Am 12. November 1918, vor genau 100 Jahren, wurde in Deutschland das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Im darauffolgenden Januar gaben 82 Prozent der wahlberechtigten Frauen ihre Stimme ab, erstmals zogen 37 weibliche Abgeordnete ins Parlament ein und legten damit die Grundlage für Gleichberechtigung. Maria Wersig ist Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds und Professorin an der Fachhochschule Dortmund. Ihr Thema ist das Geschlechterverhältnis in Recht und Gesellschaft.
ZEIT ONLINE: Als die Sozialdemokratin Marie Juchacz vor 100 Jahren als erste Frau eine Rede in der Nationalversammlung hielt, sagte sie: "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Sehen Sie das auch so? Maria Wersig: Ja, absolut. Aus heutiger Sicht wirkt das selbstverständlich. Aber man darf nicht vergessen, dass jahrzehntelang gekämpft und das Frauenwahlrecht gegen große Widerstände durchgesetzt wurde. Es gab das Vorurteil, Frauen seien zu emotional, um sich eine politische Meinung zu bilden, oder ihnen wurde gleich mindere Intelligenz zugeschrieben. Parteimitgliedschaft und politische Betätigung war ihnen im Kaiserreich verboten. Lange gedauert hat es auch, weil sich die verschiedenen Frauenbewegungen unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Einige Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung wollten erst die Männer überzeugen, dass sie in der Lage seien, mit so einem wichtigen Recht wie dem Wahlrecht umzugehen. Bildung sollte für sie der erste Schritt sein und Mitarbeit in der Kommunalpolitik. Die sozialistische Frauenbewegung hingegen stellte Arbeiterinnen in den Mittelpunkt, die ganz andere Lebensrealitäten hatten. Sie sahen das Frauenwahlrecht als Konsequenz aus der kapitalistischen Produktionsmethode, ein System, in dem Frauen unter sehr harten Bedingungen ihren Lebensunterhalt erarbeiteten. Was man aus der Geschichte lernen kann: Es verzögert die Dinge, bei solchen wichtigen Forderungen nicht an einem Strang zu ziehen.
Maria Wersigist Präsidentin des Juristinnenbundes und Professorin an der Fachhochschule Dortmund. Sie beschäftigt sich mit Geschlechterverhältnissen im Zusammenspiel von Recht und Gesellschaft. Ihre Spezialgebiete sind Gleichstellungs-, Arbeits- und Sozialrecht.
ZEIT ONLINE: Der Kampf um das Frauenwahlrecht war eng verbunden mit dem Wunsch, die zum Teil katastrophalen Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen zu verbessern. Was hat sich für arbeitende Frauen rechtlich verändert?
Wersig: Die Modernisierung machte in der Weimarer Republik rückblickend leider nur eine kurze Phase aus. Im Nationalsozialismus war es mit den mühsam erkämpften Errungenschaften vorbei. Frauen sollten Mütter sein, es sei denn, man brauchte sie in der Rüstungsindustrie. Viele politisch aktive Frauen wurden verfolgt, mussten fliehen oder wurden ermordet.