Kaum ein Land in Europa hat so geringe Staatsschulden wie Estland. Das heißt nicht, dass die Bürger glücklich sind. Von Josephine Pabst
Nein, per Gesetz vorgeschrieben sei die Sparsamkeit in Estland noch nicht, sagt Andrus Säälik, der Sprecher des estnischen Finanzministeriums. Soweit wollte dann doch keine Regierung gehen. "Es gibt allerdings Regeln für die Politik", sagt Säälik. Die seien "einfach, klar und transparent". Keine Gemeinde in Estland darf etwa mehr als 60 Prozent ihrer erwarteten Jahreseinkünfte ausgeben. Und auf nationaler Ebene darf die Regierung nicht mehr als 20 Prozent der erwarteten Einkünfte in den Schuldendienst stecken.
Offensichtlich greifen diese Regeln, denn der estnische Staat machte in den letzten zehn Jahren rund 991 Millionen Euro Miese. Die deutsche Schuldenuhr zeigt aktuell 2.119 Milliarden Euro Staatsschulden, das sind 2,12 Billionen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung hatte Estland zuletzt gerade mal sechs Prozent staatliche Schulden. In Deutschland sind es 80, in Griechenland rund 160 Prozent. Kein anderes europäisches Land - mit Ausnahme von Luxemburg und Liechtenstein - hatte in den vergangenen Jahren so wenig Schulden wie das kleine Estland. "Estland zeigt den Staaten der Euro-Peripherie, dass ein harter Sparkurs sich lohnen und schnell auszahlen kann", sagt Nicolaus Heinen, ein Analyst der Deutschen Bank.
Tatsächlich war es die Aussicht auf den Beitritt in die EU im Jahr 2004, die Estlands Sparkurs einleitete. Die Mitgliedschaft brachte dem Land zahlreiche Vorteile, beispielsweise durch diverse Subventionen. Als Estland sieben Jahre später den Euro einführte, erfüllte es alle Maastricht-Kriterien: Geringer staatlicher Schuldenstand, geringes jährliches Haushaltsdefizit, ein stabiler Wechselkurs und eine annehmbare Inflationsrate.
Dann kam die Krise. Sie schlug besonders hart in den Jahren 2009 und 2010 zu. Die Wirtschaftsleistung stürzte innerhalb eines Jahres um 14 Prozent ab, die Arbeitslosigkeit stieg im Jahr darauf auf 17,5 Prozent. Kein baltisches Land wurde von der Finanzkrise so hart getroffen. Der estnische Premierminister Andrus Ansip griff zu drakonischen Maßnahmen: Das Rentenalter wurde angehoben, ebenso die Steuern. Die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um rund 20 Prozent gekürzt, die ohnehin schon geringen Leistungen im Gesundheitswesen wurden weiter zusammengestrichen. Selbst in der Hauptstadt Tallinn wurde die Straßenbeleuchtung mitten in der Nacht abgeschaltet. Auch deshalb blieb die Verschuldung im Rahmen.
Die Esten nahmen das alles mit stoischer Gelassenheit hin. Mehr noch: Sie belohnten die liberal-konservative Regierung von Ministerpräsident Ansip 2011 mit der Wiederwahl. Die estnische Geduld habe ihre Wurzeln vor allem in der Geschichte, sagt Kaja Tael, die Botschafterin Estlands in Berlin. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Russland, Schweden und Deutschland würden die Esten dem Begriff "Krise" eine andere Bedeutung beimessen. "Wir sind nicht verwöhnt. Das Leben hat uns gelehrt, dass gute Zeiten hart verdient werden müssen", sagt Tael.
Um aus der Krise zu kommen, setzt Estland zudem auf seinen guten Ruf als Innovationsstandort. Den Namen "E-stonia" hat das Land auch deshalb erworben, weil hier der Internettelefondienst Skype erfunden wurde. Überhaupt spielt die elektronische Vernetzung in Estland eine wichtige Rolle: Bustickets und Parkscheine können per Handy gekauft werden, Die Bürger können online und sogar per SMS wählen. Die Verfassung garantiert ihren 1,4 Millionen Einwohnern den Zugang zum Internet. Gerichte dürfen Angeklagte und Zeugen über soziale Netzwerke vorladen, um Porto, Verwaltungsgebühren und Zeit zu sparen. Was die Investoren ebenfalls anzieht: der einheitliche Steuersatz in Höhe von 21 Prozent.
Dennoch hat das Wirtschaftssystem, das aus Sicht der sparverliebten Deutschen vorbildlich wirken mag, erhebliche Schwächen. Die Arbeitslosigkeit lag zuletzt, mehr als drei Jahre nach dem Ausbruch der Krise, noch immer bei mehr als zehn Prozent. Auch die Inflationsrate schnellte in den vergangenen Monaten auf mehr als vier Prozent. Kritiker vermuten, dass die Regierung mit höheren Preisen die Arbeitslosigkeit senken will - schließlich bedeutet mehr Inflation geringere Reallöhne. Weil die Regierung zudem so hart spart, sind die Investitionen, die Jobs schaffen könnten, nach Ansicht vieler Ökonomen zu gering.
Das durchschnittliche Einkommen in Estland beträgt gerade einmal 800 Euro brutto im Monat, Rentner bekommen im Schnitt 320 Euro. Die Regierung beschränkt ihre Sozialausgaben auf ein Mindestmaß, um auch zukünftig kein Haushaltsdefizit zu riskieren. Die Regierung hat zuletzt einen Mindestlohn in Höhe von 1,90 Euro beschlossen, der aber kaum Wirkung zeigt. Der Industrieländerklub OECD bescheinigte dem Land deshalb "einige Fortschritte". Dennoch zeigt ein Index der Organisation: Die Bürger im Land sind unzufriedener als im Durchschnitt aller anderen Industriestaaten.