Wie kann man eine gesunde von der pathologischen Nutzung unterscheiden? Die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung ist bisher keine von der WHO anerkannte Krankheit, anders als die Computerspielstörung. Bisher wird das noch kontrovers diskutiert, weil es noch nicht ausreichend Forschung dazu gibt. Man nimmt also die Kriterien, die es für die Computerspielstörung gibt, und wendet sie für soziale Netzwerke an.
Was sind diese Kriterien? Man findet, anders als viele denken, kein Zeitkriterium. Die Frage, ob drei Stunden Social-Media-Nutzung noch normal sind, kann man nicht anhand der Zeit bewerten, auch wenn hohe Nutzungszeiten natürlich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Sucht einhergehen. Aber ein Influencer, der acht bis zehn Stunden pro Tag auf Social Media ist, muss nicht unbedingt eine Social-Media-Abhängigkeit haben. Die Kriterien für eine Sucht sind erstens der Kontrollverlust, also nicht mehr kontrollieren zu können, wann, wie lange, wie häufig und wo soziale Netzwerke genutzt werden. Das zweite ist die höhere Priorisierung, also wenn soziale Netzwerke immer wichtiger werden als andere Lebensbereiche wie Hobbys, Gesundheit, Körperpflege, Freunde, Familie, Schule oder Arbeit. Und das dritte ist die Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, also wenn wegen Social Media Freundschaften zu Bruch gehen, die Gesundheit gefährdet wird, die Schulnoten schlechter werden oder auch die Schule abgebrochen wird und man trotzdem das Verhalten fortführt. Und dieses Verhalten muss dann schon auch über einen längeren Zeitraum von zwölf Monaten vorhanden sein, entweder episodisch oder wiederkehrend. Es reicht also nicht, drei Monate exzessiv Social Media zu betreiben, um diese Suchtkriterien zu erfüllen. Und es muss auch zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität der Person führen oder zu Leidensdruck.
Wann sollten Eltern oder Lehrkräfte einschreiten? Erst wenn wirklich von einer Sucht die Rede ist? Sie sollten bei allem einschreiten, was schon darauf hinarbeitet. Nur weil es die Suchtkriterien nicht erfüllt, muss das Social-Media-Verhalten nicht unproblematisch sein. Wenn sich dadurch beispielsweise eine Essstörung oder Depression verstärkt, würde ich das als Problem bewerten, auch wenn das nichts mit einer Sucht zu tun hat.
Wie sollten Erwachsene in einem solchen Fall reagieren? Sie sollten das offene Gespräch suchen. Es ist unwahrscheinlich, dass das Kind, nur weil sich Erwachsene Sorgen machen, plötzlich aufhört, soziale Netzwerke zu nutzen. Wenn man erst mal seine digitale soziale Identität entwickelt hat, dann wird man die auch nicht so schnell ablegen. Damit würde man sich sozial amputieren. Deswegen halte ich es auch für sinnvoll, Kindern erst so spät wie möglich Zugang zu sozialen Netzwerken zu gewähren, weil der Weg zurück einfach mit extrem viel Widerstand verbunden sein wird. Wir können eigentlich nur den Weg suchen, die Jugendlichen kompetent zu machen, mit ihnen zu sprechen, die kritische Wahrnehmung zu fördern, stellenweise auch Auszeiten einfordern oder Nutzungszeiten beschränken.
Zum Beispiel während der Schulzeit? Das wäre so eine partielle Auszeit, ebenso wie zum Beispiel nachts oder ab einer gewissen Uhrzeit am Abend. Solche Phasen halte ich für wichtig, weil wir als Erwachsene damit ein Stück weit die fehlende Selbstkontrolle der Jugendlichen kompensieren müssen. Zugleich sollten Auszeiten keine Strafen sein. Wenn Kindern etwas Verstörendes in sozialen Netzwerken begegnet, sei es, dass sie auf Pornografie oder auf Gewaltvideos stoßen, dass freizügige Bilder von Freundinnen und Freunden verschickt oder sie von Fremden angeschrieben werden, sich persönlich zu treffen, dann sind das Momente, in denen bei uns Erwachsenen die Alarmglocken läuten. Und bei vielen Kindern eigentlich auch. Sie trauen sich dann aber nicht, zu den Erwachsenen zu gehen, weil sie Angst haben, dass die gleich mit einer Beschränkung reagieren. Und das ist eine Gefahr. Wir sollten also kompetente Ansprechpartner sein, die als Kooperationspartner daherkommen und nicht als jemand, der keine andere Möglichkeit sieht, als Nutzungszeiten zu beschränken.
Wie können Erwachsene Vorbilder sein? Ich benutze mein Smartphone sehr viel im Alltag und ich lasse mir dabei von meinen noch recht kleinen Kindern über die Schulter schauen, damit sie nicht denken, jedes Mal, wenn ich das Handy in die Hand nehme, schaue ich mir irgendwas Cooles auf YouTube an. So sehen sie, dass man mit Handys ganz funktionale, sinnvolle, aber auch sehr langweilige Dinge tun kann, wie das Wetter oder den Weg checken. Die meisten jungen Menschen nutzen ja vor allem die Spaßfunktionen vom Handy. Und ich kenne niemanden, der von der Wetterapp oder von Apple-Karten süchtig geworden ist. Fachleute benutzen daher auch nicht den Begriff der Smartphone-Sucht. Denn das Smartphone ist vergleichbar mit der Flasche beim Alkohol. Es ist nur das Gefäß. Gefährlich sind manche Inhalte. Wir dürfen das Smartphone nicht verteufeln und es darf funktional genutzt werden, auch im Unterricht.
Wie kann das gelingen? Wenn man mal die Schülerinnen und Schüler fragt, sind sie durchaus kritisch gegenüber der Smartphone-Nutzung in der Schule. Schweden beispielsweise rudert bei der Nutzung digitaler Medien im Unterricht gerade wieder zurück. Bei den Smartphones sehe ich das Problem, dass es private Geräte sind, auf denen Spaß-Apps mit Aufforderungscharakter verfügbar sind. Die Schüler sollen nur was googeln, sehen aber gleichzeitig 20 Messages. Da ist die Ablenkung ja vorprogrammiert. Deswegen fände ich es besser, wenn dafür schulische Geräte zum Einsatz kommen. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Perspektive brauchen wir Freiräume, und wir brauchen auch direkte Interaktion, damit Kinder und Jugendliche soziale Kompetenzen entwickeln. Ein Smartphone kann mich nicht umarmen, mir nicht zulächeln oder mir in die Augen schauen. Der Schulhof könnte gerade in den Pausen ein solcher Raum sein, ein gewisser Schutz- und Schonraum für die Kinder, der solche Interaktionen ermöglichen könnte.
Wie kann das Thema an Schulen thematisiert werden? Es gibt bereits sehr viele gute Konzepte, zum Beispiel die Netzpiloten. Dabei werden ältere Schülerinnen und Schüler ausgebildet, um die jüngeren Klassen zu informieren und mit ihnen ins Gespräch zu gehen. Es gibt auch Lehrmaterialien. Wie so oft steht und fällt das Thema mit einzelnen Lehrkräften an Schulen, die sich oft in ihrer Freizeit mit dem Thema auseinandersetzen und dann dieses Know-how mit an die Schule bringen. Wir entwickeln momentan unser I SES! Kids Onlinetraining weiter. Das ist ein kostenfreies Onlinetraining für Eltern, die ihre sechs- bis zwölfjährigen Kinder auf dem Weg zu einer gesunden Bildschirmnutzung begleiten wollen. Dabei geht es um das Vorbildverhalten der Eltern und die gelungene Entwicklung, Kommunikation und Umsetzung von Mediennutzungsregeln in der Familie. Es soll zudem ein Online-Weiterbildungsprogramm für Lehrerinnen und Lehrer entstehen, damit diese ISES! Kids gemeinsam mit den Eltern einer Klasse bearbeiten können. Interessierte Schulen, die an der Studie teilnehmen möchten oder die die Information an Eltern weiterleiten wollen, können sich gerne bei uns melden ( ises@med.uni-tuebingen.de; weitere Projekte unter www.elterntraining-internetsucht.de).
Ab welchem Alter würden Sie Ihren Kindern die Nutzung von Social Media erlauben? Meine Kinder sind noch sehr klein. Mal schauen, wann das Thema bei uns aufkommt und wie sich die Gesellschaft bis dahin entwickelt. Momentan sehen wir ja, dass die sozialen Medien, gerade auch TikTok, Einzug hält ins Grundschulalter. Ich tendiere momentan dazu zu sagen, ab dem Jugendalter, also etwa ab 12 bis 13 Jahren.