Kritik sei nicht möglich. Die Selbstdarstellung als mutige und opferbereite Widerstandskämpfer spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Kritiker:innen selbst zeigen sich "resistent gegenüber Argumentationen (...), die nicht ihren eigenen Positionen entsprechen - und damit gegenüber Kritik an ihrer Kritik". Ein Austausch und erst recht das Finden einer gemeinsamen Position werden somit unmöglich.

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